Verstehen des Koran

Kerem A. und Adis U.

Im Einsatz für ein aufgeklärtes Verständnis des Islams

Muslime kennen ihre Religion zu wenig und folgen oft unkritisch religiösen Autoritäten, finden Kerem Adıgüzel und Adis Ugljanin. Mit ihrem Verein «Al-Rahman – mit Vernunft und Hingabe» wollen sie das ändern. Zweimal pro Monat treffen sich Männer und Frauen in Schlieren ZH zur Korandiskussion. Alle sind willkommen, auch Andersgläubige.

Zuerst ein Gebet. Die kleine Gruppe kniet nebeneinander auf Gebetsteppichen Richtung Mekka und ruft Allah an, drei Frauen und zwei Männer, nebeneinander. Danach setzen sie sich im Kreis auf den Boden, jeder mit einem aufgeschlagenen Koran in der Hand und einer Tasse Tee vor sich. Kerem Adıgüzel bittet eine der Frauen vorzulesen, wo sie vorangegangenes Mal aufgehört hatten, bei der Sure 37, Vers 112. Es geht um Abraham und Isaak, die auch im Koran eine Rolle spielen.

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Jerusalem, Felsendom

Auserwählt oder verflucht: Was sagt der Koran über die Juden aus?

In einem kürzlich in der Tageszeitung Le Parisien veröffentlichten Manifest gaben über 250 französische Intellektuelle ihre Bedenken über den wachsenden Antisemitismus in Frankreich bekannt. Das Manifest entfachte eine große Kontroverse, nicht nur weil die Liste der Unterzeichner Berühmtheiten wie den ehemaligen Präsidenten Frankreichs Nicolas Sarkozy, den ehemaligen Ministerpräsidenten Manuel Valls, den Sänger Charles Aznavour und den Schauspieler Gérard Depardieu umfasste, sondern auch wegen seinem provokativen Unterton. Genauer gesagt macht das Manifesto die Lehren des Koran für die jüngsten antisemitischen Anschläge in Frankreich − dem Land mit der größten muslimischen und jüdischen Bevölkerung − verantwortlich und empfiehlt eindringlich, dass Muslime die Koranverse denunzieren, die ihrer Meinung nach die Muslime dazu motivierten, die Juden zu töten. Sie verlangen auch von Politikern und der französischen Öffentlichkeit damit aufzuhören, politisch korrekt zu sein und zuzugeben, dass der „muslimische Antisemitismus“ eine ernsthaftere Bedrohung als Islamophobie sei.

Dies war weder der erste Versuch noch wird es der letzte sein, eine Verbindung zwischen Islam und Gewalt herzustellen. Zeitgenössische atheistische Denker wie Richard Dawkins und Sam Harris beschuldigen die koranischen Lehren für die terroristischen Angriffe im Westen. Im Jahr 2015 schrieb ein Kulturanthropologe von der Universität Utrecht an The Guardian, dass der Koran für den wachsenden Antisemitismus im Westen verantwortlich sei. Die britische Journalistin Melanie Phillips hat letzte Woche, obwohl vorsichtiger in ihrer Einschätzung, von „muslimischem Antisemitismus“ gesprochen und argumentiert, dass Islamophobie von Muslimen geprägt worden sei, um Kritik am Islam und der islamischen Welt abzuwehren.

Das französische Manifest kränkte Muslime auf der ganzen Welt und erhielt eine Vielzahl von Antworten. Einige Muslime erinnerten die französischen Intellektuellen an gewalttätige und scheinbar antisemitische Verse in der Bibel. Da diese Antwort jedoch nichts über den Islam aussagt, geht sie nicht auf das Hauptproblem ein. Außerdem hatten die Unterzeichner auch bereits ihr Unbehagen mit den sogenannten antisemitischen Versen in der Bibel ausgedrückt. In der Tat haben sie ihre Wertschätzung für die kirchliche Verurteilung gegen den Antisemitismus ausgesprochen und muslimische religiöse Führer aufgefordert, dasselbe zu tun. Andere Muslime, darunter der türkische EU-Außenminister Ömer Çelik, tadelte französische Intellektuelle dafür, die Koranverse für politische Zwecke zu manipulieren und, haarsträubend wie der IS es macht, Gewalt aus dem Koran abzuleiten.

 

Was sagt der Koran über die Juden aus?  Stachelt er die muslimischen Massen zu Antisemitismus an?

Zunächst sind die Handlungen der Muslime oft nicht koranisch motiviert. So gab zum Beispiel Youssouf Fofana, der Anführer der berüchtigten Bande der Barbaren, zu, dass seine Bande 2006 einen jüdischen Mann wegen des Lösegeldes entführt und gefoltert habe. Darüber hinaus stehen manchmal die Handlungen der Muslime im Widerspruch zum Koran. Zum Beispiel haben die Muslime, die den Anschlag auf Charlie Hebdo im Jahre 2015 verübten, den Koran missachtet, da der Koran die Menschen dazu auffordert, diejenigen, die Gott und die Religion ins Lächerliche ziehen, aus Protest alleine zu lassen (4:140). Der Koran verhängt keine weltliche Bestrafung für diejenigen, die den Islam verhöhnen. Dennoch empfanden die Terroristen den im Koran erwähnten Protest als unzureichend und beschlossen, die Mitarbeiter von Charlie Hebdo zu töten. Indem sie ihren eigenen religiösen Gefühlen nachgingen, verrieten diese Terroristen die koranischen Prinzipien.

Terroristen, die angeblich im Namen des Islam handeln, sind in der Regel ungebildet, was den Koran betrifft. Zum Beispiel fehlten den britischen Terroristen Mohammed Ahmed und Yusuf Sarwar grundlegende Informationen über den Islam und so bestellten sie vor ihrer Reise nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen, „Koran für Dummies“ und „Islam für Dummies“ über Amazon. Ein durchgesickerter Geheimdienstbericht der Regierung, der auf ausführlichen Interviews basiert, zeigt, dass diese beiden keine Ausnahmen waren; Terroristen sind normalerweise schlecht über die Hauptlehren des Islam informiert und führen islamische Rituale nicht regelmäßig durch. Im Gegenteil, einige von ihnen sind Drogenkonsumenten, trinken Alkohol, essen Schweinefleisch und suchen Prostituierte auf. Der Bericht kommt zum Schluss, dass Religiosität eine Radikalisierung gar verhindern könnte.

Auch wenn einige Täter antisemitischer Angriffe in Frankreich Muslime sind, heißt das nicht, dass sie durch ein richtiges Verständnis des Koran motiviert werden. Um das zu zeigen, müsste man darlegen, dass es im Koran tatsächlich antisemitische Verse gibt.

 

Der Koran über die Juden

Einige Muslime argumentierten als Reaktion auf das Manifest, dass eine wörtliche Auslegung des Koran der Grund dafür ist, die koranische Einstellung gegenüber Juden zu missverstehen; zeitgenössische Muslime sollten den Koran symbolisch und nicht wörtlich lesen. Das eigentliche Problem betrifft jedoch das Rosinenpicken und die Fehlinterpretation bestimmter Verse über Juden, während man andere, welche die Juden loben, übersieht. Eine korrekte und gründliche Lektüre des Korans – eine, die alle Verse zu diesem Thema berücksichtigt – zeigt, dass der Koran nicht antisemitisch ist.

Nach dem Koran ist keine Rasse und kein Volk ontologisch anderen überlegen. In der Tat warnt der Koran die Gläubigen davor, andere Volksgruppen herabzusetzen:

 

49:11 Ihr, die ihr glaubtet, lasst nicht ein Volk ein anderes verhöhnen; vielleicht sind diese ja besser als sie. […]

 

Wenn Juden also im Koran kritisiert oder gelobt werden, geschieht dies gänzlich aufgrund ihrer Taten, nicht aufgrund ihrer Rasse oder Religion – wie es bei Muslimen der Fall ist. Zum Beispiel werden Muslime dafür kritisiert, dass sie tratschen (24:12) und den Koran als Leitfaden aufgeben (25:30). Selbst der Prophet Muhammad wurde für seine Fehler kritisiert, etwa als er dafür kritisiert wurde, einen Blinden abzuweisen, während er den Eliten seiner Gesellschaft den Islam predigte (80:1-10).

Obwohl der Koran besagt, dass Gott seine Gunst den Juden geschenkt hat (2:47), kritisiert er sie auch für ihr Fehlverhalten. So werden gewisse Juden kritisiert, wiederum nur wegen ihrer Taten, da sie ihre Propheten töteten (5:70), andere Götter verehrten (9:30-31), ihren Bund brachen (2:83), behaupteten, dass das Paradies ausschließlich für die Juden bestimmt sei (2:94), Gott verleumdeten (4:50, 5:64), sich über den Islam und die Muslime lächerlich machten (5:57) und Gott gegenüber undankbar (45:16-17) waren. Aber Juden werden in ihren eigenen Schriften – der hebräischen Bibel – aus ähnlichen Gründen kritisiert. In Jeremia (2, 19, 26-28) zum Beispiel werden Juden dafür kritisiert, dass sie ihren Bund mit Gott brechen, Gott undankbar sind, andere Götter anbeten und ihre Söhne töten.

Der Koran, wie die Hebräische Bibel auch, behauptet nicht, dass alle Juden Übeltäter wären. Durchaus bestätigt er die Rechtschaffenheit von Juden und Christen (3:113-115; 3:199; 7:159; 7:168). Während der Koran einige Juden wegen ihrer Ungerechtigkeit kritisiert, lobt er andere für ihre Rechtschaffenheit. Hierbei stellt er keine pauschalen Behauptungen über alle Juden als Volksgruppe auf.

Wie Muslime werden auch Juden, die an Gott glauben und gute Taten vollbringen, belohnt:

 

2:62 Gewiss, diejenigen, die glaubten und die Juden und die Christen und die Sabäer, wer an Gott und den letzten Tag glaubte und Rechtschaffenes tat, sie haben ihren Lohn bei ihrem Herrn und weder Angst sei über ihnen noch sollen sie traurig sein.

 

Außerdem werden Synagogen und Kirchen zusammen mit Moscheen im Koran gepriesen, da diese Orte sind, an denen der Name Gottes oft erwähnt wird (22:40).

Wenn der Koran feststellt, dass Juden, die den Bund brechen, Gesandte töten und andere Götter verehren, verflucht sind, werden sie nicht wegen ihrer Rasse, sondern aufgrund ihrer Taten verflucht. Solange sie gute Taten vollbringen, hilft Gott den Juden in dieser Welt weiter und verspricht ihnen, sie im Jenseits zu belohnen.

 

Verbietet es der Koran Muslimen, Juden zu Freunden zu nehmen?

Während es einen Vers gibt (5:51), der zu implizieren scheint, dass Muslime niemals Juden und Christen als Freunde oder Verbündete nehmen sollten (Awliyāʾ), erklärt der Koran nur sechs Verse später in derselben Sure selbst, welche Arten von Juden und Christen nicht als Awliyāʾ genommen werden sollten (5:57-58):

 

5:51 Ihr, die ihr glaubtet, nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Verbündeten. Sie sind untereinander Verbündete. Wer von euch sie zu Verbündeten nimmt, gehört zu ihnen. Gewiss, Gott leitet das ungerechte Volk nicht recht.

5:57 O ihr, die ihr glaubtet, nehmt euch aus den Reihen derer, denen die Schrift vor euch zugekommen ist, nicht diejenigen, die eure Religion zum Gegenstand von Spott und Spiel nehmen, und auch nicht die Ableugner zu Verbündeten. Und seid Gottes achtsam, so ihr gläubig seid.
5:58 Wenn ihr zum Gebet ruft, nehmen sie es zum Gegenstand von Spott und Spiel. Dies, weil sie Leute sind, die ihren Verstand nicht brauchen.

 

So schließt der Koran nicht Freundschaften mit allen Juden und Christen aus, sondern nur mit jenen, die sich über Gott und die Religion lächerlich machen. Tatsächlich gibt dieselbe Sure, als Beweis für die tiefen Freundschaften, die Muslime mit Christen und Juden haben dürfen, Muslimen die Erlaubnis (5:5), sowohl Christen als auch Juden zu heiraten. Wenn der Koran es Muslimen nicht erlaubte, Freundschaften mit Christen oder Juden zu schließen, wie sollten sie diese dann heiraten können? Zu guter Letzt können die Muslime, in Anbetracht der Umstände zur Offenbarungszeit des Koran, jüdische und christliche Freunde haben, die gegenüber Muslimen nicht feindlich gesinnt sind, Muslime kriegerisch bekämpfen oder Muslime aus ihren Ländern vertreiben (60:1, 60:8-9).

 

Weltliche Bestrafung für die Fehler der Juden?

