Sunna

Sonnenuntergang Mann breitet seine Arme aus

In jedem Menschen steckt eine Kalifin!

2:30 „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich werde auf der Erde einen Nachfolger1 hinterlassen!‘, sagten sie: Lässt du darauf solch einen, der Verderben stiftet und Blut vergießt, wo wir dich mit Lob preisen und dich heiligen. Er sagte: Ich weiß, was ihr nicht wisst.“

Hanif-Übersetzung (alquran.eu)

Schon mal aufgefallen, dass das arabische Wort für „Nachfolger“, also chalīfah (arab.: خليفة), eigentlich weiblich ist? Seltsam, oder? Denn die männliche Form wird im Arabischen nicht verwendet. Sie gibt es nicht mal! Und wenn man an dessen eingedeutschte Version denkt, also das Wort „der Kalif“ oder „das Kalifat“, dann schauert es in der Regel nicht nur dem Otto-Normal-Muslim überall auf der Welt. Zu groß ist das Unheil, das unter diesem Banner in manchen Teilen der Welt verbreitet wurde, sodass sich im Grunde jeder Mensch, der etwas auf Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit gibt, naturgemäß von diesen schrecklichen Barbareien distanziert und jeder Muslim deren weltfremden Auslegung des Korans den Kampf ansagen sollte.

Gehen wir weiter in die Geschichte zurück, so kommen in der Regel nur männliche Kalifen in den Sinn – Abū Bakr, Omar oder Uthmān. Während Ersterer sich noch „Nachfolger des Propheten“ (arab.: chalīfat rasūlillāh, خليفة رسول الله) nannte, ging Uthmān zum Namen „Nachfolger Gottes“ (arab.: chalīfatullāh, خليفة الله) als Bezeichnung seines Postens über. Keinem von ihnen sowie von denen, die nach ihnen kamen, ist dabei je in den Sinn gekommen, die männliche Version, also chalīf (arab.: خليف), zu verwenden, so wie wir es im Deutschen tun.

Und dennoch ist der Begriff „chalīfah“ bzw. das deutsche Wort „Kalif/Kalifat“ heutzutage in der breiten Mehrheit trotz aller Distanzierungen und andersartiger Auslegungen des Islams wie kaum ein anderer Begriff zum Sinnbild des Patriarchats geworden, wonach – bildlich gesprochen – der große, grimmige und vollbärtige Mann das Weltgeschehen bestimmt und die kleine, schwache Frau von der Öffentlichkeit verbannt wird. Geht es strikt nach der Tradition, so hat die Frau bestenfalls Haushalt und Kinder zu hüten, sich in der Öffentlichkeit mehr oder minder stark zu bedecken und dem Mann bedingungslos zu gehorchen. Mal mehr mal weniger schlimm geht es heutzutage tatsächlich noch in vielen muslimischen Familien in Deutschland zu. Manchmal ist es offensichtlich, manchmal verstecken sich derartige traditionalistische Züge hinter der Fassade angeblicher Aufgeklärtheit und Offenheit.

„Das Diesseits ist das Gefängnis des Gläubigen!“ heißt es in einer allgemein bekannten Überlieferung des Propheten. Ich sage: Der Glaube ist das Gefängnis des Gläubigen. Jedenfalls jener uns überlieferte, traditionelle Glaube, der uns vererbt wurde und seit Jahrhunderten so oder so ähnlich praktiziert wird – jener Glaube, dem nicht nur Frauen und Kinder zum Opfer fallen, sondern der den Anspruch hat, für jeden Einzelnen, ob Mann, Frau oder Kind, sämtliche Lebensbereiche bis ins kleinste Detail zu reglementieren. Damit nimmt er dem Einzelnen die Luft zum Atmen und den Raum zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Als solcher Gläubiger lernt man nicht unbedingt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und so zu leben, wie man es für richtig hält. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sind Fremdwörter im traditionellen Glauben. Und wenn man sich die entsprechende Literatur anschaut, die uns nun seit Jahrhunderten erhalten blieb, so wimmelt sie nur so von unzähligen Vorschriften, die wir im Alltag im Hier und Jetzt umzusetzen haben.

Mann und Frau haben in Moscheen getrennte Räume zu betreten. Man hat mit der rechten Hand zu essen. Und die anderen, die Nicht-Muslime, sind anders als wir. Drum haben wir Abstand von ihnen zu nehmen. Dies sind nur drei von etlichen Beispielen für Vorschriften, die es gibt. Und wer sich nicht an diese Vorschriften hält, gilt schnell als Abtrünniger. Es sind Vorschriften, die meines Erachtens nichts mehr mit unserer heutigen Wirklichkeit zu tun haben. Warum darf sich die Frau in einer Moschee im selben Raum nicht zum Mann gesellen? Warum darf man kategorisch nicht mit der linken Hand essen, wenn einem danach ist? Und warum sollen sog. „Nicht-Muslime“ anders bzw. schlechter gestellt sein als wir, die wir uns selbst „Muslime“ nennen?

Der Mensch ist ein Nachfolger Gottes. Ist damit automatisch der Mann gemeint? Also einer, der mental so schwach ist und sich vor seinen eigenen Trieben nicht sicher sein kann, wenn er in einem Gotteshaus eine Frau erblickt? Einer, der dermaßen willensschwach ist und dem ein bloßer Blick auf das Kopftuch oder das Oberteil der Frau genügt, damit er seinen eigenen Gottesdienst nicht mehr leisten und sich auf Gott nicht mehr konzentrieren kann? Einer, der die Frau somit lieber zum Sündenbock für die eigenen Unzulänglichkeiten macht und sie somit in Hinterzimmern verschließt, als sich seinen eigenen Mängeln zu stellen und an sich zu arbeiten? Einer, der die Macht des Patriarchats nutzt, um seine eigene, vermeintlich starke Position zulasten der Frau festigt?

Ich beschuldige keinen Abū Hurayrah, Schafiī oder Buchārī, die den Leuten ihrer Zeit tatsächlich ihren Dienst erwiesen haben könnten. Ich beschuldige einen jeden von uns, der selbst heute noch an solchen irrationalen Glaubenssätzen festhält und sie mit aller Macht und ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt haben möchte – Glaubenssätze, die zu familiärer Gewalt führen können, nur weil man den Löffel oder die Gabel mit der linken Hand festhält. Glaubenssätze, auf Grundlage derer pessimistisch und reaktionär auf die Welt geschaut und treu dem Motto „Bist du nicht mein Freund (also Muslim), bist du mein Feind!“ gefolgt wird. Nur weil der eine oder anderer gemäß dieser veralteten Vorschriften als „Nicht-Muslime“ gilt.

Wenn man sich dieses Sammelsurium an Vorschriften und jeden, der unentwegt daran festhält, anschaut, so scheint Angst das dominierende Gefühl zu sein – Angst um den eigenen Status und die Vorherrschaft des Mannes, Angst vor Herausforderungen, die zu jeder Zeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der muslimischen Community lauern, und Angst vor dem Wandel und dem Neuartigen, das das Leben unweigerlich bietet. Angst führt zu Unsicherheit und Unsicherheit führt zu einem Schutzwall, den man um sich herum baut, um den vermeintlichen Gefahren etwas entgegenzusetzen. Man tut dies aus vermeintlicher Stärke, doch in Wahrheit ist man schwach. Schwach, weil die Frau in vielerlei Hinsicht als potenzielle Gefahr in der öffentlichen bzw. religiösen Ordnung gilt und man sie deswegen kategorisch herabwürdigen muss. Schwach, weil man in jeder noch so alltäglichen Situation Angst vor der Strafe Gottes hat, weil man zulässt, dass der Teufel angeblich mitisst, wenn man den Löffel mit der linken Hand festhält und man denjenigen deswegen maßregeln muss. Und schwach, weil man der globalisierten Welt mit all ihren materiellen und geistigen Errungenschaften, die dem Wohl des Menschen dienen können, nichts entgegenzusetzen hat und man deswegen die „Nicht-Muslim“-Karte spielen muss, um sich künstlich und trotz allen Fortschritts der anderen über sie zu stellen. Angst ist hochgradig ansteckend und wirkt sich auf die Kindererziehung aus, sodass auch kommende Generationen Gefahr laufen, von dieser völlig vereinnahmenden Angst dauerhaft gelähmt zu werden.

Der traditionelle Glaube verkommt somit zur bloßen Verteidigung einer vor Jahrhunderten konstruierten Identität, die nicht auf der Idee des Menschen als wertvolles Geschöpf Gottes fußt, die keinen Unterschied zwischen Geschlechter oder Religionszugehörigkeiten macht. Der einzelne Mensch in seiner Besonderheit spielt keine besonders große Rolle. Genau genommen spielt er gar keine Rolle. Der Wert des Menschen bemisst sich vielmehr daran, ob er Männlein oder Weiblein ist, sich Muslim nennt und im Grad, wie konform er sein Leben mit diesen Vorschriften lebt. Vorschriften, die von großen, grimmigen und vollbärtigen Männern 1400 Jahre nach Abū Bakr, Omar und Uthmān mit Vehemenz verteidigt werden – ob im Fernsehen, in der Literatur oder im Internet. Deren Nachfolger wiederum sind die Oberhäupter in den einzelnen Familien; die Ehemänner, die Väter und die großen Brüder, die mit eiserner Hand die Geschicke leiten. Alle als Möchtegern-Kalifen und aus vermeintlicher Stärke und Überlegenheit. Im Grunde geht es jedoch nur um Macht, Männlichkeit und den Erhalt des Patriarchats mit der Folge, dass sich der einzelne Gläubige, insbesondere die Frau, auf Grundlage von Angst, Unsicherheit und einer kategorischen und pessimistischen Abwehrhaltung gegenüber alles und jeden mit der Welt in Verbindung setzt. Doch dies ist mitnichten die Essenz aus der Nachfolgerschaft Gottes auf Erden.

Wir haben bereits festgestellt, dass das Wort chalīfah eigentlich weiblich ist. Es ist so, als würde man Herr Bundeskanzlerin sagen, 50 Cent als weltberühmte, amerikanische Rapperin bezeichnen oder Omar Kalifin nennen. Und wenn man daran denkt, dass es die Frau ist, die das Kind gebärt und somit Leben in die Welt setzt – im Grunde kann sie als Schöpferin wie Gott angesehen werden –, dann müssen wir Menschen, ob Mann oder Frau, als „Nachfolgerinnen“ Gottes auf Erden die Welt und die Schöpfung in ihr so lieben, wie Gott seine Schöpfung und die Mutter ihr eigenes Kind liebt – eine Liebe, die bedingungslos ist und alle Höhen und Tiefen überdauert, einfach weil das Kind bzw. der Mensch da ist. Nicht die Angst ist dann das dominierende Gefühl in der Glaubensausübung, sondern die Liebe zu sich selbst und zu den Menschen und Dingen in der Umgebung. Liebe gehört zu den grundlegenden Prinzipien, die die Wirklichkeit durchdringen. Leben entsteht aus Liebe – die Liebe zwischen Gott und Mensch, zwischen Sonne und Blume, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, selbst im Tierreich. Liebe ist schöpferisch und gleichzeitig unerschöpflich. Und wenn wir den Geist Gottes in uns tragen, dann entsprechen wir jenem göttlichen Teil in uns, wenn wir lieben, statt hassen. Wenn wir dankbar sind statt ängstlich. Wenn wir vertrauen, statt permanent misstrauisch zu sein. Wenn wir jeden Tag neu erschaffen, statt die Welt um uns herum, für die wir die Verantwortung tragen, herabzuwürdigen und zu zerstören.  

Wer liebt, durchbricht das „Gefängnis des Gläubigen“ und stellt keine Bedingungen als Gegenleistung für die Liebe. Und wer Regeln dennoch aufstellen muss, tut dies nicht zum reinen Selbstzweck, sondern aus Liebe zum Gegenüber mit dem Zweck einer möglichst gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung. Ob Mann oder Frau, ob derjenige sich später Muslim, Christ oder Agnostiker nennt, spielt grundsätzlich keine Rolle. Liebe macht in der Hinsicht keinen Unterschied. Und es ist genau diese Bedingungslosigkeit in der Liebe, an der es im traditionellen Glauben so sehr mangelt. Man ist sehr schnell damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: Die Herzen derer oder jener sind verhärtet wie Steine (2:74). Doch wenn die Tradition über alles andere gestellt wird, dann produziert sie nichts anderes als massive Felsblöcke, die sich nicht mehr verrücken lassen.

Liebe heißt zuallererst loslassen. Leben und leben lassen. Selbst wenn es der/die eigene Partner/-in oder das eigene Kind ist. Wer liebt, dem ist es egal, ob das Besteck mit der linken oder der rechten Hand benutzt wird. Dem ist es egal, dass Mann und Frau sich in der Moschee in ein und demselben Raum aufhalten. Schließlich geht es dort um die Erfüllung spiritueller Bedürfnisse, an der alle gleichermaßen das Recht haben, und darum, in Gesprächen und Predigten voneinander zu profitieren. Wer liebt, der gönnt anderen ihre Errungenschaften, ob sie sich Muslime nennen oder nicht. Wer liebt, der lebt nicht in permanenter Unsicherheit und Angst. Wer liebt, der nimmt keine kategorische und pessimistische Abwehrhaltung gegenüber dem Rest der Welt ein. Wer liebt, wirkt schöpferisch und tritt der Welt mit offenen Armen und Augen entgegen. Er sieht das, worauf es wirklich im Leben ankommt: auf den Menschen, der Gottes Geist in sich trägt und daher das Recht hat, entsprechend den eigenen Vorstellungen zu leben, zu lieben und seine körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu erfüllen.

Natürlich schreibt die Realität ihre eigenen Geschichten und vieles, was sich in der Theorie so einfach anhört, sieht in der Praxis ganz anders aus und muss sich daher erst behaupten. Dies nicht nur, dass es unheimlich schwierig ist, Veränderungen innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft herbeizuführen – auch aufgrund des einen oder anderen Möchtegern-Kalifen, von denen oben die Rede war. Denn er möchte von dieser Art Liebe nichts wissen. Die muslimische Community hat so viel mehr verdient als die Lage, in der sie sich jetzt überall auf der Welt befindet. Potential ist definitiv vorhanden. Darüber hinaus legen die vielen Kriege, Katastrophen und Krisen, für die der Mensch verantwortlich ist, kein gutes Zeugnis über den Menschen insgesamt und das Gebot der Liebe gegenüber den Mitmenschen ab. Doch weil wir alle eben Menschen sind, die wir den Geist Gottes in uns tragen, haben wir immer die Wahl und tragen wir die Verantwortung für die gesamte Schöpfung, sodass wir dem Unheil – gleich welcher Art – mit dem entgegentreten können, mit dem wir samt unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten in der Lage sind. Die Botschaft Gottes ist eine Botschaft der Liebe oder um es mit den Worten von Navid Kermani zu formulieren: In jedem Menschen steckt eine Kalifin!  

Fußnoten:

1 Andere Übersetzungen lauten an dieser Stelle Statthalter, Stellvertreter oder Sachwalter.

Weg zur Wahrheit Moschee Architektur

Mein Weg zur Gottergebenheit (, wie ich sie verstehe) #9

Es handelt sich um eine Fortsetzung meines persönlichen Blogs, den ich vor einigen Monaten in den sozialen Medien begann. Für weitere Informationen: mein Instagram– und mein Facebook-Account.

In eine traditionelle, muslimische Familie in Deutschland hineingeboren zu werden, gleicht dem Anschein der vorigen Beiträge nach einer Bürde, die einem in die Wiege gelegt wird. Natürlich kann man sich die Familie nicht aussuchen, in die man hineingeboren wird. Den Islam verlassen würde ich aber bis jetzt auch nicht verlassen. Das Potential, das ich in der jüngsten der großen Weltreligionen der Welt sehe, überwiegt im Vergleich zu deren in meinen Augen omnipräsenten Perversionen, sodass ich aus voller Überzeugung sagen kann, dass ich bisher nirgendwo anders als im Islam Inspiration und Halt für mein Leben finden konnte. Der Islam ist und bleibt Teil meiner Persönlichkeit. Ich könnte zwar äußerlich fast alles ablegen, was mich in irgendeiner Form damit verbindet. Doch die Erfahrungen bleiben und prägen mein Wirken wahrscheinlich bis ins hohe Alter. Der Glaube an eine Letzte Gerechtigkeit und an einen Gott, Der mich begleitet, alles sieht und auf höchst subtile, nur indirekt wahrnehmbare Art und Weise eingreift, währt, solange ich lebe – und das dank und gleichzeitig trotz der Erfahrungen und Erlebnisse, die mich bis heute prägen. Sie sind gleichsam mein Antrieb, der Benzin für meinen Motor, den ich brauche, um meinem Leben Sinn und Struktur zu geben, indem ich meinen eigenen Weg zur Gottergebenheit folge. Gottergebenheit – das ist das, was für mich heute „Islam“ bedeutet. Was ich darunter verstehe und wie ich letztlich zu dieser Einsicht komme, ist Teil eines Wegs, der vor etwa 13 Jahren begann.  

Umgang mit Werten und Moral zwischen den zwei Kulturen

Dass ich den Islam nicht verlasse, ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie es sich liest. Es gibt Menschen – zu denen ich auch gehöre –, die von einem tief sitzenden Ungerechtigkeitsempfinden geprägt sind. Und wenn einschneidende Lebensereignisse geschehen, die sich zum Nachteil für das eigene Selbst auswirken, dann ist die Neigung allzu menschlich, sich von deren Ursachen zu distanzieren. „Kampf“ und „Flucht“ sind in die DNA des Menschen einprogrammiert. Ich habe in einem meiner vorigen Beiträge bereits von einer „horizontalen“ und „vertikalen“ Achse gesprochen. In jenem Kontext ging es um den Umgang mit moralischen Wertvorstellungen als Mensch zwischen zwei Kulturen – der „europäischen“ und der „nahöstlichen“. Das Spektrum dieser „horizontalen“ Achse beginnt mit demjenigen, der alles Islamische von sich weist und komplett mit dem verschmilzt, was als „westliche Werte und Moralvorstellungen“ bezeichnet wird, im Sinne einer „restlosen Assimilation“. Es endet mit demjenigen, der das traditionell Islamische, Althergebrachte und seit Generationen Bewährte mit allen Mitteln schützt und alles Moderne, Westliche und Neue verabscheut. Ich nenne sie die „kompromisslosen Traditionalisten“. Die „vertikale“ Achse beschreibt die Art und Weise, wie dementsprechende, eigene Überzeugungen den Leuten im unmittelbaren Umfeld nahegelegt werden. Dieses Spektrum beginnt mit den – wie ich sie nenne – Tafkīrīs. Es sind jene, die den nahestehenden Menschen in angemessener Weise den Freiraum gewähren, den sie benötigen, um ihre eigenen Erfahrungen zu machen, und nur dann eingreifen, wenn es für nötig erachtet wird. Dessen Ende bilden die Takfīrīs, die keinen Raum für Diskussionen lassen, keine Widerrede dulden und vorschnell alles für nichtig und falsch erklären, was der eigenen Meinung zuwiderläuft. Beide Spektren haben unendlich viele Zwischenstufen, sodass im Prinzip jeder Muslim seinen eigenen Platz in folgender Veranschaulichung hat:

In meinem Fall sind es, was das Thema Religion, Werte und Moral angeht, kompromisslos traditionalistische Takfīrīs (oben rechts in der Veranschaulichung) gewesen, die meine Erziehung prägten und jede Form von geistigem Fortschrittsbewusstsein mieden. Ein solches Leben wird allein auf individuelle Religiosität reduziert. Solange man so oft, wie es geboten ist, betet, fastet und den Koran liest, sammelt man genug Hasanāt (gute Taten, die einem Menschen in metaphysischem Sinne gut geschrieben werden), um nach dem Tod das Ticket zum Paradies zu lösen. Jede Zeit, die in die Lektüre eines anderen, nicht traditionell gebilligten Buches oder bspw. ins Studium geisteswissenschaftlicher Themen investiert wird, gilt als Zeitverschwendung, von dem man sich enthalten solle. Währenddessen wird die Nahost-Krise beim Zuschauen am Fernseher in den Nachrichten gelöst und Gott bei jedem (Freitags-)Gebet um Hilfe gebeten, während jede übrig bleibende Zeit dem Kartenspiel im Teehaus oder zuhause gewidmet wird. Und als wäre dies nicht genug, verbergen sich hinter der Fassade der Religiosität nicht selten Persönlichkeitsstörungen, die zur Folge haben, dass das seelische Leben der Nahestehenden über Jahre hinweg – bewusst oder unbewusst – immense Schäden erleidet. Narzissmus, Depressionen oder Burnouts – all diese sind kleine Einzelphänomene oder -schicksale. Sie haben die Mitte der muslimischen Community längst erreicht und tiefe Wurzeln geschlagen.