Selbst wenn die muslimischen, antisemitischen Angreifer in Frankreich Recht gehabt hätten, dass die von ihnen angegriffenen Juden nicht rechtschaffen waren, gibt der Koran den Muslimen nicht die Erlaubnis, sie zu bestrafen. Im Gegenteil, im Koran wird dem Propheten Muhammad befohlen, Übeltäter zu vergeben und sie zu tolerieren:

 

5:13 Weil sie aber ihren Bund brachen, verfluchten wir sie und ließen ihre Herzen hart werden. Sie entstellen den Sinn der Worte. Und sie vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren. Und du wirst immer wieder Verrat von ihrer Seite erfahren — bis auf wenige von ihnen. Aber verzeih ihnen und lass es ihnen nach. Gewiss, Gott liebt die Gütigen.

 

Gott wird laut Koran über ihre Handlungen richten:

 

45:16 Wir gaben ja den Kindern Israels die Schrift, das Urteil und das Prophetentum und versorgten sie von den guten Dingen und begünstigten sie vor den Weltenbewohnern.
45:17 Und Wir gaben ihnen Klarheiten in der Angelegenheit. Sie wurden aber erst uneinig, nachdem das Wissen zu ihnen gekommen war – aus Missgunst untereinander. Gewiss, dein Herr wird am Tag der Auferstehung zwischen ihnen über das entscheiden, worüber sie uneinig zu sein pflegten.

 

Natürlich erlaubt es der Koran, gegen jüdische Feinde zu kämpfen, wenn sie gegen Muslime Krieg führen oder denen helfen, die gegen Muslime Krieg führen. Diese Verse sind jedoch nicht auf Juden beschränkt. Der Koran erlaubt es Muslimen, sich gegen alle Angreifer unabhängig von ihrem Glauben zu verteidigen:

 

22:39 Erlaubnis (zum Verteidigungskrieg) wurde denjenigen, die bekämpft werden, erteilt, weil ihnen Unrecht zugefügt wurde. Und gewiss, Gott hat die Macht, ihnen zu helfen.

 

Aber Muslime dürfen keinen Krieg gegen eine Gruppe führen, nur weil diese Gruppe an eine andere Religion glaubt. Muslime dürfen nur kämpfen, wenn sie angegriffen werden. Was wiederum zählt, sind die Handlungen der „Anderen“, nicht ihre Identität.

 

Französische Politik und das Manifest

Obwohl nur ein winziger Teil der sechs Millionen Muslime in Frankreich an antisemitischen Angriffen beteiligt war, wird dieses Manifest wahrscheinlich die Islamophobie verstärken, indem es offiziell eine Verbindung zwischen dem Koran und dem Antisemitismus in den Köpfen der Franzosen herstellt.

Das ist genau das, was der IS will. IS-Führer haben erklärt, dass sie die große Mehrheit der Muslime im Westen anvisieren, um gewöhnliche Muslime zu „Dschihadisten“ zu machen. Die Islamophobie, die durch dieses Manifest verstärkt wird, hilft dem IS, Muslime davon zu überzeugen, dass der Westen sie hasst. Das Manifest hilft dabei, fruchtbaren Boden für potenzielle IS-Rekruten zu schaffen.

Schließlich hätten der frühere Präsident Sarkozy und der ehemalige Premierminister Manuel Valls, anstatt dieses provokante Manifest zu unterzeichnen, härter daran arbeiten können, die politischen und sozialen Bedingungen zu reformieren und zu verbessern, die zu anti-muslimischen und antisemitischen Gefühlen in Frankreich beitragen. Die Entwicklung von Strategien für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, die Verringerung der sozialen Ungleichheit und die Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit, die Reform der Bedingungen in französischen Gefängnissen und die Verhinderung von Radikalisierung unter den Insassen wären definitiv effektiver als die Muslime dazu aufzurufen, ihre heilige Schrift anzuprangern.

aus dem Englischen von Kerem Adıgüzel

Foto von Katajun Amirpur

Wie der Islam neu gedacht werden kann

Foto von Katajun Amirpur

Katajun Amirpur. (Bild: Georg Lukas)

Die vielfältig interpretierte Religion des «Islam» ist in den Medien ein politisches Dauerthema. Das 2013 erschienene Buch Den Islam neu denken von Katajun Amirpur, die als erste Professorin für Islamische Theologie an der Universität Hamburg tätig war und nun in Köln arbeitet, versucht der ganzen Debatte zu mehr theologischer Tiefe aus der «Reformsicht» zu verhelfen und zeigt auf, dass die Politisierung des Koran von vielen Intellektuellen mit «neuen Ansätzen einer muslimischen Theologie» ersetzt worden sind.

Dies erreicht Amirpur, indem sie sunnitische wie auch schiitische zeitgenössische Reformdenker spannend porträtiert und ihre wichtigsten theologischen Positionen pointiert zusammenfasst. Für Nichtmuslime wird wahrscheinlich erst nach der Lektüre des Buches gänzlich verständlich, was der Untertitel des Buches meint, wenn vom «Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte» die Rede ist. Die Reformdenker meinen mit dem «Dschihad» das Bemühen, sich auf den aktiven Weg zu Gott zu machen und dass Demokratie, Freiheit und Frauenrechte islamisch motivierte Voraussetzungen dafür sein können.

Und Gott weiss es besser

Die Autorin zeigt gleich zu Beginn auf, dass es das Anliegen der modernen Reformtheorien ist, nicht nur eine einzige Lesart als gültig zu erklären. Dies lässt sich nicht besser darstellen als am islamischen Ausspruch «allāhu ʾaʿlam», Arabisch für «Gott weiss es besser». Denn «letztlich weiss doch nur Gott» ganz genau, was mit seinen Worten gemeint ist. Menschen versuchen lediglich aus verschiedenen Blickwinkeln der Bedeutung näher zu kommen.

Amirpur beginnt damit, dass ihrer Meinung nach der Reformislam seinen Ursprung bei al-Afghani und Raschid Rida hat, die glaubten, «der ‹reine› und ‹unverfälschte› Islam» habe «alle Antworten auf die Fragen der Moderne». Diese Haltung wurde später von Salafisten wieder aufgegriffen und politisiert.

Das Buch schwächelt zu Beginn leicht, wenn eine Persönlichkeit wie ʿAbd ar-Rāziq, der ebenso wie Rida ein Schüler Muhammad Abduhs war, als geistiger Vater des islamischen Säkularismus betrachtet werden kann und das Kalifat als schädlich ansah, im Kapitel Säkularismus und Islamismus zu kurz erwähnt wird. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Ridas Ideen politisch breitere Wirkung entfalteten, insbesondere beim Gründer der Muslimbrüder Hasan al-Bannā.

Sechs menschliche Blickwinkel

Nachdem wichtige Begriffe wie «Reformislam» oder «islamischer Feminismus» erläutert werden, durchleuchtet Amirpur sechs Persönlichkeiten näher. Sie beginnt mit Nasr Hamid Abu Zaid, der von einer «dialektischen Beziehung zwischen dem Korantext und seinen Adressaten» ausgeht. Des Öfteren wird der historische Kontext betont, den es zu berücksichtigen gelte. Dieser erhält beim anschliessenden Portrait von Fazlur Rahman am meisten Gewicht. Hier entsteht der Eindruck, dass die Autorin besonders um eine möglichst deskriptive Vorgehensweise bemüht ist und selten bis gar nicht eigene Gedanken einfliessen lässt.

Auch scheint der Ansatz des historisch-kritischen Kontexts unkritisch wiedergegeben zu werden. Denn dieser ist mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, die meistens qualitativ schwach sind, schwer zu rekonstruieren. Deshalb bleibt die Frage offen, wie denn dieser Kontext ermittelt werden soll, wenn man sich beispielsweise auf den Gelehrten al-Wāhidī (st. 1075) beruft und höchstens zehn Prozent des Korans mit Offenbarungsanlässen (asbāb an-nuzūl), die uns den vermutlichen historischen Grund für die Verkündung eines Koranverses erklären sollen, beschrieben werden können. Solcherart Fragen bleiben glücklicherweise nur vereinzelt offen am Ende des Buches.

Zwei kluge Frauen werden näher betrachtet, Amina Wadud und Asma Barlas, die beide mit ihren theologischen Arbeiten teilweise neue Lesarten entwickelten. Zum Beispiel gelangt Asma Barlas mit ihrem «Foundationalism» zur Ansicht, dass Geschlechtergerechtigkeit im Koran verwurzelt ist. Besonders dieser Teil des Buches ist spannend, werden hier doch konkrete, theologische Ansätze für eine feminin motivierte Befreiungstheologie geliefert, wodurch Musliminnen aus patriarchalischen Strukturen vor allem koranisch begründet ausbrechen können.

Buchdeckel Den Islam neu DenkenEine Gemeinsamkeit aller sunnitischen Denkerinnen und Denker ist die kritische Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Überlieferungen, den «Hadithen», die nachträglich dem Propheten als Aussprüche zugeschrieben wurden. Hier ist man sich einig, dass man vor allem zuerst koranisch argumentieren müsse. Besonders Asma Barlas formuliert dies deutlich, da es «mehr Probleme für Frauen schafft, als dass es welche löst, wenn man die Sunna und die Hadithe heranzieht, um den Koran zu interpretieren.»

Ein Buch für Muslime wie Nichtmuslime

Nicht-arabische Menschen haben es in dieser Diskussion nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Auch Abu Zaid ist sich dessen bewusst, betont aber, dass neue Ansätze gerade von Nicht-Arabern kämen. Amirpur zitiert ihn wie folgt: «Das Neue kommt von der Peripherie». Insofern sind die schiitisch-iranisch geprägten Fragestellungen, mit denen sich Abdolkarim Soroush und Mohammad Mojtahed Shabestari beschäftigten, auch allgemein bedeutsam für die muslimische Theologie. Dabei wirkt es zunächst überraschend, dass protestantische deutsche Denker wie Karl Barth oder Paul Tillich den Schiiten Shabestari in seiner Lehre, die für einen spirituellen und gegen einen «Rechtsislam» steht, beeinflussten.

Es ist Amirpur als grosses Verdienst anzurechnen, dass man durch ihr Buch die prägnant zusammengefassten Ansichten von weit mehr als sechs Denkerinnen und Denkern kennenlernen kann. Die darin vorgestellten Ideen verbreiten sich immer weiter in der islamischen Welt, weshalb es wichtig ist, diese Entwicklungen zu kennen und zu verfolgen. Denn wenn auch die Verbreitung voranzuschreiten scheint, so müssen die muslimischen wie nicht-muslimischen Gebildeten hierzulande wissen, wer unter ihnen besonders auf unsere Solidarität und Unterstützung angewiesen ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf saiten.ch.

Wir dürfen das Feld nicht den Radikalen überlassen

Kerem Adıgüzel kämpft für einen offenen Islam, in dem die Gräben zwischen den Glaubensrichtungen überwunden werden.

[…]

Wichtig sind ihm auch die Regeln seines Glaubens: Als Muslim betet er dreimal am Tag, isst kein Schweinefleisch und trinkt keinen Alkohol. Mit den rigiden Versionen des Islams kann er aber nichts anfangen. Richtschnur für seinen Glauben ist allein der Koran. Kerem Adigüzel will das Feld nicht den Radikalen überlassen.

Die Liebe Gottes von Justin Lowery

Gott erschuf uns aus unbeschreiblicher Liebe

Gott erschuf uns Menschen aus unbeschreiblicher Liebe.

Wer liebt, möchte zurück geliebt werden, natürlich ohne Zwang und aus freien Stücken bzw. freiem Willen. Das ist etwas, was wir wissen und fühlen können. Diese Art der Liebe bedeutet, auch die völlige Absicht zu erlernen, sich aus Liebe hinzugeben in allem.

Durch Liebe erlauben wir alles. Diese Liebe ist dann wahrhaftig ohne Grenzen. Diese Liebe ist völliges Vertrauen, alles mit sich geschehen zu lassen: Sich für die Liebe opfern, alles geschehen lassen.

Wer Gott liebt, lässt alles zu, was in seinen geschriebenen Worten steht, die zusammengetragen wurden durch den Verkünder, seinen Propheten. Diese Worte dürfen nicht missverstanden werden. Der lebendige Sinn geht sonst verloren. Der Sinn ist das Verstehenwollen aus der damaligen und auch in der heutigen Zeit, auf alle Anwendungen im Leben, zu lernen und immer wieder neu zu lernen.

Das Leben ist vielfältig, dadurch findet sich ein vielfältiges Verstehen aus der Lesung wieder und ist immer wieder neu und lebendig. Gottes Wort ist lebendig. Es ist nicht monoton oder einseitig. Deswegen darf das Verstehen nicht einseitig sein oder von Menschen dazu gebracht werden durch Menschenworte, die Lesung so zu verstehen, wie sie es gerne hätten.

Die Liebe Gottes von Justin Lowery

Foto von Justin Lowery, CC-BY-ND 2.0

Tief gläubig kann nur der Forschende sein, nicht derjenige, der meint, viel zu wissen, sondern derjenige, der sagt, Gottes Worte sind immer lebendig und immer neu zu verstehen, um den Sinn auf alles im Leben zu erfassen. Denn Gottes Wort steht nicht still, sowie auch der Verstand nicht stillsteht – außer man will, dass der Verstand stillsteht. Dann kann das Wort Gottes für einen stillstehen und der lebendige Sinn schläft.