Die Psyche unter stetigem Leidensdruck

In meinen jungen Jahren habe ich es für normal erachtet, dass meine Familie so ist, wie sie ist. Die Suche nach Kontakt zu anderen Menschen und Familien war seitens des Hausherren sehr überschaubar. Wir waren in der Hinsicht beileibe auch nicht die einzigen. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl muslimischer Familien geht den Weg der sozialen Isolation in der Hoffnung, „muslimische Werte“ zu wahren und sich vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Diese gelten als „fitnah“ (externe Versuchungen, die letztlich in die Abkehr vom Islam münden würden). Als sein Nachkomme hatte ich somit kaum Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Formen familiärer Führung, sodass ich derartige Erziehungsmethoden, wie den seinen, als vollkommen normal und üblich empfand. Doch mit zunehmendem Alter merkte ich sehr wohl, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Denn mit der Zeit ergeben sich immer mehr Gelegenheiten, heimische Gegebenheiten mit denen anderer Menschen und Familien zu vergleichen. Dann verschiebt sich nämlich das „Normale“ schnell weg von den Umständen innerhalb der eigenen vier Wände hin zu denen, bei denen die Dinge anders – um nicht zu sagen, um Dimensionen fairer und würdiger – gehandhabt werden. Und dann dauert es nicht lang, bis man sich selbst die Frage stellt, warum gerade ich dieses Pech habe? Es ist dieses „gerade ich“, das einem den Boden von den Füßen ziehen und ihn in ein großes Loch stürzen lassen kann. Man lernt kennen, was bedeutet, depressiv und seelisch zerrüttet zu sein. Denn selbst wenn man irgendwann das Elternhaus verlässt, ist es unheimlich schwierig, Sinn und Lebensfreude in das eigene Leben zu bringen. Meine überaus prägende Vergangenheit hatte nämlich die unheimliche und zugleich beängstigende Kraft, mich in jeder neuen Lebenssituation einzuholen und mich mit den Scherben des Lebens zu konfrontieren – egal ob in meinem Studium, in meinem Job, in der Ehe oder in der Kindererziehung.

Schicksalsglaube und Fatalismus

Ist das mein Schicksal? Das, was Gott für mich vorgesehen hat? Dem Urteil eines traditionalistischen Takfīrīs nach heißt die Antwort an dieser Stelle eindeutig: „ja. Gott wolle uns damit nur prüfen und sehen, ob wir standhaft bleiben.“ Es handelt sich um eine Sicht der Dinge, die in mir mittlerweile tiefsten Abscheu auslöst und mich mehrmals dazu animierte, den Islam zu verlassen, weil ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, wie ein Gott vor der Schöpfung der Menschen willkürliche, mehr oder minder starke Feuertaufen für den Einzelnen festlegt, nur um zu schauen, ob derjenige das aushalten kann oder nicht. Obwohl Gott es aufgrund Seiner Allwissenheit sowieso schon vorab weiß, wie der eine oder andere Traditionalist weiter argumentiert. „Das kann es einfach nicht sein“, denke ich mir. „Was soll das Ganze dann überhaupt noch?“ Sadisten gibt es unter den Menschen genug. Ein barmherziger Gott, wie er im Islam unentwegt bezeichnet wird, kann nicht auch so sein. Das macht das Leben einfach nicht lebenswert. Darüber hinaus ist Fatalismus – der Glaube an eine als unabänderlich hingenommene Macht des Schicksals, die das eigene Handeln bestimmt – etwas, was ich schon immer aus tiefster Überzeugung ablehne und für unvereinbar mit dem Islam halte. Meines Erachtens ist er ein gefährlicher Virus, der vor vielen Jahrhunderten Eingang in die islamische Anschauung fand, muslimisches Denken über weite Strecken verseuchte und das geistige Leben unzähliger Menschen forderte. Jeder, der eine fatalistische Haltung einnimmt, läuft dem zuwider, wofür der Islam meiner Überzeugung nach an allererster Stelle steht: Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung. Es sind ebendiese Werte, die meinen Glauben an den Gott des Islams am Leben hielt. Mein Weg zu dieser Einsicht und letztlich zur Gottergebenheit war ein langer und beschwerlicher. Denn ich musste zunächst zusehen, dass ich nicht mehr in jenes Loch stürzen würde und die Scherben des bisherigen Lebens hinter mir lassen kann. Heute weiß ich, dass ich trotz all der Erfahrungen und Erlebnisse ein Leben lang gebrandmarkt werden bleibe und dass es längst an der Zeit ist, sich von den alten, rostigen Ketten der Vergangenheit zu befreien und das restliche Leben so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Und im Zuge dessen gibt es meiner Meinung nach zwei Zauberwörter, die als Leitplanken fungieren: Kommunikation und Offenheit.

Kommunikation und Offenheit als Ausweg

Ich bin der Überzeugung, dass es nur dann effektiv mit der muslimischen Community voran, wenn sich der Einzelne dazu bereit erklärt, Erlebnisse und Erfahrungen – gute wie auch schlechte – in einem offenen und ehrlichen Diskurs miteinander zu kommunizieren. Das Wohl des Einzelnen ist direkt gekoppelt an das der Gemeinschaft und umgekehrt genauso. Sie sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Durch die daraus resultierende Horizonterweiterung können wir voneinander nur profitieren, sodass unsere Handlungsmöglichkeiten zunehmen und wir Wege finden können, wie wir der Community insgesamt und dem einzelnen Gläubigen das geben, was sie in der heutigen Zeit am meisten verdienen: ein würdiges Leben und eine gerechte Teilhabe in der Gesellschaft. Wir müssen schlicht und einfach begreifen, dass prägende Erlebnisse, wie ich sie in meinem Fall kurz angerissen habe, weder Einzelschicksale sind oder der Vorherbestimmung Gottes entsprechen können. Muslimischer Fatalismus ist eine Seuche, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss, und das ihm zugrundeliegende, muslimische Gottesbild muss sich paradigmatisch verändern – weg von einem sadistischen Gott, dem Selbstverherrlichung und uneingeschränkter Gehorsam weitaus mehr bedeutet als unser Werdegang und unsere Stellung hier auf der Welt gemessen an den Möglichkeiten und Fähigkeiten, wie wir als Menschen besitzen können. Ich möchte damit nicht sagen, dass ausnahmslos jeder in der muslimischen Community ein solches Gottesbild in sich trägt oder dass es DEM Islam gleicht und somit per se schlecht ist. Man darf dem Islam nicht die Schuld für die Misere geben, in der sich die muslimische Community befindet. Man darf ihm auch nicht die Verantwortung für den seelischen Zustand der nahestehenden Menschen geben, wenn es um Einzelschicksale geht. Doch wenn man sich weite Teile der muslimischen Gemeinschaft hier im deutschsprachigen Raum anschaut, dann scheint ein solches althergebrachtes Gottesbild nicht nur gebilligt, sondern von den meisten auch im Inneren wehmütig akzeptiert zu werden, weil man sich eine derartige Veränderung des Gottesbildes im kollektiven Gedächtnis der Muslime nur schwer vorstellen kann. „Wie kann ich als Einzelner eine solch große Veränderung bewirken?“, heißt es dann oder: „Das bringt doch eh nichts. Es ist, als würde man einen Sieb mit Wasser voll machen wollen! Ich konzentriere mich lieber auf mich selbst und auf meine Karriere – Dinge, die ich wirklich in die Hand nehmen kann!“ Und spätestens jetzt wird klar, warum Kommunikation und Offenheit so wichtig sind. Sie sind in meinen Augen unerlässlich, da sie Möglichkeiten der Begegnung schaffen und Erfahrungsaustausch und Kompetenzbündelung ermöglichen. So können auch individuelle Bedürfnisse erkannt und befriedigt werden, die von gleichermaßen gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung sein können.

Zeitgemäßer muslimischer Glaube und die Bedeutung der Gottergebenheit

Der Islam ist nicht per se schädlich oder menschenfeindlich. Einzelschicksalen liegen meist wissenschaftliche Zusammenhänge zugrunde und die Probleme, die ich in der muslimischen Kultur insgesamt sehe, sind keine genuin islamische oder von Gott gewollte, sondern in erster Linie psychologische und von Menschen gemacht. Das heißt, es gibt für uns Muslime, die in dieser Welt ihr Leben fristen, unglaublich viel zu lernen – viele Möglichkeiten der Erkenntnis. Und mit der Erkenntnis kommt die nötige Veränderung, die wir so dringend brauchen. Erkenntnis und Veränderung – dahinter steckt ein Gottesbild, das meiner Überzeugung am ehesten entspricht und das ich für äußerst vielversprechend halte, wenn es darum geht, einen zeitgemäßen muslimischen Glauben zu charakterisieren: ein Gott, bei Dem Allwissenheit nicht gleichbedeutend mit Vorherbestimmung ist, Der dem Menschen eine mentale Stütze im eigenen Wirken ist und Der uns den Koran als Orientierungshilfe zur Verfügung stellt, mit dem das Richtige erkannt werden kann. Denn der Mensch ist grundsätzlich fähig, sein Leben selbstbestimmt zu führen, indem er stets dazu lernt und selbstständig das Richtige erkennt. Das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet: Ein Gott, Der dem Menschen wohlwollend gegenüber steht, sich nichts aus blindem Gehorsam macht und dem Menschen dabei hilft, Mensch zu werden.