Das einfachste Prinzip, es bestmöglich immer so zu verstehen, ohne sich neue Gesetze zu machen, ohne neben Gott etwas beizugesellen, scheint unter den Gläubigen zu Gott sehr schwer zu sein.

Dort wo die Zeit stillsteht unter den Traditionen, ist Stillstand. Es ist keine Lebendigkeit zu erkennen, in ihren Worten, Handlungen und Gesetzen.

Ich bedauere es zutiefst, dass Gottes Wort verändert wurde. Nicht wegen der Menschen, die mein Mitleid haben, und Gott – allwissend – sieht auch das Verborgene in uns, denn einzig Gott, dem Allmächtigen, gebührt unsere Ehrfurcht, unsere Dankbarkeit und unsere Liebe.

Sie lieben und lehren lieber nach ihren von Menschenhand geschaffenen, erfundenen Gesetzen und dem Glauben, den sie sich selber beigebracht haben. Dieses tiefe Verständnis, Liebe zu erlernen, es zu wollen, diese größer werdende Ehrfurcht, es geschieht nur bei wachem Verstand und mit einem Herzen, das benutzt werden kann, ohne Unterbrechung, um nicht weggeleitet zu werden.

Es ist Mühe, harte Arbeit und auch Schmerz, religiöse Bildung aus dem Anfang geradeaus gestalten zu wollen, denn fast jeder will dich auf den Irrweg bringen, auch mit guten Absichten, die aber nur einen Irrweg darstellen, im Vergleich zu Gottes geschriebenem Wort.

Natürlich weiß es Gott besser.

Unterschied zwischen Gesandter und Prophet: Bild von einem Finger, das auf eine Koranstelle gelegt wurde

Unterschied zwischen Gesandter und Prophet im Koran

Beim aufmerksamen Lesen der Lesung (Deutsch für Koran) fällt einem immer wieder auf, dass in gewissen Stellen von Gesandten (rasūl, pl. rusul) und in anderen von Propheten (nabiy, pl. nabiyūn oder anbiyāʾ) die Rede ist. Was ist der Unterschied zwischen Gesandter und Prophet in der Lesung? Und wieso sollten sich die Gottergebenen (Deutsch für Muslime) überhaupt um diese Frage bemühen? Ist das nicht eher etwas für Akademiker und Theologen, die ihre Zeit irgendwie füllen müssen?

 

Motivation

Die Motivation für die Fragestellung ergibt sich wiederum aus der Offenbarung Gottes aus den folgenden Versen:

 

33:7 Und da wir mit den Propheten den Bund eingingen, und mit dir, und mit Noah und Abraham und Moses und mit Jesus, dem Sohn der Maria. Wir gingen mit ihnen einen feierlichen Bund ein.

3:81 Und als Gott den Bund der Propheten annahm für das, was ich euch an Schrift und Weisheit brachte, kam darauf zu euch ein Gesandter, das bestätigend, was mit euch ist. So glaubt an ihn und helft ihm. Er sagte: Habt ihr zugestimmt und diesbezüglich meine Bürde angenommen? Sie sagten: Wir haben zugestimmt. Er sagte: So bezeugt und ich bin mit euch unter den Bezeugenden

 

Wir können also diesen Versen entnehmen, dass ein Gesandter (rasūl) kommen wird, der die Offenbarungen Gottes bestätigt und alle vereint. Wichtig ist der Umstand, dass dieser Gesandte erst nach dem Propheten Muhammad kommen wird, wie wir dies aus der ausdrücklichen Erwähnung und mit dir aus 33:7 verstehen können, womit der Prophet Muhammad gemeint ist.

Damit wir in der Lage sind, den Gesandten überhaupt erkennen zu können, müssen wir wissen, in welchem Rahmen dieser Gesandte erscheinen wird. Dazu ist es sicherlich von Vorteil, die beiden Begriffe Prophet und Gesandter voneinander unterscheiden zu können.

 

Gibt es einen klaren Unterschied zwischen Gesandter und Prophet?

Nun wollen wir uns aber der Frage widmen, ob und wie wir den Unterschied zwischen Gesandter und Prophet festlegen können. Betrachten wir die Verse, in denen die Gesandtschaft und das Prophetentum im selben Vers erwähnt werden, sehen wir deutlich, dass die Wörter nicht einfach so ohne Weiteres voneinander getrennt werden können. Einige Beispiele hierzu:

 

9:61 Und unter ihnen gibt es diejenigen, die den Propheten (al-nabiy) beeinträchtigen, und sie sagen: Er ist ganz Ohr. Sage: Ein gutes Ohr für euch. Er glaubt an Gott und glaubt den Gläubigen, und er ist eine Barmherzigkeit für diejenigen, die unter euch glaubten. Und diejenigen, die den Gesandten Gottes (rasūlu-llah) beeinträchtigen, für sie ist eine schmerzhafte Qual (vgl. auch 4:69, 7:157-158, 19:51, 19:54, 33:53)

33:45 O Prophet (al-nabiy), wir haben dich als einen Zeugen entsandt (arsalnā), als Bringer froher Botschaft und als Warner. (vgl. auch 7:94, 43:9)

 

Es gibt also einen Zusammenhang zwischen den Worten, welcher nicht so ohne Weiteres mit einem einzelnen Vers repräsentiert werden kann. Es muss aber auch einen Unterschied geben, die Begriffe können nicht als Synonyme behandelt werden, denn:

 

22:52 Und wir sandten (arsalnā) vor dir keinen Gesandten (rasūl) oder Propheten (nabiy), dem, wenn er etwas wünschte, der Satan seinen Wunsch nicht durchkreuzte. Doch Gott löscht aus, was der Satan unternimmt. Dann setzt Gott Seine Zeichen ein. Und Gott ist wissend, weise.

 

Es ergäbe keinen Sinn, beide Begriffe auf diese Art und Weise im selben Satz zu verwenden, wenn sie als Synonyme gelten würden ohne jeglichen qualitativen Unterschied zwischen den beiden Wörtern. Vielmehr können wir sagen, dass sie miteinander sinnverwandt sind, aber nicht deckungsgleich, weshalb der Bedarf besteht, beide Wörter zu erwähnen. Ähnlich wie wir einen Unterschied zwischen Frucht und Obst finden und dennoch beide Wörter sprachlich gesehen nahe beieinander stehen, gibt es auch einen Unterschied zwischen Gesandter und Prophet.

 

Die Aufgabe eines Propheten

Betrachten wir also den Begriff des Propheten ein wenig genauer. Wir lernen aus 2:213, dass die Propheten Gottes mit den Schriften herabgesandt werden:

 

2:213 Die Menschen waren eine einzige Gemeinschaft. Dann entsandte Gott die Propheten als Bringer froher Botschaft und als Warner. Und Er offenbarte ihnen das Buch mit der Wahrheit, um zwischen den Menschen zu richten über das, worüber sie uneins waren. (vgl. auch 3:81)

87:18-19 Wahrlich, dies stand in den ersten Schriftblättern, den Schriftblättern (ṣuḥuf) von Abraham und Moses.

 

Das Wort „Buch“ bzw. „Schrift“ (kitāb) wird in der Lesung stets mit dem Begriff „Prophet“ (nabiy) in Verbindung gebracht. Es werden 20 Propheten erwähnt, die Schriften von Gott bekommen haben. Da Moses und Aaron dieselbe Schrift erhielten (37:117, 21:48), ist die Lesung die 19. Schrift, die zu einem Propheten namentlich zugeordnet werden kann. Darüber hinaus werden 18 Namen in den Versen 83-86 aus dem 6. Kapitel genannt, beginnend mit Abraham und endend mit Lot. Der 89. Vers bestätigt, dass alle 18 Propheten waren:

 

6:89 Diese sind es, denen Wir die Schrift gaben und die Weisheit und das Prophetentum. …

 

Einige mögen hier mit dem Vers 57:25 entgegnen, dass ja auch dort das Wort Gesandter in Zusammenhang mit dem Wort Buch steht. Dabei ist aber ein klarer grammatikalischer Unterschied zu sehen:

  • Wenn das Wort Prophet in Verbindung gebracht wird mit Buch, werden Formulierungen wie zu uns herabgesandt (unzila ilaynā) oder zugekommen (ʾūtiya) verwendet (2:136, 3:84, 28:43, 17:55, 4:163).
  • Wenn das Wort Gesandter in in 57:25 Zusammenhang gebracht wird mit Buch, so wird die folgende Äußerung verwendet: (zusammen) mit ihnen sandten wir das Buch (anzalnā maʿahum al-kitāb).

Einige mögen diesen grammatikalischen Unterschied als spitzfindig erachten, doch die Bedeutung dieses Unterschieds ist von großer Wichtigkeit. Denn Propheten gelten als fehlbar und werden auch getadelt bzw. ermahnt:

 

66:1 O Prophet, warum verbietest du, was Gott dir erlaubt hat, indem du danach trachtest, die Zufriedenheit deiner Gattinnen zu erlangen?

33:1 O Prophet, fürchte Gott und gehorche nicht den Ungläubigen und den Heuchlern (vgl. 2:120, 2:145, 4:135)

9:43 Gott verzieh dir, dass du es ihnen erlaubtest, bis sich für dich klärt, welche glaubwürdig waren, und du weißt, welche die Lügner sind

 

Somit besteht die Aufgabe eines Propheten darin, die ihm offenbarte Botschaft in Buchform zu übermitteln. Es ist aber wichtig, dass er in seiner Übermittlung der Botschaft unfehlbar ist, da wir ansonsten keinerlei Garantie haben, dass die Botschaft Gottes unverändert überbracht wurde.

 

Es sei noch erwähnt, dass der Begriff Warner (naḏīr) ebenso zu den Begriffen Prophet und Gesandter nahe steht. Die Botschaft des Propheten gilt darüber hinaus für alle Welten:

 

21:107 Und wir entsandten dich nur aus Barmherzigkeit für die Welten.

25:1 Voller Segen ist Er, Der die Unterscheidung (Koran) zu Seinem Diener herabsandte, auf dass er ein Warner für die Welten sei.

 

Aufgabe eines Gesandten

In diesem Abschnitt werde ich nicht ausführlich auf weitere, nicht mit der Fragestellung relevanten Aufgaben eines Gesandten eingehen, weil sie schon in meinem Buch behandelt wurden.

Die Schrift eines Propheten ist nicht mittels einer sprachlichen Zielgruppe einzuschränken, wie wir dies bereits sehen konnten, da die Botschaft für alle Welten gesandt wurde. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu einem Propheten ist also, dass Gesandte stets in der Sprache des Volkes, zu denen sie gesandt wurden, die Botschaft zu überbringen hatten.

 

14:4 Und Wir haben keinen Gesandten gesandt, außer in der Sprache seines Volkes, damit er sie aufkläre. Gott lässt dann in die Irre gehen, wen Er / wer es will, und leitet recht, wen Er / wer es will. Und Er ist der Erhabene und der Weise.

 

Ein Gesandter hat nur die Aufgabe eines Botschafters, der Gottes Botschaft überbringt und sein Volk warnt (7:85, 16:36). Er hat keinen unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt der Botschaft, kann mit Gott daher auch nicht darüber verhandeln, sondern muss sie unmittelbar weiterreichen. Die Aufgabe als Gesandter ist lediglich die Verkündigung, also die Übermittlung der Botschaft, nicht mehr. Dies finden wir in mehreren Versen bestätigt:

 

5:99 Dem Gesandten obliegt nur die Übermittlung. Und Gott weiß, was ihr offenkundig macht und was ihr verbergt.

24:54 … Und dem Gesandten obliegt nur die deutliche Verkündigung.

(Vgl. auch 5:92, 16:35, 16:82, 29:18, 42:48, 64:12)

  

Das bedeutet dann, dass ein Gesandter unweigerlich die Verzerrungen und Entstellungen früherer Offenbarungen aufdecken und berichtigen muss.

 

5:15 O Volk der Schrift, nunmehr ist unser Gesandter zu euch gekommen, der euch vieles enthüllt, was ihr von der Schrift verborgen hieltet, und vieles übergeht. Gekommen ist zu euch fürwahr ein Licht von Gott und ein klares Buch.

5:19 O Volk der Schrift, gekommen ist nunmehr zu euch unser Gesandter, nach einer Lücke zwischen den Gesandten, der euch aufklärt, damit ihr nicht sagt: «Kein Bringer froher Botschaft und kein Warner ist zu uns gekommen.» So ist nun zu euch gekommen in Wahrheit ein Bringer froher Botschaft und ein Warner. Und Gott hat Macht über alle Dinge.

 

Schlussfolgerung: Propheten sind auch immer Gesandte, da sie die Offenbarung öffentlich übermitteln müssen. Sie müssen in der Sprache ihres Volkes über die Botschaft aufklären, was als Bestandteil der Verkündung gilt. Es kann also laut der Lesung keinen Propheten geben, der kein Gesandter war. Ein Prophet ist immer auch ein Gesandter.