Nun mag der eine oder andere fragen: „Was ist denn eigentlich das Richtige?“ Im Grunde genommen gibt es hierfür auch keine allgemeingültige, objektive Antwort, die ich an dieser Stelle präsentieren werde. Eine solche kann es auch gar nicht geben – zumindest nicht in dieser Welt. Wenn ich sage „Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung sind die obersten Werte im Islam!“ oder „Erkenntnis und Veränderung charakterisieren zeitgemäßen muslimischen Glauben!“, dann gelten diese Antworten zunächst nur für mich. Doch gerade dies ist der Charakter des diesseitigen Lebens, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zur Wirklichkeit hat und kraft seines freien Willens berechtigt dazu ist, zu deuten, zu interpretieren und dementsprechend zu handeln. Was den Menschen zum Menschen macht, sind Erkenntnisleistung und schöpferisches Handeln. Diese würden übergangen werden, wenn auf der anderen Seite heiligen Texten, insbesondere dem Koran, der Anspruch gestellt wird, eine abschließende Antwort dafür zu liefern, was das absolut Richtige im Leben ist. Dies würde einerseits den Wert des Menschen schmälern, indem er zu einem willenlosen Vasallen degradiert würde. Andererseits wäre auch der Koran nicht mehr wert als die Ge- und Verbote, die uns zum konkreten Handeln zwingen, und die Geschichten und Gleichnisse, die die restlichen Seiten füllen, wären lediglich „nice to have“. Der Gegenteil ist meiner Meinung nach der Fall. Der Koran, jenes Buch mit seinen 604 Seiten und seinen 6236 Versen, seinen Geschichten und Gleichnissen, seinen Ge- und Verboten, in all ihren Formen und Variationen, ist eine Sammlung von Mitteln der Erkenntnis (6:104), die uns von Gott zur Verfügung gestellt werden, damit wir uns als Menschen selbst verwirklichen und unsere Stellung in der Welt erarbeiten. Dieses Verständnis vom Koran deckt sich mit dem Bild des Menschen als erkennendes, schöpferisch handelndes Wesen und spricht jenem Buch den Wert der Universalität insofern zu, als dass es fähig ist, zu jeder Zeit und an jedem Ort angemessene Antworten auf die Fragen des Lebens liefern zu können. Während der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung mit jener Weltreligion verbunden wird, die die rituelle Praxis – allen voran die sog. „5 Säulen“ – an vorderster Stelle stellt, gründet dieser in meinen Augen primär in der Notwendigkeit eines gemeinsamen, menschheitsübergreifenden Werte- und Rechtekanons zur Sicherstellung, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied werden kann. Die bedingungslose Annahme dieses Kanon ist daher gleichbedeutend mit der Ergebung in Gott, Der Dem Menschen kraft seines Daseins Würde verlieh, welche durch Erkenntnisvermögen und schöpferischem Handeln zum Ausdruck kommt. Damit ist der Islam nicht nur eine Religion im engeren Sinne, sondern auf übergeordneter Ebene ein Art Lebenssystem oder Lebensordnung mit dem Koran als grundlegende Orientierungshilfe. Und das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet.

Erkenntnis und Veränderung können niemals ausgehend von einer einzigen Person stattfinden, sondern nur im Kollektiv. Das zeigt, wie wichtig auch hier Offenheit und Kommunikation sind. Ich bin mir sicher, dass ein grundlegender Wandel im Verständnis dessen, was der Islam (nicht) ist, in der heutigen Zeit schnell seine Früchte tragen wird, wenn wir bedenken, dass die Probleme, in denen sich die muslimische Community befindet, hausgemacht und offenkundig sind. Wenn wir als Gemeinschaft dem Fatalismus den Rücken zuwenden und beginnen, unser Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, indem wir aktiv an unserer Zukunft arbeiten, entwickelt sich ein Bewusstsein für eigene Bedürfnisse und Ambitionen, insbesondere im religiösen Bereich, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Im Gegenteil: Sie sind von grundlegender Bedeutung. Denn Veränderung beginnt zuerst immer im Inneren (13:11). Als Gottergebener muss man sich darüber bewusst sein, dass es nicht schlimm ist, primär an seine eigenen Bedürfnisse und Ambitionen zu denken. So sehr der traditionalistische Kollektivismus seinen Reiz in der gemeinsamen Identität und im religiösen Zugehörigkeitsgefühl hat, so nachteilig wirkt es sich auf den Einzelnen aus, wenn das Individuum mit seinen Eigenheiten und seinen Talenten in der Regel auf der Strecke bleibt. Eigenen religiösen Zielsetzungen zu folgen, birgt zwangsläufig Konfliktpotential mit bestehenden traditionellen Normen und Konventionen, insbesondere dann, wenn es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes ist. Dies wurde am Beispiel des Freitagsgebets deutlich. Dies soll den Einzelnen jedoch nicht entmutigen, seinen eigenen Weg zu folgen, wenn er erkennt, dass es andere Menschen gibt, die sich auf einen ähnliche Reise begeben. Und genau hier setzt der offene und ehrliche Diskurs mit Gleichgesinnten an.

Mein persönlicher Weg zur Gottergebenheit

Vor 13 Jahren begann meine eigene Reise. Damals habe ich mir das erste Mal die Frage gestellt, ob Islam eigentlich auch anders gehen kann. Genug der Ungerechtigkeiten zuhause und genug der Widersprüche und Ungereimtheiten in der Tradition, die meine Intelligenz mehr oder minder beleidigten. Ich habe nicht gleich alles verteufelt, was ich mit dem traditionellen Glauben in Verbindung brachte. Doch war ich der festen Überzeugung, dass ich mein Heil woanders suchen musste, indem ich mich von der Tradition distanzierte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte mir kein Familienangehöriger und kein Imam aus einer Moschee bei den Fragen helfen, die sich bei mir immer wieder von neuem stellten. Und so begann ich meinen eigenen Weg, indem ich Kontakte knüpfte und Bücher las, in der Hoffnung, die Endstation meiner Reise zu finden. „Irgendwo da draußen muss doch die eine Antwort zu finden sein!“, dachte ich mir anfangs. Die Suche nach Eindeutigkeit trieb mich an. Ich schloss mich einer hiesigen Gemeinschaft an, die den Koran in den Mittelpunkt für religiöse Fragen stellte und eine kulturelle Einheit mit eigenen Zielsetzungen und klaren Vorstellungen, was Bildung von Kindern und Jugendlichen und das Ziel des Islams anging, bildete. Von ihnen durfte ich unheimlich viel lernen, wofür ich sehr dankbar bin. Jedoch löste sich die Gruppe im Laufe der Jahre auf und hinterließ für mich ein großes mentales Vakuum. Weiter auf die Suche machend, stieß ich auf das Buch „Rumi und die islamische Mystik“ von Yasar Nuri Öztürk und füllte jenes Vakuum zunächst wieder. Ich lernte Rumi und seine Werke kennen, die mein Horizont entscheidend erweiterten und Nahrung für meine Seele lieferten. Doch mit der Zeit verflog auch hier die rosarote Brille und die Einsicht kam relativ schnell, dass das Leben heutzutage wesentlich komplexer und vielschichtiger ist, als dass seine Werke den Anspruch der Ausschließlichkeit in den Fragen des Lebens innehätten. Schließlich lernte ich Muhammad Shahrour und sein Buch „Das Buch und der Koran“ kennen. Von seiner rationalistischen Methodik in der Koranexegese und den Ergebnissen, zu denen diese führte, war ich dermaßen beeindruckt, dass ich davon ausging, die eine Antwort endlich gefunden zu haben. So überzeugend war die Argumentation, so übereinstimmend waren die Ergebnisse mit der Lebenswirklichkeit. Doch hat es auch hier wenige Jahre gedauert, bis ich merkte, dass auch seine Werke auch Schwächen hatten.

Seitdem bin ich zum Entschluss gekommen, dass in allen Etappen meines Wegs ein Stück Wahrheit steckt, welches in mein Mindset aufgenommen werden musste: Von der hiesigen Gemeinschaft, die sich auflöste, lernte ich Organisation und Strukturierung eines kulturellen Kollektivs auf Grundlage des Korans kennen. Rumi lieferte Nahrung für die Seele, Shahrour Nahrung für den Verstand. Doch die eine Antwort auf alles gibt es nirgendwo da draußen, so lautet meine Überzeugung jetzt. Sie entsteht mit der Kraft der Gewissheit im Inneren.

6:75-79 „Und so zeigten Wir Abraham das Reich der Himmel und der Erde, – und damit er zu den Überzeugten gehöre. Als die Nacht über ihn hereinbrach, sah er einen Himmelskörper. Er sagte: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen!‘ Als er dann den Mond aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Wenn mein Herr mich nicht rechtleitet, werde ich ganz gewiss zum irregehenden Volk gehören.‘ Als er dann die Sonne aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr! Das ist größer!‘ Als sie aber unterging, sagte er: ‚O mein Volk, ich sage mich von dem los, war ihr Ihm beigesellt! Ich wende mein Gesicht Dem zu, Der die Himmel und die Erde stetig wandelnd erschuf, und ich gehöre nicht zu den Beigesellern.‘“

eigene Übersetzung

Genauso wie bei der Suche nach dem Richtigen im Leben ist auch hier der Weg das Ziel und es ist die Aufgabe des Menschen, zeit Lebens Veränderung anzunehmen und eigene Erkenntnisse zu produzieren, insbesondere in der Gottergebenheit. Ganz egal, welche (familiäre und/oder psychische) Hürden es in der Vergangenheit gab und welche man hinsichtlich der eigenen Zukunft als existent glaubt: Solange wir in dieser Welt leben und noch alle Möglichkeiten des Handelns gegeben sind, müssen wir aufwachen und uns Hand in Hand den Herausforderungen stellen, die uns das Leben bietet. Denn das Schlimmste, was dem Menschen passieren kann, ist es, verpassten Chancen hinterher zu trauern. Daher ist der Weg zur Gottergebenheit immer auch ein gemeinsamer!

Weltfremdheit und Abnormität – Wie Freitagspredigten unwissentlich ihres Potentials beraubt wurden

Man stelle sich heute eine Freitagspredigt in einer beliebigen Moschee in Deutschland vor, wie sie abgehalten wird und wie dann plötzlich eine Frau unter den Sitzenden auftaucht und laut von sich gibt, dass sie nicht mit dem einverstanden ist, was der Prediger von sich gibt – ein Ding der Unmöglichkeit, so wie es heutzutage scheint. Doch das ist nicht immer so gewesen. Ein Blick in die Geschichte gibt Aufschluss darüber.

Denn zu Zeiten des Kalifen Omar ist Ähnliches passiert. Im Vorfeld hatten sich einige junge Männer beim Kalifen beschwert, dass Brautgaben so hoch geworden sind, dass sich kaum einer eine Eheschließung leisten konnte. Daher nahm Omar seine Freitagspredigt als Anlass, um bekannt zu geben, dass es von nun an einen Höchstsatz geben solle. Da sprang eine Frau aus der vor ihm sitzenden Menschenmenge auf und legte Einspruch ein, indem sie einen Vers aus dem Koran zitierte, der die Festlegung einer Höchstgrenze für nichtig erklärt:

4:20 „Und wenn ihr eine Gattin anstelle einer anderen eintauschen wollt und ihr der einen von ihnen Schatz gegeben habt, dann nehmt nichts davon zurück (…).“

eigene Übersetzung

Omars Reaktion sinngemäß: „Jeder weiß Bescheid, außer ich! Hiermit erkläre die Festlegung einer Höchstgrenze für ungültig!“

Da frage ich mich persönlich, was ist bei uns schief gelaufen, dass sowas mittlerweile undenkbar geworden ist. Schließlich heißt es in der traditionellen Lehre einhellig, dass man sich in der Ausübung der Religion an die Zeit des Propheten und seine Gefährten orientiert. Aus diesem Grund wird heute zum Beispiel auch das Feiern von Geburtstagen verboten, weil es der Prophet auch nicht täte. Doch was wäre, wenn ich sage, dass das Freitagsgebet in der Anfangszeit des Islams vor der Predigt abgehalten wurde und der einzige Grund, warum Gebet und Predigt in die uns heute bekannte Reihenfolge getauscht wurden, ein pragmatischer war, nämlich der, dass man die Gefahr sah, dass alle nur noch zum Gebet kommen und sich danach aus den unterschiedlichsten Gründen schnell wieder verabschieden würden, woraus Chaos entstehen würde? Erst recht dann angesichts der Tatsache, dass der Islam in seiner Anfangsphase schnell an Mitglieder gewann. Mittlerweile wurde das Leben des Kalifen Omar verfilmt und jeder kann die Geschichte um Omar und der zwischenredenden Frau spätestens jetzt mit eigenen Augen sehen. Wieso fragt keiner nach dem Warum? Welche Lehren können aus dieser Geschichte gezogen werden?

Die Frage nach dem „Normalen“ im Islam in Bezug auf die Freitagspredigt

Wenn wir uns noch einmal jene Geschichte vor Augen führen, dann stellt sich folgende Frage: Was ist das Normale, was das Abhalten von Freitagspredigten angeht? Wenn unsere jetzige Situation der Maßstab sein sollte, dann wird sich immer wieder die Frage stellen müssen, warum es damals anders als jetzt war. Sprich: Warum es damals üblich war, in einer Freitagspredigt dazwischen zu reden, und heute nicht. Oder warum sich Frauen und Männer damals während der Predigt gemeinsam in einem Raum aufhalten durften und heute nicht. Oder warum es nicht verpönt war, dass die Frau in Gegenwart fremder Männer ihre Stimme erheben durfte und heute schon. Darauf wird es meines Erachtens nach keine zufriedenstellende Antwort geben. Im Gegenteil: In unserer heutigen Tradition gibt es einige Überlieferungen, die die Teilnahme an der Freitagspredigt regeln, in denen es z.B. heißt, dass man während der Predigt komplett still sein soll und dass man kein Wort sagen darf, außer es ist zwingend notwendig. Geschweige denn von der dezidierten Haltung der Muslime, Männer von Frauen in der Moschee voneinander zu trennen.

Wenn aber die damalige Situation das eigentlich Normale sein sollte, dann kann es meines Erachtens nach gute Gründe geben, dies anzunehmen. Auf diese werde ich nun im Einzelnen zu sprechen kommen:

Die historische Figur Omar

In der Tradition gilt Omar als charismatischer Typ, ist grob in seiner Art und hat eine starke Persönlichkeit. Er macht für gewöhnlich keinen Hehl daraus, wem gegenüber er feindlich gesinnt ist. Bekannt war er auch für seine Nähe zu seiner Familie, seinen Gefährten und seinem Volk und orientierte sich am Wohlergehen aller. Doch war er in seinem Handeln auch harmoniebedürftig. Denn seine Ernennung zum Kalifen war alles andere als demokratisch im Sinne des bereits damals bekannten und in wichtigen Angelegenheiten, die die damalige, noch junge und in politischer Hinsicht instabile muslimische Umma betrafen, angewendeten schūrā-Prinzips. Dennoch stieg das Kalifat unter seiner ca. zehnjährigen Herrschaft zur neuen Großmacht im Nahen Osten auf und er schloss zahlreiche Verträge mit der eroberten Bevölkerung.

Sein harter und grober Umgang und sein Temperament verleiteten ihn öfter dazu, unüberlegt Absichten zu fassen und Worte in den Mund zu nehmen, die er daraufhin selbst revidiert. Dazu gehört u.a. die Absicht, den Propheten zu töten. Das war in seiner Zeit vor Annahme des Islams, denn es kam bekanntlich anders. Dazu gehört auch seine Aussage unmittelbar nach dem Tod des Propheten: „Ich töte mit diesem meinem Schwert jeden, der sagt, Mohamed sei tot!“

Diesen Angaben nach zu urteilen, klingt es für mich glaubwürdig, dass sich das Ereignis um die Frau und Omar in der Freitagspredigt so oder so ähnlich abgespielt haben muss. Omar war dem Anschein nach selbstkritisch genug. Und dass er auf die Kritik der Frau eingegangen ist und seine Anweisungen revidiert hat, zeugt von einer glaubwürdigen Autorität Omars und einer ebenso hohen Stellung der Frau. Und um sie soll es im Folgenden gehen.

Die zwischenredende Frau

Bekannt ist weder ihr Name noch, dass sie ein höheres Amt oder eine wichtige Funktion unter dem Kalifen Omar bekleidete, sodass sie zu seinen engen Vertrauten zählte. Man muss sich das noch einmal vorstellen: Eine x-beliebige Frau steht mitten in einer wichtigen Predigt auf und bietet jemandem Paroli, der nicht gerade für seine sanfte Art bekannt ist, wenn ihm gegenüber Gegenwehr geleistet wird, jemand, der eine noch junge islamische Nation führen musste und der als Oberbefehlshaber seiner Armee zahlreiche Kriege koordinierte. Wir haben zwar bereits gesagt, dass Omar sehr volksnah war und sich sehr um das Wohlergehen seiner Leute kümmerte, sodass er diesen Einwand zuließ. Dies steigert natürlich das ohnehin schon hohe Ansehen Omars in der sunnitischen Tradition als einer der rechtgeleiteten Kalifen und engen Weggefährten des Propheten. Doch die einseitige Fokussierung auf Omar tut nicht nur der Frau Unrecht, für die es anscheinend normal war, mitten in der Predigt einfach aufzustehen und ihr Wort gegen das des Kalifen zu erheben.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die islamische Religion mit ihren ca. 1,8 Milliarden Anhängern weltweit im Laufe von Jahrhunderten fest etabliert hat. Es gibt unzählige Moscheen, feste, religiöse Riten und eine überwiegend gemeinsame Weltanschauung. Jemand, der heutzutage als Muslim geboren wird, kennt die Dinge, die ihm beigebracht werden, nur auf jener Art und Weise, wie er sie dann auch überall auf der Welt sieht. Und wenn sich heutzutage eine Frau Mut fasst und während der Freitagspredigt in den Männerbereich der Moschee eintritt und lautstark sagt: „Mir passt es nicht, was du sagst!“, was würde dann passieren?

Tagelanger Aufruhr in der entsprechenden Moscheegemeinde und Umgebung, unzählige TikTok-Videos und Facebook-Diskussionen, eine Sondersendung „hart aber (un)fair“ mit null Vertretern aus dem muslimischen Alltag, eine Distanzierung des Zentralrats der Muslime von dieser Aktion, mind. fünf aufeinanderfolgende Freitagspredigten in den Moscheen Deutschlands mit dem Thema „Verhaltensweisen bei Freitagspredigten nach dem Vorbild des Propheten“ und natürlich eine Menge Kanonenfutter für Seyran, Alice und Konsortium.

Das kollektive Gedächtnis der Muslime

Der Tadel ist weder an der einzelnen Moscheegemeinde noch an den einzelnen Gläubigen gerichtet. Ohnehin richtet sich meine Kritik nicht an Personen, sondern an den Problemen, die hinter der Fassade stecken. Und das Problem, womit wir es hier zu tun haben, deckt das auf, woran die heutigen Muslime stillschweigend leiden und wo es zunächst keinen Ausweg zu geben scheint: das kulturelle, muslimische Erbe, aus dem das kollektive Gedächtnis der Muslime entspringt.

Es ist träge, blind und verschließt sich vor tiefgreifenden Veränderungen, die sowohl notwendig als auch von großem Nutzen sind. Ich betone nochmal: ich tadele nicht den einzelnen Gläubigen. Denn er kann durchaus einsichtig sein, mit dem inneren Auge sehend und er kann offen für Veränderungen sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich durch die Einsicht des Einzelnen oder mehrerer Einzelner gleichsam das kollektive Gedächtnis der Muslime verändert. Dass dieses Gedächtnis so ist, wie es ist, hat gleichwohl nicht nur mit kulturellen und religiösen Gründen zu tun, sondern auch mit gesellschaftlichen, historischen und politischen. Doch um diese soll es hier zunächst nicht gehen.

Doch es ist verblüffend, wie ich meine, dass Millionen von Menschen weltweit die Serie des Kalifen im TV sehen oder von der Geschichte mit ihm und der Frau hören, ohne dass es einen Ruck durch die Masse gibt, welches ein Bewusstsein dafür schafft, dass etwas mit uns nicht in Ordnung sein könnte. Denn, wie ich bereits ausgeführt habe, muss man sich ganz klar die Frage stellen, welches der beiden Situationen die eigentlich Normale im Islam ist: unsere jetzige oder die in dem Beispiel Geschilderte. Und wenn es Letztere ist, so gibt es heute drei Hürden, die gemeistert werden müssen und die das kollektive Gedächtnis der Muslime nachhaltig verändern dürften:

  1. Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt. Dies führt jedoch zum Konflikt mit der überlieferten Tradition.
  2. Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen.
  3. Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens.

Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt

Wenn wir nun auf die erste Hürde näher eingehen und sich Geschichte und Tradition augenscheinlich widersprechen, stehen wir vor einem elementarem Problem im Verständnis dessen, was als islamisch im religiösen Sinne gilt. Weder waren wir Zeugen der Geschehnisse um Omar und die Frau im 7. Jahrhundert noch sind wir selbst die Begründer der religiösen Tradition, wie wir sie heute kennen. Und wenn ebendiese Tradition zweifellos hergibt, dass während der Predigt absolute Stille geboten ist, dann ist der Konflikt zwischen Geschichte und Tradition ein unlösbarer. Da ist es für den Einzelnen natürlich wesentlich einfacher, sich dem Druck der Tradition zu beugen und die Dinge so in die Hand zu nehmen, wie sie seit Generationen üblicherweise gehandhabt werden, als sich religiös und sozial zu isolieren, indem persönlichen Erkenntnissen der Vorzug gewährt werden. Denn Isolation wäre die unweigerliche Folge dessen, wenn man sich in der rituellen Praxis von der Tradition löst.

Wir sagten bereits, das kollektive Gedächtnis der Muslime ist um Dimensionen träger und uneinsichtiger als der einzelne Gläubige. Doch es wäre falsch, anzunehmen, dass es sich um ein genuin islamisches Problem handelt. Vielmehr ist es ein menschliches. Auf das kollektive Gedächtnis der Muslime, seine Struktur und seine Schwächen werde ich an anderer Stelle ausführlich eingehen.