Es stellt sich die Frage: Gibt es Gesandte, die keine Propheten waren? Wir bemerken, dass in der Lesung Personen genannt werden, die weder als Propheten noch als Schriftüberlieferer bezeichnet werden. Diese sind:

  • Adam, der als der „Erwählte“ beschrieben wird in 3:33. Adam wird nicht mit dem Wort Prophet oder Gesandter in Verbindung gebracht.
  • Hūd, Ṣāliḥ und Schuʿayb, die als Gesandte genannt werden in 26:125,143,178.
  • Ḏul-Kifl, der lediglich als standfest, geduldig und rechtschaffen beschrieben wurde in 21:85 und 38:48.
  • Luqmān, der in 31:12 als jemand beschrieben wird, der mit der Weisheit gesegnet wurde.

Nirgends im Koran werden diese Personen oder Gesandte mit dem Wort Schrift oder Buch in Zusammenhang gebracht. Keiner von ihnen überlieferte also eine Schrift. Gemäß der Definition von 2:213 und 3:81 sind sie also keine Propheten. Drei der sechs werden Gesandte genannt, während die anderen drei lediglich die Gunst Gottes erhalten haben.

Es sollte jedoch bemerkt werden, dass die Lesung uns über Gesandte Gottes informiert, die im Koran nicht erwähnt werden:

 

40:78 Und sicher entsandten Wir schon Gesandte vor dir; darunter sind manche, von denen Wir dir bereits berichtet haben, und es sind darunter manche, von denen Wir dir nicht berichtet haben. (vgl. auch 4:164)

 

Nichtsdestotrotz ist es in der Tat wichtig, dass diese zwei Verse von Gesandten und nicht von Propheten sprechen.

 

Abschluss des Prophetentums, nicht des Gesandtentums

Es gibt einen zentralen Vers, den wir nun mit all den bisherigen Erläuterungen dazu verwenden können, um die festgestellten Unterschiede untermauern zu können:

 

33:40 Muhammad ist nicht der Vater eines eurer Männer, sondern der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten. Und Gott ist in allen Dingen wissend.

 

Hier ist die Reihenfolge der Wörter sehr wichtig. Hätte Gott den Vers als „Muhammad ist … der letzte / das Siegel der Gesandten Gottes und der Propheten“ offenbart, wären sowohl das Gesandtentum als auch das Prophetentum mit Muhammad abgeschlossen. Dies widerspräche jedoch deutlich den Versen 33:7 und 3:81, da nach Muhammad noch ein Gesandter erscheinen wird.

Es gibt einige Gruppierungen, die behaupten, dass das Wort Siegel hier nicht im abschließenden Sinne gemeint sei. Dies ist aber ein sprachlicher Irrtum. Wofür steht denn sonst ein Siegel, wenn nicht für den Abschluss einer Sache? Auf Arabisch kann ich auch eine Sache wurde besiegelt (ختم الشيء – chatama asch-schayyʾ) sagen, und meine damit den Abschluss dieser Sache. Ich kann mit demselben Verb sogar sagen, dass das Ende der Lesung erreicht wurde: ختم القرءان – chatama al-qurʾān. Auch gibt es den Ausdruck, dass Gott sein Ende gut machen möge: ختم الله له بخير – chatama-llahu lahu bichayr. Es gibt noch weitere Beispiele aus den Wörterbüchern, aber ich denke, die Bedeutung des Wortes ist klar.

Das Prophetentum wurde mit Muhammad versiegelt, abgeschlossen und somit das Prophetentum beendet. Dies bedeutet in anderen Worten, dass der Prophet der letzte war, da ansonsten das Symbol des Siegels zerstört wäre. Der Abschluss wäre sonst wieder aufgebrochen. Zwar hätte das Siegel seine Funktion erfüllt, aber es bräuchte nun ein neues Siegel. Doch Muhammad ist das Siegel der Propheten, somit kam das Prophetentum zu seinem Abschluss. Es gibt weitere Ausdrücke aus der Lesung, die den Aspekt des Abschlusses verdeutlichen:

 

2:7 Versiegelt hat Gott ihre Herzen, ihr Gehör und ihre Blicke mit einer Schicht und eine gewaltige Qual ist für sie bestimmt

45:23 Hast du den gesehen, der sich zu seinem Gott seine Neigung gemacht hat, den Gott aufgrund von Wissen irregeführt, dem Er das Gehör und das Herz versiegelt und auf dessen Augenlicht eine Hülle gelegt hat? Wer nach Gott könnte ihn rechtleiten? Wollt ihr es nicht bedenken?

(vgl. auch 6:46, 36:65, 42:24)

 

Darüber hinaus gibt es eine Geschichte in der Lesung (40:28-56), welche den Irrtum der Leute beschreibt, die fälschlicherweise glaubten, dass nach dem Propheten Joseph kein weiterer Gesandter mehr käme. Diese werden dafür getadelt, dass sie ohne eine Ermächtigung über Gottes Pläne streiten (vgl. auch 40:56).

 

40:34 «Gott wird nimmermehr einen Gesandten erstehen lassen nach ihm.» Also erklärt Gott jene zu Irrenden, die maßlos und Zweifler sind
40:35 Diejenigen, die über die Zeichen Gottes streiten, ohne eine Ermächtigung erhalten zu haben, erregen damit großen Abscheu bei Gott und bei denen, die gläubig sind. So versiegelt Gott das Herz eines jeden, der hochmütig und gewalttätig ist.

 

Diese Geschichte dient uns als Anlass, dass wir nicht denselben Fehler begehen und nicht fälschlicherweise behaupten, es würden keine weiteren Gesandten nach Muhammad mehr erscheinen.

Das Prophetentum ist abgeschlossen und somit werden keine neuen Propheten mehr erscheinen und alle, die sich als Propheten ausgeben, können als Scharlatane abgelehnt werden. Der Gesandte Gottes jedoch, der nach Muhammad kommen soll, wird die Botschaften Gottes reinigen und vereinen, indem er die Entstellungen und Verzerrungen aufdeckt und die Menschen in der Volkssprache aufklärt.

 

Zusammenfassung

In Anbetracht der Ergebnisse können wir die Erkenntnisse wie folgt zusammenfassen:

  1. Ein Gesandter (rasūl) übermittelt eine Botschaft. Dies, indem er eine verzerrte oder entstellte Botschaft wiederherstellt und erneut verbreitet (5:15, 5:19), wodurch er noch kein Prophet ist, oder durch eine Botschaft, die ihm offenbart wurde, was ihn dann zu einem Propheten (nabiy) werden lässt.
  2. Ein Prophet erhält eine Botschaft als Offenbarung und hält sie in einem Buch fest. Gleichzeitig hat er sie öffentlich zu übermitteln und zu verkünden, was ihn auch stets zu einem Gesandten macht.
  3. Gott schickt die Gesandten als Botschafter und Warner als eine göttliche Barmherzigkeit zu den Kindern Adams, jeweils für ein Volk in der jeweiligen Sprache. (16:36, 14:4)
  4. Den entscheidenden Unterschied macht der Vers 33:40, indem Gott Muhammad als einen Gesandten (nicht den letzten!) und als das Siegel der Propheten nennt, womit Gesandte keine Propheten sein müssen.
  5. Es gibt nur eine Geschichte in der Lesung, in der vom Ende der Sendung von Gesandten die Rede ist. In dieser Geschichte wird die Behauptung, dass es keine weiteren Gesandten mehr gäbe, kritisiert. (40:28-56)
  6. Gott ging mit den Propheten, inklusive Muhammad, einen Bund ein bzgl. eines spezifischen Gesandten, der nach dem letzten Propheten kommen wird. (3:81, 33:7)

Dschihad im Islam: Sei ein barmherziger Samariter!

Ich suche Zuflucht beim Herrn vor dem verstoßenen Satan,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

 

96:1 Lies, im Namen deines Herrn, der erschuf.

 

Dieser Satz soll gemäß Volksglauben den ersten offenbarten Vers der Lesung (arabisch: Koran) verkörpern. Doch die Mehrheit der Gottergebenen (arabisch: Muslimūn) hat diesen „ersten“ göttlichen Ratschlag vergessen. Wir sind nicht mehr geübt im Lesen der Zeichen und Verse (āyāt) der Lesung und der Natur. Die Gottergebenen müssten die Literatur, die Dichtkunst und das Schreiben allgemein wie auch die technologischen, geistigen und naturwissenschaftlichen Bereiche anführen, wenn sie den Worten Gottes wahrhaftig folgten. Aber wir kennen meistens nicht einmal unsere eigene Religion oder die Lebensordnung (dīn) der Gottergebenheit (islām) aus der Lesung gut genug, so dass sich in manchen Gesichtern ein Ausdruck des Unglaubens entfaltet, wenn sie mit den Worten Gottes konfrontiert werden. Sie sind überrascht, weil die Offenbarung Gottes ihrem traditionellen, kulturell beeinflussten Glauben widerspricht.

Nicht zuletzt aus diesem Grund lassen sie es zu, dass arabische Wörter wie Dschihad ihrer positiven Bedeutung beraubt und zu etwas abgewandelt werden, das dem Wesen der Offenbarung widerspricht. Sie lassen es zu, dass die offizielle Religion gegen die von Gott offenbarte Lebensordnung verwendet wird, obwohl uns der Barmherzige ausdrücklich davor warnt:

 

31:33/35:5 und lasst die Täuschung euch nicht in Gott täuschen!

 

Diese Aussage ist so wichtig, dass sie nicht nur einmal, sondern in gleichem Wortlaut auch in 35:5 vorkommt und sinngemäß in 57:14 wiederholt wird. Doch wir ließen uns leider täuschen, und Gott wusste das.

 

57:14 Sie rufen ihnen zu: Waren wir etwa nicht mit euch. Sie sagten: Doch, aber ihr verführtet euch selbst, ihr wartetet ab, zweifeltet und die Wünsche täuschten euch, bis der Befehl Gottes kam. So ließ euch die Täuschung in Gott täuschen

82:6 Du Mensch! Was hat dich bezüglich Deines großzügigen Herrn täuschen lassen?

 

Wir haben die Pflicht, unsere Augen zu öffnen, die Täuschung zu erkennen und zur Gottergebenheit zurückzukehren (5:105). Wir werden, so Gott will, zu einer neuen Generation von Gottergebenen, welche es nicht mehr zulässt, dass Dinge im Namen Gottes angeordnet werden, die Gott nie angeordnet hat.

 

42:21 Oder haben sie etwa Beigesellte, die ihnen von der Lebensordnung als Scharīʿah bestimmt haben, was Gott nicht erlaubt hat? …

 

Welch eine Wortwahl ist in diesem Vers doch zu erkennen, die die Weisheit Gottes zeigt! Im Vers wird das Verb „scharaʿa“ (verordnen, besitzt den gemeinsamen Wortstamm wie scharīʿah) im Zusammenhang mit der Lebensordnung (dīn) verwendet. Somit vermischen diese Täuscher ihre eigene Lebensweise mit den Geboten Gottes aus der Lesung. Sie reden so, als ob sie fromme Gläubige seien, doch in Wahrheit entfernen sie uns von Gott. Die von den Menschen erfundene Scharīʿah wird von Gott höchstpersönlich abgelehnt! Darüber hinaus wird sie mit der Beigesellung (schirk) in Verbindung gebracht. Den aufmerksamen Gottergebenen, die die Schrift kennen, läuten hier sämtliche Alarmglocken, da die Beigesellung die einzige unverzeihliche Sünde darstellt (4:48, 4:116).

Es ist deshalb an der Zeit, dass wir die menschliche, irreführende Verordnung, die sie auch Scharīʿah nennen, trennen von den Anordnungen, der Scharīʿah Gottes. Es ist an der Zeit, dass wir zur Gottergebenheit zurückkehren – zur Gottergebenheit aus der von Gott offenbarten Lesung. Dies erreichen wir, indem wir die Begrifflichkeiten aus der Lesung politisch und theologisch zurückerobern. Es ist an der Zeit, die an uns offenbarte Schrift von den falschen Gelehrten, Autoritäten und den Tyrannen zurückzuerobern, die sie missbrauchen!

 

Den Dschihad lieben lernen

Das Wort „Dschihād“ wird selbst auch von Gottergebenen oft missverstanden. Es ist für den Kenner offensichtlich, dass Dschihad kein „blutrünstiger Kampf“ oder ein „heiliger Krieg“ ist. Diese Fehlübersetzungen sind nicht einmal in der Nähe der wörtlichen Bedeutung. „Kampf“ ist qitāl (قتال) und „heiliger Krieg“ lautet al-ḥarbu l-muqaddasah (الحرب المقدسة) auf Arabisch. Sehen Sie hier irgendwo eine Ähnlichkeit zum Wort Dschihad? Nein? Gut, ich nämlich auch nicht.