Was meiner Meinung nach zum Konflikt zwischen jahrhundertealter Tradition und individuellen Erkenntnissen passt, ist das Gleichnis von Abraham und seinem Volk in Sure 21 (Verse 51 – 73). An dieser Stelle werde ich das Gleichnis in seinen für uns wichtigsten Punkten zusammenfassen:

Abraham wird als ein besonnener Mensch beschrieben, der die Schöpfung eingehend studierte und unerschütterliche, persönliche Einsichten gewann. Sie stützen auf Gott, dem Schöpfer der Welt, und auf Seine Schöpfung, in der Abraham einen fortlaufenden Wandel erkannte1. Seine Einsichten verliehen ihm Gewissheit und Mut, woraufhin er auf Konfrontationskurs mit seinem Volk ging, das einer dezidiert traditionellen Weltanschauung angehörte, indem es sich vorzugsweise an Größen der Vergangenheit orientierte. Dieser Konflikt mündete in der Entscheidung Abrahams, die Idole der Vergangenheit bis auf den Größten von ihnen zu zerstören. Abraham zur Rede stellend, verlangte sein Volk nach einer Erklärung, ob er der Schuldige war. Da verwies er auf jenen Größten. Doch war dieser aufgrund seiner Beschaffenheit zu keiner Erklärung fähig. Daraufhin wich das anfängliche Schuldbewusstsein des Volkes Abrahams der anschließenden Selbstentlarvung, dass die Idole der Vergangenheit zu keiner Erklärung im Hier und Jetzt fähig sind (nämlich was die Zerstörung der anderen Idole oder im übertragenen Sinne den von Abraham erkannten Wandel angeht, der keinen Platz in ihrer Tradition hat). Doch war diese Selbstentlarvung kein Startschuss für einen Paradigmenwechsel seitens des Volkes. Vielmehr versuchte man mit allen Mitteln, das Althergebrachte zu schützen und Abraham zu bestrafen, was sich schließlich als erfolglos herausstellte. Denn schlussendlich gehörten sie zu den „größten Verlierern“ (21:70).

Und spätestens jetzt sieht man: Dieses Gleichnis hat einen direkten Bezug auf uns Muslime im Hier und Jetzt. Wir müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein, wenn wir feststellen, dass wir Muslime in unserer heutigen Welt einen schweren Stand haben und in ähnlicher Weise zu den größten Verlierern gehören. Nicht nur, dass die islamische Religion aus ihrer jahrhundertealten Kultur- und Religionsgeschichte entrissen und zum Spielball globaler Mächte zweckentfremdet werden konnte, mit dem politische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden, die weit jenseits denen der Muslime liegen. Vielmehr leidet die Mehrheit der Muslime in der westlichen Gesellschaft unter einer erdrückenden Fremdwahrnehmung, die gleichsam aufgezwungen wie überholt scheint und der muslimischen Diaspora keine Möglichkeit eines grundlegenden, wahrnehmbaren Paradigmenwechsels gewährt.

Zugegeben, dass Muslime während der Predigt dazwischen reden dürfen sollen, ist allein keineswegs die Rettung der Muslime aus ihrer Misere. Genauso wenig ist es ratsam, die Tradition samt ihrer überaus gehaltvollen Geschichte einfach über Bord zu werfen, sodass bloße Wortspielereien übrig bleiben, die genauso wenig erfolgsversprechend sind, wie die einseitige Fixierung auf die religiöse Tradition. Was aber von grundlegender Bedeutung für uns Muslime ist, gründet in der Tatsache, dass wir zeit unseres Lebens dem Konflikt zwischen individuellen Erkenntnissen und überlieferter Tradition ausgesetzt sein werden, das uns permanent eine Entscheidung abverlangt – eine Entscheidung, die wir selbst im besten Wissen und Gewissen basierend auf unserer Willensfreiheit im Hier und Jetzt treffen müssen. Und in der Fähigkeit, die Dinge so zu priorisieren, wie wir es für richtig und wichtig erachten, liegt meines Erachtens nach unser Heil. Das erfordert Mut, Gewissheit und ein gewisses Maß an Unerschütterlichkeit hinsichtlich der eigenen Überzeugungen, die uns dazu befähigen, unsere Tradition aus der Vogelperspektive zu betrachten und zu erkennen, dass außerhalb der hohen Mauern der Tradition eine Menge grüne Fläche für uns ist, welche wir nutzen können.

Denn das, was die zerstörten Idole im Gleichnis Abrahams symbolisieren, sind einzelne Elemente aus unserer islamischen Tradition, die bei näherem Blick widersprüchlich erscheinen und Fragen aufwerfen, wie es z.B. die Geschichte um die Frau und den Kalifen Omar bereits tat. Es gibt viele weitere Beispiele hierfür, wie etwas das Verbot von Meeresfrüchten ausschließlich für Anhänger einer bestimmten Rechtsschule oder die Existenz mehrerer Überlieferungen zu ein- und demselben Ereignis mit unterschiedlichen, ideologienbefeuernden Wortlauten. Was hat es dann mit dem Größten auf sich, der unversehrt blieb?

Das ist eine grundlegende Frage, die sich jeder von uns stellen muss: Wer ist in unserer eigenen Historie derjenige, der die Grundlage für unsere religiöse Tradition geschaffen hat, wie wir sie heute seit Generationen vererbt bekommen haben? Asch-Schāfiī mit seiner Aussage, der Prophet habe zwei Offenbarungen (nämlich Koran und Sunna) erhalten, basierend auf Sure 53 Vers 3: „und er redet nicht aus eigener Neigung.“? Oder Buchārī, der nach den strengsten Kriterien aus 600.000 Überlieferungen 2800 (ohne Wiederholungen) als Grundlage für die islamische Rechtswissenschaft, den sog. fiqh, ausgesucht haben soll? Wenn dem so ist, wo ist dann z.B. Hadith Nr. 278 in Buchārīs Sammlung einzuordnen? Doch ganz gleich, ob es Asch-Schāfiī oder Buchārī ist, sind konkrete Namen zweitrangig. Denn egal, wer es ist: Kann einer von denen uns im Hier und Jetzt helfen und uns eine Antwort darauf geben, warum die Geschichte etwas anderes hergibt, als es die Tradition vorschreibt? Oder auf die Frage, aus welchen 600.000 Überlieferungen gerade diese 2800 ausgesucht wurden und nach welchen Kriterien? Oder wie Asch-Schāfiī darauf kommt, dass der Prophet zwei Offenbarungen erhalten habe, und wie seine Koranhermeneutik aussieht? Das sind alles Erklärungen, die uns im Hier und Jetzt fehlen. Wir Muslime müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein und müssen konstatieren, dass die Probleme, in denen wir uns heutzutage befinden, bis zu einem gewissen Grad hausgemacht sind. Und es ist diese offene Kritik, die wir Muslime annehmen müssen und die ein Anlass dafür sein soll, unsere religiösen Regeln neu zu definieren, auf dass wir bald zu einer ähnlichen Selbstverständlichkeit und Entschlossenheit gelangen, die auch die Frau im Beispiel Omars in sich trug. Denn das, was die Frau und Abraham gemeinsam haben, sind unerschütterliche, persönliche Einsichten.

Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen

Die Gesundheit einer Gesellschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, wie es um das Thema Geschlechtergerechtigkeit geht. Auch hier möchte ich nicht an bestehende, öffentliche Debatten anknüpfen, die den Islam per se als frauenfeindlich abzustufen versuchen o.Ä. In Wahrheit geht es mir hier noch einmal in Anlehnung an der von mir angeführten zweiten Hürde um eine Gegenüberstellung der Frau im Beispiel mit dem Kalifen Omar und der Frau, deren Vorgaben zur Teilnahme an Freitagspredigten in der Tradition streng reglementiert sind. Streng nicht nur, weil es die traditionelle, islamische Rechtslage doppelt und dreifach vorschreibt durch Heranführung von Überlieferungen des Propheten und von Konsensbeschlüssen, die von irgendwelchen Muslimen irgendwann getroffen wurden. Streng auch, weil der kulturelle (und ich sage bewusst nicht religiös!!) Druck seitens der traditionell orientierten Muslime heutzutage immens ist, wenn man auch nur im Ansatz versucht, an diesen Grundpfeilern zu rütteln. Nochmal: Hier geht es noch gar nicht darum, dass Frauen und Männer gemischt zusammen beten oder dass Frauen predigen sollen, sondern „nur“ dass Männer und Frauen gemeinsam in einem Raum an der Predigt in der Moschee teilhaben dürfen sollen. Warum ist dies so wichtig?

Einfach, weil es ein Gebot des Respekts, der Wertschätzung und der Würdigung gegenüber der Frau ist, der gleichermaßen das Recht zur Teilhabe an der Freitagspredigt gewährt werden muss, wie der Mann sie für sich als natürlich gegeben gewusst haben will, was der bekannten Aussage „Im Islam sind die Rechte von Mann und Frau gesichert!“ meines Erachtens nach den wahren Inhalt gibt. Frauen sind heutzutage Doktoren und Nobelpreisträger geworden, führen Kinderarztpraxen und leiten internationale humanitäre Organisationen und sie soll genau dann an Wert einbüßen, wenn sie erst am Hinterhof vom Hinterhof ihre eigene, 1,5 m hohe Eingangstür zur Moschee findet und 200 Treppenstufen runterläuft, bis sie ihren als Gebetsraum getarnten, miefigen Zimmer im Keller ohne Heizung oder Warmwasser findet, um dort zu beten und die Predigten zu hören? Nur um dann die Worte eines selbsternannten Imams namens bin Asyl zu hören, der in Saudi-Arabien an 20 Sitzungen teilnahm und so den „Islam“ gelernt haben will? Mit den Inhalten solcher Predigten werde ich mich ohnehin bei der dritten Hürde auseinandersetzen.

Und selbst wenn sich die Muslime irgendwann dazu durchringen sollten und den Teilnehmenden ermöglichen, während der Freitagspredigt ihren eigenen Input zu liefern, was ist mit den Frauen? Schreiben sie ihr Anliegen auf einem Zettel und lassen kleine Kinder als Mittler hin und her laufen? Oder kramt man aus dem Keller des Kellers ein seit 10 Jahren vergessenes Steckmikrofon heraus, welches sich nur zur Hälfte reinigen lässt, durch den die Frau dann in geboten leiser Stimme spricht und beim Empfänger nur Kauderwelsch ankommt? Der Wert der Frau in der Moschee ist weit mehr als nur der Zettel, auf dem irgendwelche Worte stehen, mehr als das Kauderwelsch, das aus dem Lautsprecher tönt, und mehr als der Raum, in dem sie sich befinden. Das, was viele Frauen auf dieser Welt an Würde, Standhaftigkeit und Barmherzigkeit gegenüber ihren heimlichen wie offenen Peinigern haben, ist um ein Vielfaches höher, als noch mehr muslimische Männer jemals haben werden. Mit dieser gefährlichen, einer Farce gleichenden Selbsttäuschung muss endlich Schluss sein! Da brauchen wir auch keine Feinde, die den Islam als rückständig abstempeln.

Diese meine Worte lesen sich an dieser Stelle sicherlich emotional und konfrontativ. Doch nur so, denke ich, kann endlich ein Bewusstsein für diese Misere geschaffen werden, in der wir wie in Treibsand gefangen sind. Daher halte ich dieses Problem für genauso wichtig und fundamental und dessen Folgen für unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung für genauso fatal wie der vorher beschriebene Konflikt zwischen Geschichte und Tradition.

Was die Frau in Bezug auf Freitagspredigten angeht, soll es in der Tradition eine Überlieferung geben, die besagt, dass die Pflicht zur Teilnahme an Freitagspredigten für fünf nicht vorgeschrieben sei: Die Frau, das Kind, den Kranken, den Reisenden und den Sklaven2. Andere Überlieferungen legen den Frauen nahe, lieber im eigenen Zimmer anstatt sonst irgendwo zuhause und lieber irgendwo zuhause anstatt in der Moschee der Gemeinde zu beten. Doch noch schlimmer als diese Behauptungen – so muss ich sie in aller Deutlichkeit benennen, denn ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, dass der Prophet Mohammed etwas in der Art gesagt haben soll – ist die omnipräsente Scheu vor Vermischung von Männern und Frauen in der muslimischen Community, die seltsamerweise nur dann zum Tragen kommt, wenn es in Richtung Moschee zum Gebet geht. Aber auch nur dann! Keine sonstige Veranstaltung und sei sie noch so religiös bzw. islamisch gibt Anlass genug, verstärkt auf die Geschlechtertrennung zu achten, wie es beim Beten oder bei der Freitagsgebet der Fall ist (Randgruppen ausgenommen).

Doch bleiben wir weiterhin bei der Predigt. Ein beliebtes Totschlagargument ist der Punkt mit der Ablenkung. Man könne sich nicht auf das Wesentliche, also auf den Inhalt, konzentrieren, wenn beide Geschlechter im selben Raum einer Predigt zuhören. Damit sind wir wieder beim Thema Selbsttäuschung. Warum sollte man sich als nüchterner, vernünftig denkender Mensch – und das kann jedem unterstellt werden, der sich aus freien Stücken zur Moschee begibt – genau dann ablenken lassen, wenn man sich zur Moschee begibt, um sich eine Predigt anzuhören, woraus man Nutzen zieht? Was ist mit der Ablenkung in den Vorlesungssälen und in den Laboren? In den Rathäusern und den Bibliotheken? Was ist mit den Konsumhöllen unserer Hemisphäre? Den schleichenden Indoktrinationen und den erbarmungslosen Teilenden und Herrschenden? Und außerdem: Was ist das für ein Menschenbild, das wir als islamisch propagieren? Und wo war die Ablenkung zur Zeit der zwischenredenden Frau und des Kalifen Omar in unserem Beispiel? Dieser Konformismus tötet. Wacht auf!

Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens

10.02.2023: Erste Freitagspredigt (Gedächtnisprotokoll) nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei mit Zehntausenden Opfern und noch mehr Verletzten:

„O ihr edlen Geschwister! Schwer getroffen hat das Erdbeben unsere Geschwister in der Türkei und Syrien und hat eine hohe Zahl an Toten und Verletzten gefordert. (…) Liebe Geschwister! Ihr müsst wissen, dass dieses Erdbeben nur eine Strafe für unsere Sünden sein kann. Sünden, die wir tagtäglich begehen, die wir nicht mal mehr registrieren und gering schätzen, wobei sie bei Gott fürwahr schlimm sind! Frauen, die keinen Kopftuch mehr tragen. Und selbst wenn sie sie tragen, dann nicht nach den Regeln der Sunna (…).“

Es sind Worte, die die perfekte Steilvorlage für die Erklärung der dritten Hürde liefern. Denn der obige Auszug aus der Freitagspredigt ist alles andere als ein Beweis dafür, dass die Frau dem Mann als ebenbürtig erachtet wird. Zumal es sich um einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen den universellen Grundsatz im Koran „Keine Seele trägt die Last eines anderen!“ darstellt, das die Opfer, insbesondere Kinder, sowie alle (Nicht-)Kopftuchträgerinnen auf der Welt auf schreckliche Weise verhöhnt, wenn sich ein selbst ernannter Imam dazu erdreistet, im Namen der Muslime ein solches Urteil über das Schicksal Tausender Menschen zu fällen, während er selbst danach das Gebet leitet im Aberglauben, Gott vergebe die Sünden seiner Diener von diesem Freitag bis zum nächsten – eine Überlieferung und gleichzeitig ein Freibrief für alles, was „nicht so gemeint“ bzw. „unabsichtlich“ gewesen sei. Wenn dem so sei und die Überlieferung stimmen sollte: Hat Gott nicht die Sünden all jener Männer und Frauen vergeben, die bei der letzten Freitagspredigt (in dem Fall ganz konkret vom 03.02.2023) dabei waren? Und wenn das Erdbeben eine Strafe wegen dieser angeblichen Vergehen sein soll, warum geschah es dann in der Türkei und Syrien mit einem höheren Anteil kopftuchtragender Frauen als in Deutschland bspw.? Hätten wir hier nicht viel mehr das Erdbeben „verdient“ nach dieser Logik? Und vor allem: Warum müssen Kinder dafür büßen?

Sicherlich kann sich jeder mit gesundem Menschenverstand wesentlich mehr über diese Aussagen des Imams über die angeblichen Ursachen für das Erdbeben auslassen. Doch hier tritt offensichtlich das zum Vorschein, woran die muslimische Community krankt: die anhaltende und übertriebene Fixierung auf eine Tradition, die gemessen an ihren Werten und Grundsätzen längst nicht mehr den eigentlichen Bedürfnissen der Muslime von heute überall auf der Welt entspricht und gleichsam einen idealen Nährboden für jene narzisstischen, rückständigen, realitätsfremden, patriarchalischen, dreisten, selbstverherrlichenden und frauenfeindlichen Äußerungen, wie der obigen, liefern. Solche Äußerungen sind keine Seltenheit. Denn die Tradition produziert im Prinzip nichts anderes als fatalistische Nachplapperer, denen die Fähigkeit, frei und eigenständig zu denken, abgewöhnt wird. Solche Äußerungen spiegeln eine Haltung wider, die stillschweigend von vielen Muslimen angenommen wird und die mithilfe der Tradition eine Parallelwelt erzeugt, die mit den tatsächlichen Lebensbedingungen der Wirklichkeit nur wenig übereinstimmt.

Ausnahmen bestätigen die Regel und es mag sicherlich den einen oder anderen geben, der zwar der Tradition als solches folgt, sich aber bewusst mit ihr auseinander setzt und einen zeitgemäßen Glauben zu etablieren versucht. Trotzdem müssen jene trotz ihrer aufstrebenden Anzahl als Randerscheinung gelten, denn sie verändern das kollektive Gedächtnis der Muslime bis dato nur in einem sehr geringen Ausmaß. Und damit wurde das Zauberwort der Heilung nach meinem Dafürhalten genannt: Veränderung.

Es braucht eine tiefgreifende, paradigmatische Veränderung im kollektiven Gedächtnis der Muslime, die es ermöglicht, den Fokus auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Muslime – ganz gleich, ob als Individuum, in der Gemeinschaft oder in der Gesellschaft – zu lenken und die erdrückende Last der Tradition zu überwinden. Diese Veränderung besteht meines Erachtens darin, die gesamte Tradition, das kulturelle Erbe der Muslime, in ihrem historischen Entstehungskontext zu setzen und ihr den religiös-konstitutiven Anspruch zu entziehen. Alle vermeintlichen Anweisungen aus dieser Tradition entstanden aus einer Zeit, deren Maßstäbe nicht denen unserer Zeit entsprechen können. Und wie wir bei der ersten Hürde gesehen haben, ist der Konflikt zwischen Tradition und Geschichte ein unüberwindbarer, wenn an Ersterer mit allen Mitteln festgehalten wird.

Nun mag man einwenden, wenn die Tradition als religiöse Quelle aufgegeben wird, verlieren wir unsere muslimische Identität. Nein! Wir verlieren eine Identität, die andere Menschen vor etwa 1300 Jahren für uns gezeichnet haben. Diese ist jedoch nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen dagegen unsere muslimische Identität neu entdecken, indem wir ganz genau in uns hineinhorchen und erfühlen, was unsere geheimsten Wünsche und Ziele als ehrliche, gottgläubige Muslime sind. Nur so kommen wir aus unserem Schlamassel raus. Die Tradition zu historisieren, bedeutet auch nicht zwangsläufig, die rituelle Praxis aufzugeben. Es geht dabei vorrangig um unseren Platz als Muslime in Kultur und Gesellschaft. Und nur so sind wir dazu in der Lage, jene frauenfeindlichen, narzisstischen und rückständigen Elemente hinter uns zu lassen und die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann zu erreichen. Denn die Tradition ist durchsät von Grundsätzen einer vormodernen, patriarchalischen, erneuerungsresistenten und rückwärtsgewandten Geisteshaltung.

Veränderung als Ausweg

Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Herbeiführen einer Veränderung die schwierigste Herausforderung ist, der man sich stellen kann. Auch hinterlässt uns die Aufgabe der Tradition ein großes, religiöses Vakuum, das es mit neuen Inhalten zu füllen gilt – Inhalte, die in einem innermuslimischen, ergebnisoffenen Diskurs besprochen werden müssen und die die wichtigen Themen unserer Zeit repräsentieren. An diesem Diskurs muss jeder – ob Mann oder Frau – beteiligt sein dürfen, dem die Zukunft der muslimischen Community am Herzen liegt. Eine solche Veränderung ist absolut notwendig und von grundlegender Bedeutung. Der erste Schritt wäre, wenn alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, wozu auch die Freitagspredigt zählt, dafür aufgewendet werden, unsere wirklichen Bedürfnisse als Mitglieder der muslimischen Community zu identifizieren und zu erfüllen. Dazu braucht es vor allem Mut und eine starke Persönlichkeit. Ähnlich wie sie die Frau in der Geschichte um den Kalifen Omar hatte. Spätestens dann, wenn kopftuchtragende Frauen für Erdbebenkatastrophen verantwortlich gemacht werden, muss es genauso Leute geben, die während der Predigt aufstehen und sagen: „Nein! Das akzeptiere ich als gottgläubiger Muslim nicht! Im Koran steht, dass keine Seele die Last eines anderen trägt!“. Das muss das neue „normal“ werden! Indem die drei Hürden überwunden werden und das Primat des überzeugendsten Arguments gemäß dem gesunden Menschenverstand herrscht. Was es braucht, sind Pioniere, die mit gutem Beispiel vorangehen und die Grenzen des Üblichen sprengen. In diesem Sinne: Lasst uns alle ein Beispiel an der Frau in Omars Geschichte nehmen!