Der Dschihad ist vielmehr die Bemühung gegen jegliche blutrünstige Kämpfe. Dschihad ist der schnellste Weg zum Frieden und zur Barmherzigkeit. Dschihad ist ein Ausdruck des Mitgefühls gegenüber den Bedürftigen und Schwachen. Die Quelle für Dschihad liegt in Gott und Seiner allumfassenden Liebe und Barmherzigkeit. Dschihād ist der Schutz vor dem Ungerechten. Dschihad ist – richtig verstanden – ein Segen für die Menschheit, sowohl in Bezug auf das Zusammenleben mit Anderen als auch für einen selbst.

Die Gottergebenen sind von der Vernunft (10:100, 8:22, 2:44) und der Barmherzigkeit geleitete, selbstkritische Seelen (3:134, 42:36-43, 75:2). Denn sie sind sich bewusst, dass die Barmherzigkeit sehr wichtig ist, da sich Gott selbst Barmherzigkeit vorschrieb (6:12). Diese barmherzige Seele des Gottergebenen entwickelt sich spirituell wie auch wissenschaftlich weiter (17:36, 39:18, 10:100, 35:27-28). Deshalb ist sie ein Segen für alle Menschen und nicht nur für die Person selbst, die eigene Familie oder die eigene Gemeinschaft.

Wir sind als Gottergebene verzeihend, da wir uns wünschen, dass Gott uns auch vergibt (24:22). Gott ist voller Vergebung, Liebe und Erbarmen (85:14). Unser Weg ist demzufolge auch die Barmherzigkeit (3:134, 7:199, 15:85, 41:34-35, 42:43). Und weil Verzeihen schwieriger, aber dafür umso besser ist, ist es ein Dschihad (42:37,40). Aus diesem Grund sandte Gott den Propheten Muhammad aus Seiner Barmherzigkeit heraus für alle Welten (21:107). Denn nicht die Person Muhammad selbst, sondern die Botschaft der Lesung ist eine Heilung und eine Rechtleitung für uns (41:44).

 

Dschihad als Wort

Die Wurzel des Wortes Dschihād ist dsch-h-d (‏ج ه د‎) und kommt in der Lesung insgesamt 41 Mal in 36 Versen wie folgt vor:

  • 27 Mal (2:218, 3:142, 5:35, 5:54, 8:72, 8:74, 8:75, 9:16, 9:19, 9:20, 9:41, 9:44, 9:73, 9:81, 9:86, 9:88, 16:110, 22:78, 24:53, 29:6 (2x), 29:8, 29:69, 31:15, 49:15, 61:11, 66:9) als dritter Verbstamm dschāhada (جَٰهَدَ): sich bemühen, abmühen
  • Viermal (4:95 (3x), 47:31) als aktives Partizip des dritten Verbstammes mudschāhidīn (مُجَٰهِدِين): abmühend, sich bemühend
  • Viermal (9:24, 22:78, 25:52, 60:1) als das Verbalnomen des dritten Verbstammes dschihād (جِهَاد): Bemühung
  • Einmal (9:79) als das Nomen dschuhd (جُهْد): Mühe, Engagement
  • Fünfmal (5:53, 6:109, 16:38, 24:53, 35:42) als das Verbalnomen dschahd (جَهْد): Einsatz, (intensive) Abmühung

Noch einmal zur Verinnerlichung werden die Bedeutungen dieser Abmühung, wie sie koranisch gesehen sinngemäß vorkommen, aufgezeigt:

  • sich mit aller Kraft für etwas einsetzen
  • etwas hart erarbeiten, sich anstrengen, abmühen, abrackern
  • sich kräftig, fleißig, sorgsam oder eifrig engagieren
  • mit äußerstem Einsatz mit Leib und Seele für eine Sache einstehen
  • sich abplagen, viel durchmachen, ermüden durch intensives Abmühen
  • etwas auf sich bürden, etwas ertragen
  • sich durch Schwierigkeiten quälen oder ringen

 

Dschihad als Lebensweise

Viel wichtiger als der rein sprachliche Aspekt des Wortes ist die nähere Bedeutung durch die Verwendung in der Lesung. Der wichtigste und wohl der am meisten missverstandene Ausdruck aus der Lesung ist „die Bemühung auf dem Wege Gottes“ (al-dschihād fī sabīli-llāh). Dies ist nämlich nichts anders als der Versuch, Gottes Willen zu erkennen und umzusetzen und Seiner achtsam zu sein (taqwà), während man noch auf der Suche nach der Wahrheit ist:

 

22:78 Und bemüht euch für Gott in wahrhaftiger Abmühung. Er hat euch erwählt. Und Er hat euch in der Lebensordnung keine Bedrängnis auferlegt. Dies ist die Gemeinschaft eures Vaters Abraham. Er hat euch schon früher Gottergebene (Muslime) genannt und nun in diesem (Buch), auf dass der Gesandte Zeuge über euch sei und ihr Zeugen über die Menschen seid. So haltet den Kontakt aufrecht, steuert zur Verbesserung bei und haltet an Gott fest. Er ist euer Beschützer: welch vorzüglicher Beschützer und welch vorzüglicher Helfer!

 

Die Bemühung, also der Dschihad auf dem Wege Gottes hat vor allem mit dem Kontakt (salāh) zu Gott und mit der Verbesserung sozialer Umstände (zakāh) zu tun und geschieht auch nicht nur durch Einzelne. Wir müssen uns gegenseitig darin unterstützen, für soziale Verbesserung in den Gesellschaften zu sorgen, in denen wir leben (2:215, 2:197, 3:104, 5:2, 45:15, 99:7, Kapitel 103, Kapitel 107). Dies ist die gemeinsame Abmühung, der gemeinsame Dschihad. Die Bemühung ist der Weg zur Liebe. Die Bemühung umfasst unseren Einsatz und unsere Anstrengungen, Bedürftigen Wärme, Schutz und Geborgenheit zu bieten. Dschihad ist deshalb auch schon ein freundliches Lächeln, wenn niemand lächeln will. Es ist genauso eine Bemühung, ein friedliches und freundliches Wort für jene Menschen zu haben, die uns beleidigend ansprechen (25:63). Also steht der Dschihad für eine Selbstbeherrschung im Sinne des Friedens.

 

Dschihad und Krieg?

Die sogenannten Muslime dürfen sich hier einmal selbstkritisch betrachten. Es ist nämlich viel zu einfach und meistens auch falsch „die westlichen Medien“ oder „die westlichen, politischen Mächte“ für eine „Verzerrung des Islām“ verantwortlich zu machen und plump den Satz „das hat mit dem Islām nichts zu tun“ zu wiederholen. Dadurch schieben wir die Schuld von uns und begnügen uns mit unserer eigenen Weltanschauung, ohne die Argumente durchleuchtet zu haben. Wir geben unsere Verantwortung der Selbstaufklärung und der Wissensaneignung dadurch viel zu leichtfertig ab. Deshalb seien hier zwei negative Beispiele aus der muslimischen Tradition erwähnt, um zu verdeutlichen, dass sich gewisse gewalttätige Gruppierungen eben nicht durch westliche Medien, sondern hauptsächlich durch die traditionelle Literatur beeinflussen ließen.

 

Dschihad gemäß sunnitischer Tradition

Die Frage kann gestellt werden, wieso selbst gewisse frühe Gelehrten wie Asch-Schaibānī (Das große Buch der Kriege) aus dem späten achten Jahrhundert glaubten, Dschihad sei ein Angriffskrieg zur Bekehrung von Andersgläubigen. Sie waren zumindest so weit gebildet, dass sie die gesamte Lesung studieren konnten. Die meisten Gelehrten lernten sie sogar komplett auswendig. Asch-Schaibānī ist auch keine Randfigur in der Tradition, sondern ein Mitbegründer der hanafītischen Rechtsschule, eine der vier Rechtsschulen im Sunnitentum.

Es darf nicht vergessen werden, dass die Menschen die Lesung und somit das Wort Gottes interpretieren müssen. Ohne eine schlüssige Herangehensweise an den Text kann man jedwede Art der Interpretation irgendwie rechtfertigen. Allein wenn wir das Vorgehen akzeptieren, immer den gesamten Text aus der Lesung im Zusammenhang zu berücksichtigen, können wir diese menschenfeindliche Position von Asch-Schaibani niemals als eine Gott ergebene (auf Arabisch: islamische) Haltung bezeichnen. Zu viele andere Textstellen stehen dazu im Widerspruch (alleine 2:256 reicht aus, weitere: 10:99, 18:29, 88:21-22, 60:8-9).

Ein weiteres negatives Beispiel für eine falsche Herangehensweise ist der Theologe As-Sarachsī (11. Jahrhundert). Die Meinung von As-Sarachsi zeigt, wie vorsichtig wir in der Methodik sein müssen. Er glaubte irrtümlicherweise, dass der Dschihād nur in den Anfangsphasen eine eingeschränkte Bedeutung erhielt, in der die Beigeseller nur ignoriert werden sollen. Der Dschihād sei künftig gleichzusetzen mit dem Gebot zum Kampf, wobei sämtliche Beigeseller zu bezwingen seien. Dies würdige seiner Meinung nach die Religion selbst! Und genau auf eine solche Art der Interpretation stützen sich die Extremisten.

 

Weitere traditionelle Ansichten

Es gibt natürlich auch viele andere Ansichten in der sunnitischen Literatur, welche im Mainstream-Islām verbreitet sind, wie z.B. die Unterscheidung zwischen großem und kleinen Dschihad. Der kleine umfasse die kriegerische Handlung und der große meine die Arbeit an sich selbst, das Ausmerzen von allem Schlechten, wie Wut, Zorn oder Hass. Darüber hinaus gibt es noch viele Versuche, den Dschihād zu kategorisieren in Unterbereiche wie:

  • Dschihād der Seele (dschihād bi-n-nafs)
  • Bemühung der Zunge (dschihād bi-l-lisan)
  • Dschihād des Stiftes (dschihād bi-l-qalam)
  • Bemühung des Wissens (dschihād bi-l-ʿilm)

Solche Unterteilungen können aber sehr unterschiedlich sein und sind meist nicht koranisch belegt.

Es gibt zudem einen Ausspruch (Ḥadīṯ), wonach man sich gegen „das Üble“ in folgender Reihenfolge wehren sollte: Hand, Zunge und Herz (Riyāḍ uṣ-Ṣāliḥīn Nr. 184). Zuerst sollte man aktiv das Üble mit eigener Hand ändern, wenn nicht möglich, dann gegen die Ungerechtigkeit mündlich (Zunge) protestieren und zuallerletzt im Herzen rebellieren. Dieser Ausspruch ist höchst problematisch, da er auf diese uneingeschränkte Art eine Religionspolizei einfordert, wenn es eine sunnitische oder schiitische Regierung geben sollte. Denn eine solche Regierung hat die Mittel und die Wege aktiv (Hand) vorzugehen, um in ihren Augen Übles vorzubeugen. Dadurch wären die Rechte von Andersdenkenden, Andersgläubigen, Homosexuellen nicht mehr gewährleistet, wie wir leider heute schon in gewissen Ländern beobachten können.

 

Dschihad und Verteidigungskrieg in der Lesung

Wir sehen nun die Notwendigkeit, sämtliche Verse aus der Lesung miteinander in Verbindung zu bringen. Es reicht nicht aus, einzelne Verse oder Themenbereiche in einen vermuteten, künstlich erstellten zeitlichen Rahmen zu setzen. Die historische Kontextualisierung kann also im Ansatz nur Vermutungen, weitere Verwirrungen oder mitunter gar anti-islamische Haltungen hervorbringen, wie wir soeben gesehen haben. Gott sagt uns bereits in der Lesung, dass Sein Wort dazu herabgesandt wurde, um alles zu erklären (16:89).

Es wird uns nirgends in der Lesung erlaubt, Angriffskriege zu führen. Natürlich bedeutet aber die Abmühung unter anderem auch, dass wir mit Leib und Seele für die Gerechtigkeit kämpfen müssen. Dies kann auch zur Folge haben, dass wir einen Verteidigungskrieg zu führen haben. In solch einer prekären Lage ist es auch ein Verrat an der Menschlichkeit, wenn wir die existenzielle Bedrohung von unschuldigen Menschen aufgrund eines naiven Pazifismus ignorieren. Deshalb sollten wir die Selbstverteidigung als eine Selbstverständlichkeit ansehen, auch wenn es mich eine innere Überwindung kostet, die erhöhte Wahrscheinlichkeit meines Todes eher in Kauf zu nehmen als meinen „natürlichen“ Tod. Das, obwohl wir nicht wissen können, wann wir sterben werden!

Daher kommt auch die Verknüpfung zwischen der Bemühung und einer speziellen kriegerischen Handlung zum Zwecke der Selbstverteidigung, um der Auslöschung der eigenen Existenz und der eigenen Gesellschaft entgegen zu treten (22:39-40; in diesen Versen wird das Wort für Kampf, also qitāl und nicht dschihād verwendet). Wir sollten aber stets ein friedliches Zusammenleben anstreben (2:208, 4:114, 8:61, 10:25, 60:7). Auch im Krieg gilt die Selbstbeherrschung (2:190-193) als Zeichen der innerlichen Abmühung.

 

Dschihad bedeutet Menschenliebe

Die Gottergebenheit besteht nicht nur aus der gegenseitigen Liebe zwischen Gott und Mensch, wobei Gott uns weitaus mehr liebt. Niemand ist ohne Sünde, so dass er ohne eine Vergebung seitens Gottes auskommt (35:45, 16:61). Da Gott Barmherzigkeit vor Gerechtigkeit walten lässt, können wir sicher sein, dass Er uns mehr liebt als wir Ihn (85:14, 6:12). Diese Verbundenheit sollten wir auch zwischen den Menschen pflegen. Gott ergeben zu sein bedeutet, die Menschen mehr zu lieben, als dass sie uns lieben (3:119, 59:9, 76:8-9). Weil wir ungeduldig und geizig sind, ist es umso schwieriger und eine größere Abmühung, weshalb eben diese Abmühung mit der Geduld verbunden ist (2:267, 3:92, 3:134, 3:142, 4:36).

Die Abmühung ist des Weiteren mit Empathie und Wohlwollen verbunden. Da wir großzügig von Gott beschenkt wurden, können wir diese Großzügigkeit auch den Menschen zukommen lassen (2:273, 24:22, 31:18). Dies äußert sich zum Beispiel in der Familie dadurch, dass wir unsere Eltern mit Güte behandeln müssen (29:8). Wir dürfen es aber nicht übertreiben mit der Liebe und blind werden. Wenn wir dazu gedrängt werden, die islamischen Prinzipien irgendwie weltlichen Bedürfnissen anzupassen, dürfen wir dem nicht nachgeben.

 

Dschihad bedeutet Gerechtigkeit

Wir dürfen um der Gerechtigkeit willen nicht die Menschen lieben, die tyrannisch Unschuldige aus ihren Häusern vertreiben (60:1). Liebe zu Gott bedeutet auch Liebe zur Gerechtigkeit über alle sozialen Stufen hinweg. Gott ist unser Zentrum und wir müssen mit unserem Dschihād unser Licht vervollkommnen und Gottes Barmherzigkeit verkünden. Die Vervollkommnung unserer Seele beinhaltet auch die moralische Läuterung, die Reflexion und die Kenntnis über unser eigenes Wesen. Dies führt dann dazu, dass wir unbeeinflussbar für die Gerechtigkeit einstehen (3:104, 3:110, 4:135, 5:78-81, 5:105, 7:165, 7:199, 9:71, 29:69, 99:7). Die Läuterung (zakāh) ist dermaßen wichtig, dass Gott Seine Barmherzigkeit davon abhängig macht, ob wir zur Läuterung oder in anderen Worten zur Verbesserung gesellschaftlicher Umstände beitragen oder nicht (7:156). Unser Bestreben sollte zu jeder Zeit sein, dem Frieden zugeneigt zu sein (8:61) und die Selbstvervollkommnung im Sinne Gottes anzustreben, selbst wenn wir dabei auf Feindseligkeiten stoßen:

 

5:8 O ihr, die ihr glaubtet, steht zu Gott als Zeugen für die Gerechtigkeit! Und die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht verleiten, anders denn gerecht zu handeln. Seid gerecht, das ist näher zur Achtsamkeit. Und seid Gottes achtsam, denn Gott ist kundig dessen, was ihr tut.

 

Deshalb: Liebe den Dschihād und sei ein Mudschāhid!

Oder zu gut Deutsch: Liebe die Bemühung und sei ein Bemühender, indem du ein barmherziger Samariter bist!

Rezension zu „Wo der Koran Anknüpfungspunkte für Gewalt bietet“

Frieden,

Gottergebene sehen sich in jüngster Zeit immer öfter mit Kritik gegenüber ihrem Glauben ausgesetzt, sei es in Talkshows, Zeitungsartikeln oder in sozialen Netzwerken. Oft stellt sich dabei heraus, dass es nicht um den Inhalt selbst geht, sondern viel eher um eine Polarisierung und pauschale Verurteilung, dass die Lesung Anknüpfungspunkte für Gewalt biete. Kontrahenten beider Seiten, Islamkritiker wie auch ihre meist traditionalistischen Gegner, sind eher um eine Deutungshoheit bemüht, als sich wirklich unabhängig und dementsprechend ergebnisoffen mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Dies hat zur Folge, dass man auf der einen Seite einen Islam zu verstehen bekommt, der beispielsweise angeblich Intoleranz und Angriffskriege toleriert und auf der anderen Seite eine Gottergebenheit, die davon nichts wissen will. In der Tat kann man beispielsweise aus der unerlaubten Vermengung von sunnitischer oder schiitischer Sekundärliteratur mit der Lesung für beide Standpunkte Quellen anführen und dementsprechend argumentieren. Dies kommt vor allem dadurch zustande, dass man die Lesung in ihrem Aufbau nicht korrekt berücksichtigt, indem man versucht sie mit anderen Quellen zu erklären, wo es doch Gott allein ist, der die Lesung erklärt.

 

Bietet die Lesung Anknüpfungspunkte für Gewalt?

Um diese Problematik besser zu veranschaulichen, wird ein Artikel von Abdel-Hakim Ourghi aus der Süddeutschen Zeitung namens Wo der Koran Anknüpfungspunkte für Gewalt bietet genauer unter die Lupe genommen, welcher mit bestimmten Versen zu belegen versucht, dass die Lesung Gewalt legitimiere. Der Autor leitet den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er schreibt:

 

Das Leben des Propheten und dessen religiöses und politisches Handeln kritisch zu hinterfragen, scheint ebenso tabu zu sein. Das Bild eines vollkommenen Lebens ohne Sünden muss aufrechterhalten werden und dient als ewig gültiges, gottgegebenes Vorbild.

 

In der Tat glauben nicht wenige traditionalistische Muslime, dass der Prophet unfehlbar sei. Es gibt jedoch auch nicht wenige Gottergebene, die dem widersprechen. Deswegen kann man so eine Argumentation nicht pauschal für alle geltend machen, wie dies im Zitat suggeriert wird. Viel wichtiger ist jedoch, dass der Prophet nur ein Mensch und Warner/Gesandter war (17:93) und dementsprechend nicht sündenlos sein kann (47:19; 48:2; 33:37).

 

Mohammed (570-632) war jedoch nicht nur der anerkannte Verkünder einer göttlichen Botschaft, sondern auch der weltliche Führer, der meisterlich die Macht des Wortes mit der Gewalt des Schwertes vereinte. Indem er sich auf autoritative Koranstellen bezog, griff Mohammed von 624 an in Medina gegen seine Widersacher zur Gewalt, etwa gegen arabische Heiden, Christen und Juden.

 

Es ist koranisch streng verboten Angriffskriege zu führen. Diese Behauptungen speist sich der Autor aus Sekundärquellen, die mindestens erst 150 Jahre nach dem Propheten niedergeschrieben wurden und deren Autoren den Propheten nie gesehen haben. Dazu kommt, dass Sirawerke stark voneinander abweichen und kein einheitliches Bild des Propheten überliefern. Selbst konservative Gelehrte sind bei Sirawerken vorsichtig. Dies alles spielt jedoch keine Rolle, wenn Gott diese Behauptung in der Lesung eindeutig verneint: Gott duldet keine weiteren Autoritäten oder Quellen (42:10, 6:114,115, 5:44,45,47, 18:26, 12:40, 16:89, 12:111, 5:3, 39:36, 7:3).

 

42:21 Oder haben sie etwa Partner, die ihnen eine Lebensordnung vorgeschrieben haben, die von Gott nicht verordnet wurde? Und wäre es nicht bis zum Urteilsspruch aufgeschoben worden, wäre zwischen ihnen schon gerichtet worden. Und gewiss, den Frevlern wird eine schmerzliche Strafe zuteil sein.

 

Der Autor führt nun den Vers 9:29 an, um zu belegen, dass Muhammad angeblich mit diesem Vers begründe, ab dem Jahre 624 „gegen arabische Heiden, Christen und Juden“ Gewalt zu legitimieren. Der Vers lautet:

 

9:29 Bekämpft diejenigen, die weder an Gott noch an den letzten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott verbot und sein Gesandter, und die nicht gemäß der Lebensordnung der Wahrheit richten unter denjenigen, denen die Schrift zukam

 

Es ist seltsam, wie der Autor das Jahr 624 ohne eine Primärquelle  eindeutig festlegen kann. Nebst dieser Tatsache ist erstaunlich, wie er diesen Vers so ohne weiteres einfach unkommentiert für seine Behauptungen in den Raum stellt. Die neunte Sure ist ein allgemeines Ultimatum an die Beigeseller (9:1). Diese Beigeseller werden in den darauf folgenden Versen unmissverständlich als die Aggressoren beschrieben (9:8 und 9:13). Aus dem unmittelbaren Kontext kann man die ableugnenden Schriftbesitzer in 9:29 den Beigesellern zuordnen. Nun könnte man aber argumentieren, dass dies allgemein, losgelöst vom Rest der Lesung die ableugnenden Schriftbesitzer meinen könne und man deswegen offensiv in den Krieg ziehen dürfe. Diese Behauptung ist jedoch schnell entkräftet, da die Schriftbesitzer (i.A. Juden und Christen) als Gläubige wie auch als Ableugner beschrieben werden (3:113). Deswegen können nicht alle Schriftbesitzer gemeint sein. Die Lesung liefert aber auch allgemeine, unmissverständliche Anordnungen zum Krieg:

 

60:8 Gott verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die nicht gegen euch der Lebensordnung (Religion) wegen gekämpft und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, gütig zu sein und sie gerecht zu behandeln. Gewiss, Gott liebt die Gerechten.

 

Das bedeutet, wenn in 9:29 steht:

 

9:29 und nicht verbieten, was Gott verbot und sein Gesandter,

 

dies mindestens Vers 60:8 entsprochen, also eine Aggression stattgefunden haben muss. Die Verse 2:190-193 legen klar, dass ein Krieg nur als Verteidigung aufgefasst werden darf und man einen angebotenen Frieden annehmen muss (8:61). Darüber hinaus gilt das Paradigma:

 

2:256 Es gibt keinen Zwang im Glauben.

 

Deshalb ist der Ausdruck aus 9:29:

 

Bekämpft diejenigen, die weder an Gott noch an den letzten Tag glauben

 

… keinesfalls eine Begründung, gegen den Glauben der Schriftbesitzer vorzugehen. Der Vers beschreibt demzufolge nur eine ihrer Eigenschaften aus vielen. Im Anschluss führt der Autor Vers 9:33 an und schreibt:

 

In Vers 33 wird der Islam als wahre Religion bezeichnet. Gott werde der Gemeinde zum Sieg über alle Religionen verhelfen.

 

Der Vers in seiner Gänze:

 

9:33 Er ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtleitung und der Lebensordnung der Wahrheit sandte, um es über jede Lebensordnung hervorzuheben, auch wenn es die Beigeseller hassen.

 

Hier ist viel Interpretation möglich, ob dies eine Wahrheit beschreibt, die dann alle Religionen (Lebensordnungen) übertrumpfen wird oder ob dies nur den damaligen Umstand meint, denn ein Vers vorher steht:

 

9:32 Sie möchten Gottes Licht mit ihren Mündern auslöschen, Gott aber lehnt es ab, sondern vollendet sein Licht, auch wenn es die Ableugner hassen.

 

Es ist jedoch keinesfalls möglich, einen dauerhaften Kriegszustand zu beschreiben, bis „der Islam siegreich“ ist. Die Verse 2:256, 2:190-193 und 60:8 unterbinden so eine Interpretation kategorisch. Folgendermaßen geht es weiter:

 

Auch in der letzten offenbarten Sure 5, Vers 33, ist zu lesen: „Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und überall im Land eifrig auf Unheil bedacht sind, soll darin bestehen, dass sie umgebracht oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen wechselweise (rechts und links) Hand und Fuß abgehauen wird, oder dass sie des Landes verwiesen werden.“

 

Dazu ein Artikel von unserer Schwesterseite, der diesen Vers schlüssig erklärt, wie auch eine weitere ausführlichere und auf der Lesung basierte Erläuterung durch Muhammad Asad (PDF auf Englisch, ab Seite 221). Diese beiden Quellen führen die Argumentation des Autors zum betreffenden Vers ad absurdum.

 

Die gesamte muslimische Koranexegese ist der Auffassung, dass sich der zweite Teil auf Juden und Christen bezieht. In Sure 2, Vers 120, werden sowohl Mohammed als auch die Muslime aufgefordert, Juden und Christen zu meiden.

 

Das ist jetzt überhaupt nicht nachvollziehbar. Was steht in 2:120 und was meint der Autor? Auch findet unmittelbar darauf (2:121) eine Differenzierung der Schriftbesitzer statt. Zudem ist der angebliche Konsens frei erfunden. Genannt sei dazu nur der sunnitische Theologe Professor Süleyman Ates (ehemaliger Vorsitzender der türkischen DITIB) als nur einer von vielen, die seiner These widersprechen. Überhaupt, koranisch gesehen darf man natürlich Juden und Christen zu Freunden nehmen, man darf sie sogar heiraten (5:5)! Vers 60:8 sei zu der Problematik nochmals veranschaulicht:

 

60:8 Gott verbietet euch nicht, gegenüber denjenigen, die nicht gegen euch der Religion wegen gekämpft und euch nicht aus euren Wohnstätten vertrieben haben, gütig zu sein und sie gerecht zu behandeln. Gewiß, Gott liebt die Gerechten. (siehe auch: 3:55, 3:113-114, 2:62, 5:69)

 

Dann ist folgendes zu lesen:

 

In Sure 3, Vers 85 ist zu lesen, dass keine andere Religion als Ersatz für den wahren Glauben an Gott dienen kann.

 

Eine Problematik ist hier nicht ersichtlich. Jedoch will der Autor damit suggerieren, dass man dies auf die „Gottergebenheit“ (Islam) beschränkt, wie aus dem weiteren Verlauf des Artikels erschlossen werden kann. Das Wort bedeutet jedoch nichts anderes als Ergebung (in Gott) und ist nicht nur auf die Lesung beschränkt. Auch andere Religionen haben ihre Legitimität laut der Lesung, sofern sie nach Gottes Richtlinien ausgelebt werden (2:62, 5:69; ausführlicher zu dieser Thematik in folgendem Artikel).

 

Bereits in Vers 19 derselben Sure wird mit Nachdruck betont, dass der Islam die einzig wahre Religion sei.

 

Warum wird „Islam“ hier nicht übersetzt? Der Autor macht denselben Fehler, den er doch vehement kritisieren will, den althergebrachten Traditionen zu folgen! Außerdem steht unmissverständlich in der Lesung, dass wir Gottergebene auch an die Tora und das Evangelium zu glauben haben, wie auch die Schriftbesitzer an ihre eigenen Bücher (5:43-48) und an die Lesung.

 

Die Umma (die Gemeinschaft der Muslime) wird sogar als die beste Gemeinschaft bezeichnet, die Gott den Menschen gestiftet habe (Koran 3:110).

 

Auch das ist so nicht richtig. Denn diese Gemeinschaft wird nur mit dem gläubigen Teil in Verbindung gebracht, wie man aus den vorherigen Versen entnehmen kann (Vers 3:102, insbesondere 3:104) und ist nur für die damalige Zeit relevant oder eben jene, welche es diesen Vordersten gleichtun. Denn in Vers 25:30 steht eindeutig, dass der Gesandte am Jüngsten Tag seine Gemeinschaft kritisiert, indem er beklagt:

 

25:30 Und der Gesandte sagt (am Jüngsten Tag): „O mein Herr, mein Volk hat diese Lesung verlassen!“

 

Es gibt zudem noch andere Verse, die Menschen kritisieren, welche sich als Gottergebene bezeichnen (9:90, 9:101). Nach all diesen haltlosen Argumentationen präsentiert der Autor schließlich seine Lösung:

 

… Die zwischen 622 und 632 in Medina verkündeten Koranpassagen müssen in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Sie haben als historisch-politische Äußerungen nur eine temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert. …

 

Interessant bei dieser Aussage ist, wo man diesen historischen Kontext nun nachlesen kann? Diese Frage ist allein schon deswegen nicht beantwortbar, da keine einheitliche Quellenlage vorhanden ist, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Bewertungen dieser Quellen, die von den einzelnen Gruppierungen abhängen. Aus der Lesung ist ein historischer Kontext nicht umfassend ableitbar. Über den oft angeführten magischen Zauberstab des „historischen Kontextes“ ist jedwede Interpretation möglich. Auch Fundamentalisten wollen die Lesung historisch verstehen durch verderbte Quellen im Sinne ihrer neben Gott gehaltenen Autoritäten, den Altvorderen, also den Menschen, die den Propheten kannten. Durch den angeblichen historischen Kontext, was nichts anderes bedeutet als die Offenbarung Gottes durch Sekundärliteratur zu vermengen, haben sich hunderte, voneinander unterscheidende Gruppen gebildet. Dies ist das Abbild der erwähnten Methodik in seiner Praxis. Dann schreibt der Autor weiter:

 

Es reicht aber nicht, die Offenbarung des Korans in ihrer historischen Entstehungssituation zu verstehen. Darüber hinaus muss auch eine Methode entwickelt werden, welche den Islam auf der Grundlage einer kritischen Reflexion von der Macht dieser umstrittenen Koranverse befreit.

 

Diese Argumentation ist nicht schlüssig. Wenn die Lesung sich in ihren Versen klar ausdrückt, kann man sie nicht einfach ignorieren. Wird die Lesung ohne Vermengung von Menschenschriften betrachtet, bleiben die im Artikel angeführten abenteuerlichen Interpretationen aus. Am Ende schreibt der Autor:

 

Meiner Meinung nach ist nur der in Mekka offenbarte Koran (610-622) zeitlos, weil er universell sinnstiftende Lehren im ethischen Sinne beinhaltet. Sowohl der in Medina (622-632) offenbarte Korantext als auch der historische Prophet als Staatsmann sind im Westen dringender denn je kritisch zu betrachten und revisionsbedürftig, sonst bleibt ein Islam, der mit den europäischen Werten vereinbar ist, ein Wunschtraum.

 

Die in der Lesung vorzufindenden Paradigmen und Lehren sind universell. Die Lesung muss nicht in Stücke gerissen werden, damit man die von Gott offenbarte Lebensordnung den europäischen Werten anpassen muss. Vielmehr ist es umgekehrt: Die Lesung ist die Richtschnur, weil sie das Wort Gottes ist. Sie führt zu einem aufrichtigeren Weg (17:9). Die europäischen Werte sind nicht das Maß aller Dinge und darüber hinaus auch nicht eindeutig definiert. Was sind die europäischen Werte denn genau? Mit seiner Aussage wird der Autor durch folgenden Vers angesprochen:

 

2:85 …Glaubt ihr denn an einen Teil der Schrift und verleugnet einen anderen? …

 

Eine vernunftorientierte Interpretation der Lesung ohne Widersprüche ist mit Leichtigkeit hergestellt, wenn man sich auf Gott alleine einstellt und die Lesung nicht mit menschlichen Meinungen aus der Tradition zu erklären versucht, die teilweise fälschlicherweise dem Propheten zugeschrieben wurden. Dazu sei nochmals angemerkt, dass sich die Sekundärquellen nicht nur öfters gegenseitig widersprechen, sondern widersprechen in vielen Punkten auch der Lesung.

 

15:91-93 Die die Lesung auseinandergerissen haben. Bei deinem Herrn! Wir werden sie allesamt zur Rechenschaft ziehen, für all ihre Taten.

 

Fazit

Die angeführten Verse des Autors sind nach seiner Art des Verständnisses, im Lichte der ganzen Lesung betrachtet, unhaltbar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass manche Traditionalisten solch widersinnigen Interpretationen abgeneigt sind. Radikale Strömungen werden nur einen Teil seiner Argumente übernehmen und schließlich darin eine Legitimation für ihre eigene Ideologie herausfiltern, was der Autor allem Anschein nach ausblendet. Seine Methodik wird Fanatiker somit weiter befeuern, als sie zur Vernunft zu bringen. Das Argument, dass manche Verse heutzutage keine Geltung mehr hätten, führt zu Widersprüchen und zu keiner echten Lösung.

Eine vernunftorientierte Theologie in der Gottergebenheit kann sich nur dann etablieren, wenn man sich der Methodik anschließt, die Lesung losgelöst von Traditionen durch Gottes eigene Worte zu erklären (55:1-2, 25:33, 75:19). Andernfalls wird man, beispielsweise durch die angeführte „historisch kritische Methode“, nur Sekundärquellen durch weitere Sekundärquellen ersetzen. Somit wird die Lesung selbst weiterhin ein Spielball von individuellen Ansichten bleiben. Die kritischen Befunde Ourghis zum traditionalistischen Islam am Ende des Artikels sind größtenteils berechtigt, jedoch nur ein Teil des Problems. Seine Lösungsansätze sind nicht zielführend und in Bezug zur Lesung nicht tragbar.

Ein Anfang dieser vernunftorientierten Theologie der Gottergebenheit ist mit dieser Webseite und dem Buch Schlüssel zum Verständnis des Koran gemacht.

 

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Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Offene Fragen

Jede Methodik hat ihre Stärken und Schwächen. Auch wenn ich von der Stärke der Methodik überzeugt bin und sie meines Erachtens künftig neue Wege eröffnen wird für klassische Richtungen wie die Rechtsfindung (uṣūlu-l-fiqh), so werde ich mit der Methodik nicht alle Fragen klären können. Wir haben einerseits das nützliche Wissen älterer Gelehrten wie zum Beispiel Taqī ad-Dīn Aḥmad b. Taymīya aufzugreifen und es um das Verständnis der Lesung zu erweitern. Nichtsdestotrotz müssen wir eine klare Trennung vornehmen zwischen den in der Lesung behandelten Themen und den Themen, die außerhalb der Schrift diskutiert werden. Ansonsten sehen wir uns mit der menschenverachtenden und anti-gottergebenen Problematik konfrontiert, die wir beispielsweise beim als authentisch eingestuften Ausspruch „man baddala dīnahu faqtulūhu“ (tötet den, der seine Religiön ändert) aus Buchārī erhalten.

Natürlich wird meine Methodik nicht alles erklären können und deshalb möchte ich zwei Beispiele aus den vielen vorhandenen anführen, wonach ich immer noch zu keiner Lösung gelangt bin und keine zufriedenstellende Antwort in der Interpretation fand. Ich vertraue aber darauf, dass Gott mir irgendwann in der Zukunft die Antworten gibt, so Gott will (20:114).

So Gott will werden vielleicht einige Leser dadurch angestoßen, diese Fragen weiter zu studieren und finden unter Umständen gerade dadurch die Antworten?

 

Unterschied von ʿām und sanah

In der Lesung gibt es zwei unterschiedliche Wörter, die für das Wort „Jahr“ verwendet werden:

  • ʿām (Wurzel ʿayn-wāw-mīm: 2:259, 9:28, 9:37, 9:126, 12:49, 29:14, 31:14),
  • sanah, pl. sinīn (Wurzel sīn-nūn-wāw: 2:96, 2:259, 5:26, 7:130, 10:5, 12:42, 12:47, 17:12, 18:11, 18:25, 20:40, 22:47, 23:112, 24:43, 26:18, 26:205, 29:14, 30:4, 32:5, 46:15, 70:4).

Im Moment können wir keine wirkliche Erklärung liefern, wieso es in der Schrift Gottes diese beiden unterschiedlichen Wörter gibt, die beide dasselbe meinen sollten.

Es gibt jedoch zwei Ansätze, die wir während der Erstellung der Hanif-Übersetzung erarbeitet haben.

  1. Möglicherweise wird mit diesen beiden Worten der Unterschied zwischen einem lunaren und solaren Jahr verdeutlicht.
  2. Wird womöglich das eine Wort (ʿām) eher für ein gutes, das andere eher für ein schlechtes Jahr (sanah) gebraucht?

Zum ersten Ansatz: Laut der Lesung gelten beide Kalenderformen (10:5, 55:5). So wäre ʿām für ein Mondjahr gedacht und sanah für ein Sonnenjahr. Dies begründet sich auf den Vers 17:12, wonach das Tageslicht mit der Anzahl an Sanah-Jahren zusammen erwähnt wird, die Sonne also mit sanah in Verbindung gebracht wird. Interessant und gleichzeitig problematisch für diese Betrachtung ist in dieser Hinsicht Vers 29:14, in dem beide Wörter vorkommen und nach welchem Noah 1000 Sonnenjahre minus 50 Mondjahre unter den Menschen verweilt haben soll. In Anbetracht dieser Zahl lässt sich also diese Variante hinterfragen, doch könnte mit dieser Zahl nicht die Lebensdauer gemeint sein, sondern unter Umständen die zeitliche Wirkungsreichweite der Botschaft von Noah?

Hier gibt es auch noch zusätzlich die Anmerkung gewisser Kommentatoren, dass in älteren Kulturen das Wort „Jahr“ für einen Monat nach unserem Verständnis gebraucht wurde. Insofern wären 1000 „Jahre“ also gerundet 83 Jahre nach unserem Verständnis.

Doch in 10:5 wird das Wort sinīn für beide Jahresberechnungen genommen, was diesen Ansatz wiederum in Frage stellt. Für den Moment übersetzen wir in unserer Hanif-Übersetzung die Begriffe nach diesem Ansatz.

Zum zweiten Ansatz: Die Grundlage für diese Betrachtung ist vor allem das zwölfte Kapitel der Lesung. Die Verse 12:47–49 gebrauchen die Wörter spezifisch auf eine bestimmte Bedeutung ausgerichtet:

 

12:47–49 Er sagte: Ihr baut fortwährend sieben Jahre (sinīn) an. Was ihr erntetet, lasst in seinen Ähren, außer ein wenig von dem, was ihr verzehrt. Dann kommen danach sieben harte, die das verzehren, was ihr dafür vorbereitetet, außer ein wenig von dem, was ihr aufbewahrt. Dann folgt darauf ein Lunarjahr (ʿām), in dem den Menschen geholfen wird und in dem sie beregnet werden und sie pressen

 

Auch der Vers 7:130 lässt diesen Ansatz plausibel erscheinen:

 

7:130 Und wir ergriffen bereits die Leute Pharaos mit Jahren (sinīn) mit Mangel an Früchten, auf dass sie sich entsinnen.

 

Mit diesem Ansatz ließe sich auch 29:14 erklären, wonach die Zeitspanne als Sprichwort aufgefasst werden kann: Noah verbrachte nur eine kurze Zeit der Erleichterung und der Güte, wobei die Zeit der Erschwernis viel länger dauerte. Hierbei wird auch davon ausgegangen, dass die Zahl 1000 auf Arabisch auch stellvertretend für „viel“ gebraucht werden kann. Doch dann lässt sich wiederum hinterfragen, wie man in einem durchschnittlich 80–100 (Sonnen)jahre andauernden Menschenleben die 50 jährige, gute Zeitspanne als kurz bezeichnen kann? Oder man nimmt an, dass die 50 Jahre im Gegensatz zum „viel“ dann ebenso einfach die „kleine Zahl neben 1000“ meint. Damit hätten wir keine Informationen mehr in Zahlen, sondern nur noch in der Bedeutung: Ein Großteil seines Lebens war bis auf einen kleinen Teil mühselig.

Beide Ansätze haben ihre Schwächen und müssen deshalb genauer untersucht werden. Die in diesem Buch vorgestellte Methodik hat mich bislang noch zu keinem klaren Ergebnis geführt.

 

Gottes Schwören in der Lesung

Es gibt zahlreiche Verse in der Lesung, nach denen Gott schwört. Was bedeutet das Schwören bei Gott? Wieso sollte der Schöpfer schwören?

 

89:1–5 Beim Morgenanbruch, bei den zehn Nächten, beim Ergänzenden und Anschließenden und bei der Nacht, wenn sie zurückgeht! Ist darin ein Schwur für einen sich Besinnenden?

 

Gleichgültig wie der arabische Begriff qasam für Schwur übersetzt wird, ob Schwur, Eid oder Gelöbnis, so ergibt sich stets dieselbe Problematik. Betrachten wir die 33 Stellen in der Lesung aus den 31 Versen136, so kommt die Wurzel wie folgt vor:

  • Zweimal als erster Verbstamm qasama (قسم) in 43:32: verteilen.
  • Einmal als dritter Verbstamm qāsama (قاسم) in 7:21: schwören, mitteilen (Ansicht verteilen), Anteil haben.
  • Zwanzigmal als vierter Verbstamm aqsama (أقسم): schwören, Mitteilung veranlassen, Anteil zu haben veranlassen.
  • Einmal als sechster Verbstamm taqāsama (تقاسم) in 27:49: untereinander verteilen.
  • Zweimal als das Nomen qasam (قسم) in 56:76 und 89:5: Schwur, Mitteilung.
  • Dreimal als das Nomen qismah (قسمة) in 4:8, 53:22 und 54:28: Anteil, Teilung, Teil.
  • Einmal als das passive Partizip des ersten Verbstammes maqsūm (مقسوم) in 15:44: geteilt.
  • Einmal als das plurale aktive Partizip des zweiten Verbstammes muqassimāt (مُقَسِّمَٰت) in 51:4: verteilenden.
  • Einmal als das plurale aktive Partizip des achten Verbstammes muqtasimīn (مُقْتَسِمِين) in 15:90: Die Geteilten.

Allgemein ist die sprachliche Bedeutung von der Wurzel q-s-m eher teilen, aufteilen, unterteilen, Anteil haben als schwören. So gibt es auch Wörter wie qism (pl. aqsām), die auch auf Türkisch noch verwendet werden (kısım) und Abteilung, Ausschnitt, Bestandteil, Sektion, Stück oder Teil bedeuten. Von einem Schwur ist weit und breit nirgends die Rede. Die Bedeutung „schwören“ hat sich sehr wahrscheinlich dadurch gebildet, dass man sich selbst an das Gesagte binden wollte, also seinen Anteil an der Sache haben wird. Deshalb heißt auf Arabisch qasīm auch nicht Schwörender, sondern vielmehr Partner, der seinen Anteil an der Sache hat, oder auch Teilnehmer. Die Wurzel lässt sich also mit dem Wortstamm „teil“ umschreiben (aufteilen, zuteilen, verteilen, …).

Nebst dieses klaren Bedeutungsschwerpunktes der Wurzel sahen wir uns im Hanif-Team im Zuge unserer Übersetzung noch mit folgendem Problem konfrontiert: Es gibt Verse, die werden grammatikalisch speziell behandelt, obwohl die Grammatik einfach und klar und keine Sonderbehandlung der Verse nötig ist. Gemeint ist die Verneinung des Verbs in folgendem Vers:

 

70:40 So schwöre ich nicht beim Herrn der Aufgänge und der Untergänge, da wir gewiss dazu fähig sind

 

Betrachten Sie nur einmal die Übersetzungen der anderen Übersetzer. Dieser Vers wird fast einstimmig mit einem „Nein“ eingeleitet in den übrigen Übersetzungen. Der Schwur wird nicht mehr verneint:

 

70:40 Nein, Ich schwöre beim Herrn der östlichen und der westlichen Gegenden, Wir haben dazu die Macht,137

 

In der Lesung gibt es acht Verse in dieser Form (56:75, 69:38, 70:40, 75:1, 75:2, 81:15, 84:16, 90:1). Dabei ist die Grammatik doch sehr einfach: lā uqsim. Ein Verb in der Gegenwart wird verneint, indem das Verneinungspartikel lā vorangestellt wird. Die Bedeutung ist also klar: Ich schwöre nicht / ich teile nicht mit.

Natürlich gibt es die Erklärungen alter Kommentatoren wie Ibn Kaṯīr, von dem ich gelinde gesagt nicht viel halte, oder Zamachscharī (gest. 1143) oder auch die Erklärung in Lisān al-ʿarab, die diese Verse erläutern, dass damit ganz sicher ein „ich schwöre“ gemeint sei. In Kapitel lām in lisān al-ʿarab steht das Beispiel aus Vers 75:1 und wird so kommentiert, dass es unter den Menschen keine Uneinigkeit gegeben habe in der Bedeutung dieses Verses als „ich schwöre beim Tag der Auferstehung“.138 Zamachscharī hingegen sieht in dem Ausdruck „lā“ auch eine erhöhte Verstärkung der Bedeutung (مزيدة مؤكدة), womit die Bedeutung in etwa als „Nein, ganz bestimmt schwöre ich!“139 wiedergegeben werden könne. Er gibt hierfür Vers 57:29 als Beispiel an, ohne diesen Vers wiederum weiter zu erklären. Des Weiteren wird das Verneinungspartikel auch als nichtssagender Zusatz verstanden. Dieses Phänomen ist bekannt als redundante Negation oder als pleonastische Verwendung (laghw). Das heißt, dass man diese Verneinungszusätze genauso gut auslassen könnte, da sie keine zusätzliche Information im Satz tragen. Doch wieso sollte Gott aus rhetorischen Gründen eine nichtssagende Verneinung einsetzen? Wieso gerade bei so einem gewichtigen Verb wie schwören?

Darüber hinaus gibt es die Behauptung, dass am Anfang eines Satzes diese Verneinung als ein Ausdruck der Antwort auf etwas Vorhergehendes verstanden werden sollte.140 Dabei spiele es auch keine Rolle, wenn das Verneinungspartikel am Anfang eines Kapitels steht, denn die gesamte Lesung sei auch als Einheit aufzufassen.

Diese Erklärungen sind sehr mager begründet, denn einerseits ist ein Argument wie die Behauptung „keine Uneinigkeit unter den Menschen“ geradezu sinnlos und historisch gesehen falsch, andererseits begründet Zamachscharī seine Meinung fadenscheinig und gibt nur die Mehrheitsmeinung wieder ohne tiefgreifende Analysen aufzuzeigen. Dabei gibt es für den Ausruf der Verneinung „Nein!“ bereits andere Wörter in der Lesung wie kallā (كَلّا – Beispielverse: 70:39, 78 :4 oder 83:15), bal im Sinne von „jedoch“ (بل – Beispielverse: 85:21, 87:16 oder 84:22) oder balá ebenso im Sinne von „doch, aber“ (بلى – Beispielverse: 57:14, 75:4 oder 84:15). Wieso sollte also Gott, dessen Wortschatz unermesslich reich ist, verschiedene Wörter für dieselben sprachlichen Ziele verwenden und die Vielfalt einschränken und Verwirrung stiften?

Auch die Behauptung, dass das Verneinungspartikel am Anfang eines Kapitels oder Satzes als Ausdruck der Antwort verstanden werden sollte, scheitert am Beispiel 75:1, wonach die vorhergehenden Verse 74:53–56 keinen direkten thematischen Bezug zu 75:1 aufweisen.

Es gibt demnach keine stichhaltige Begründung für die Übersetzung „Nein, ich schwöre“ – ganz zu schweigen vom Schwören überhaupt, auch wenn es laut 89:5 die Menschen zum Nachdenken anregen sollte, auf dass sie die besonderen Umstände und Zeichen bedenken mögen. Es soll also unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand des Schwurs lenken. Dennoch ist das Schwören Gottes eine wichtige theologische Frage, ob Er wirklich schwört. Bedeutet dieses Verb nicht eher etwas mitteilen?

Um den Vorwurf „Wir leben heute über 1400 Jahre später und die damaligen Araber werden es sehr wohl besser gewusst haben, wie die arabische Sprache, insbesondere die arabische Sprache der Lesung zu verstehen sei“ gleich vorneweg aus dem Weg zu räumen, möchte ich einen sehr bedeutenden Gelehrten und großartigen Grammatiker anführen in dieser Thematik: Abū Hayyān Al-Gharnāti (gest. 1344). Er war beispielsweise bezüglich Vers 90:1 auch der Meinung, dass die Verneinung (nafiy) und nicht eine versteckte andere Bedeutung gemeint sei, weil die Angelegenheit so klar ist, dass Gott nicht zu schwören braucht.141

Deshalb finden Sie in unserer Hanif-Übersetzung die folgende Übertragung der Verse 89:1–5 aufgrund des klaren Wurzelschwerpunktes und der offensichtlichen Grammatik:

 

89:1 Und der Morgenanbruch
89:2 Und zehn Nächte
89:3 Und das Ergänzende und das Anschließende
89:4 Und die Nacht, wenn sie zurückgeht
89:5 Ist darin eine Mitteilung für einen sich Besinnenden

 

Dennoch ist die Diskussion um die Bedeutung des Mitteilens/Schwörens nicht vollends abgeschlossen.

Ebenso ließe sich in diesem Zusammenhang diskutieren, ob das „wa“ in der Lesung überhaupt als Schwören verstanden werden kann, wenn es andere Beispielschwüre gibt, wie in 12:85 ersichtlich ist:

 

12:85 Sie sagten: “Bei Gott! (ta-allāh) Du hörst nicht auf, Josef zu erwähnen, bis du dich verzehrt hast oder zugrunde gehst”

 

Das „ta“ in Ta-allāh erfüllt dieselbe Funktion wie „bei“ auf Deutsch in einem Schwur, wie es in 12:85 verwendet wird. Wieso also auch das „wa“ als Einleitung für einen Schwur verstehen? Dieser Frage stehen zunächst andere Verse gegenüber, die sprachlich genauer untersucht werden müssen, bevor wir zu einem Schluss gelangen. Ein Beispiel sei angegeben:

 

19:68 Doch, bei deinem Herrn, wir werden sie versammeln, auch die Satane. Danach werden wir sie um die Hölle kriechend bringen.

Transliteration:
fawarabbika lanaḥschurannahum wasch-schayāṭīn ṯumma lanuḥḍirannahum ḥawla dschahannam dschiṯiyyan

 

In diesem Vers wird „wa“ als eine leichte Schwurform verwendet, zumindest aber um eine rhetorische Bekräftigung zu erwirken. Der Satz ließe sich schwer als „Doch und dein Herr“ übersetzen ohne merklich die Bedeutung zu verwässern. Deshalb muss eine umfassende Betrachtung dieser Verwendungsart nach den in diesem Buch beschriebenen Regeln und Prinzipien vorgenommen werden, um die Unterschiede zu klären und um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.