Fußnoten:

1 vgl. auch Sure 6 Verse 74 – 79

2 https://www.islamweb.net/amp/ar/library/index.php…. Hier der entsprechende Konsensbeschluss: https://dorar.net/feqhia/1592/المطلب-الأول-من-لا-تجب-عليهم-الجمعة.

Gibt es den Segen auf den Propheten saw oder sas im Islam bzw. im Koran?

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Satan,
Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen

Frieden sei mit uns allen, liebe Geschwister und Freunde, und Gottes Segen und Seine allumfassende Barmherzigkeit!

 

35:10 … Zu Ihm steigt das gute Wort, und (erst) die rechtschaffene Tat lässt es aufsteigen! …

 

Dieser Beitrag wird weh tun, ja sehr weh tun und schwer zu verdauen sein für jene, die ihr Leben lang nur die Tradition und die Lesung (deutsch für „Koran“, arabisch: al-qurʾān) nur wenig oder oberflächlich und über Lippenbekenntnisse und weniger über Taten kannten. Wenn Sie zu dieser Sorte von Menschen gehören, die lieber ihre Tradition aufrecht erhalten möchten als zu erfahren, was in der Lesung (Koran) wirklich steht, dann können Sie gleich aufhören zu lesen. Wenn Sie lieber ihre Vorfahren, Vorväter, den Imam in Ihrer Moschee, Ihr soziales Umfeld zufrieden stellen und Ihre Illusion über Ihr eigenes Selbst schützen wollen, dann wird dieser Artikel wie eine versalzene Suppe daherkommen, in dem jedes Wort schwer durch Ihren Hals geht und im Magen dann erst so richtig säuert. Wenn Sie zudem den Propheten Mohammed auf unrealistische Weise als einen fehlerlosen Supermenschen betrachten, aufgrund dessen die gesamte Schöpfung erschaffen sei laut einem erfundenen Ausspruch (Ḥadīṯ), und ihn als das beste Geschöpf unter den Geschöpfen betrachten, dann werden Sie zu denen gehören, die uns damit zu Unrecht beschuldigen, dass wir den Propheten hassen würden, weil wir ihn so darstellen, wie er wirklich war: ein fehlerbehafteter Mensch, der aufgrund seiner Tugenden und seines Charakters einschließlich seiner Fehler dennoch als schönes (nicht schönstes!) Vorbild für uns gilt. Aufgrund seiner Fehler wissen wir, was wir nicht wiederholen sollten und aufgrund seiner Tugenden, die in der Lesung selbst beschrieben werden, können wir uns im Verrichten heilvoller und guter Taten üben.

Gehören Sie aber zu jenen wenigen Menschen, die wirklich interessiert sind an dem, was Gott in der Lesung mitteilt, dann wird dieser Artikel eine willkommene Erfrischung für Ihren Geist darstellen und Sie werden eventuell das Rezept der Suppe sogar zu verfeinern wissen. Aufklärerisch eingestellte Menschen werden so erfahren, was in ihrer bisherigen Betrachtung auf unreflektierter Tradition fußte. Gleichzeitig werden sie diesen Artikel auch hinterfragen und nichts ungeprüft hinnehmen, da dieses Prinzip der Aufklärung in der Lesung selbst verankert ist (17:36). Diese im Geiste vernünftig denkenden Menschen werden die hier vorgestellten Erkenntnisse weder vorschnell abweisen noch sich auf die Tradition berufen, weil sie sehr gut wissen, dass das Wort Gottes in der Lesung dieses Verhalten ablehnt (2:44, 10:100, 8:22, 10:38-39, 2:170, 23:24, 7:70, 11:62, 11:87, 26:74, 28:36, 34:43).

 

2:170 Und wenn ihnen gesagt wird: Folgt dem, was Gott herabsandte. Dann sagen sie: Vielmehr folgen wir dem, was wir bei unseren Vätern vorfanden. Auch dann, wenn ihre Väter weder etwas verstanden noch Rechtleitung fanden?

 

In Bezug auf die Botschaft Gottes dürfen wir uns also nicht blind auf unsere Vorväter verlassen, sondern müssen die Argumente und die Verse genau untersuchen und den Sachverhalt genau abwägen. Betrachten wir nun den sogenannten Segensspruch oder die Eulogie SAW oder SAS im Islam (auf Deutsch: Gottergebenheit). Diese Abkürzung kommt auch in den Varianten SAWS, SAAWS oder einfach nur als S vor. Ausgeschrieben wird diese traditionelle Eulogie, auf Arabisch auch als taṣliyyah (تصلية‎) bekannt, transliteriert als ṣallā ‚llāhu ʿalayhi wa-sallam (in salopper Form auch salla Allahu alayhi wa salam) und bedeutet sinngemäß nach heute geläufigem Verständnis der Worte: Möge Gott ihn segnen und Frieden/Heil geben.

Fest steht, dass dieser Spruch schon sehr lange vorhanden war, wie dies an der Inschrift am Felsendom ersichtlich ist. Dieser Spruch wird meist aufgrund des folgenden Verses 33:56 begründet, der auch am Felsendom zitiert wird. Leider wurde und wird dieser Vers in seiner Bedeutung katastrophal verzerrt und in einem in sich unschlüssigen Verständnis wiedergegeben, wie man unschwer an den gängigen Übersetzungen erkennen kann:

 

إن الله وملئكته يصلون على النبى يأيها الذين ءامنوا صلوا عليه وسلموا تسليما

(Transliteration) ‚Inna Allāha Wa Malā’ikatahu Yuṣallūna ʿAlá An-Nabīyi Yā ‚Ayyuhā Al-Laḏīna ‚Āmanū ṣallū ʿAlayhi Wa Sallimū Taslīmāan
(Khoury) Gott und seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. O ihr, die ihr glaubt, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn mit gehörigem Gruß.
(Azhar) Gott nimmt den Propheten in Seine Barmherzigkeit auf und erweist ihm Seine Huld, und Seine Engel sprechen den Segen über ihn. Ihr Gläubigen, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn, wie es sich ziemt!
(Ahmadiyya) Allah sendet Segnungen auf den Propheten und Seine Engel beten für ihn. O die ihr glaubt, betet (auch) ihr für ihn und wünschet ihm Frieden mit aller Ehrerbietung.
(Paret) Gott und seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. Ihr Gläubigen! Sprecht (auch ihr) den Segen über ihn und grüßt (ihn)
(Bubenheim) Gewiß, Allah und Seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. O die ihr glaubt, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn mit gehörigem Gruß.
(Rassoul) Wahrlich, Allah sendet Segnungen auf den Propheten, und Seine Engel bitten darum für ihn. O ihr, die ihr glaubt, bittet (auch) ihr für ihn und wünscht ihm Frieden.
(Zaidan) Gewiß, ALLAH gewährt dem Propheten Gnade und die Engel erbitten sie für ihn. Ihr, die den Iman verinnerlicht habt! Macht für ihn Salah und begrüßt (ihn mit) einer Salam-Begrüßung!

 

Die rot markierten Stellen gibt es im arabischen Wortlaut nicht. Die schwarzen Stellen sind Interpretationen der Übersetzer der fett markierten Ausdrücke aus der Transliteration. Betrachten wir einmal die einzelnen Worte aus diesem Vers, ohne die fett markierten Stellen aus der Transliteration zu übersetzen, da sie der Gegegenstand unserer Betrachtung sind:

‚Inna
Allāha
Wa Malā’ikatahu
Yuşallūna ʿAlá
An-Nabīyi
Yā ‚Ayyuhā
Al-Ladhīna
‚Āmanū
Şallū `Alayhi
Wa Sallimū
Taslīmāan
Gewiss, Wahrlich, Sicherlich
der Gott
und Seine Engel
Yuşallūna über
den Propheten
O ihr
diejenigen
glaubten
Şallū über ihn
und Sallimū
Taslīmāan

 

Wir sehen also alleine aufgrund der Verwendung der Worte, dass es sich hierbei um einen Aufruf handelt, etwas Konkretes zu tun. Dies ist bereits der erste klare Unterschied zur Aufforderung etwas auszusprechen. Hier steht nirgends etwas Ähnliches wie: Sagt (Qūlū)… Vielmehr müssen wir Ṣalāh ausüben auf den Propheten.

Dadurch, dass sich die Menschen in der Tradition darauf festlegten, diesen Vers in mündlicher Form in der bekannten Form wiederzugeben, haben sie sich selbst gerade das Bein gestellt. Statt dass sie dem Aufruf Gottes folgen, Ṣalāh zu üben auf den Propheten in Form einer konkreten Handlung und Tat, sagen sie vielmehr sinngemäß: Nein, Gott, wir machen kein Ṣalāh auf den Propheten, (vielmehr) mache Du Ṣalāh auf den Propheten. Dies ist die direkte Bedeutung des auch sehr oft verwendeten Ausdrucks Allahumma Salli ‚alâ Muhammad, wie er beispielsweise auch in der sogenannten At-Taḥiyyatu vorkommt, in dem nahezu Lobgesänge auf Abraham und Muhammad vorkommen und dem Wesen des Monotheismus (tawḥīd) deutlich widersprechen. Nicht die Propheten stehen im Fokus, sondern vielmehr Gott. Die Gebete gelten nur für Gott und deshalb dürfen wir diesen falschen Gebetsspruch nicht äußern, auch weil wir keine Unterschiede unter den Gesandten machen dürfen. Statt dass wir den Ṣalāh ausüben, fordern wir Gott auf, diesen doch auszuüben!

Stellen Sie sich einmal vor, wie Sie einen Freund auffordern, der neben dem Fenster steht: Schließe bitte das Fenster! Und als Reaktion wird nicht das Fenster geschlossen, sondern gesagt: Schließe du das Fenster! Dieselbe Logik ist in diesem Ausspruch enthalten. Da Arabisch traditionell gesehen aber zu heilig ist zum Verstehen, fällt dies einem auch erst gar nicht auf. Wir müssen wieder damit beginnen, die Lesung (Koran) zu verstehen.

Menschen greifen verzweifelt nach einer Box: Die Verehrung des Propheten gegen seinen Willen

Menschen greifen verzweifelt nach einer Box, weil sie glauben, darin befänden sich die Haare des Propheten Muhammad: Der Ausdruck der falschen Verehrung des Propheten gegen seinen Willen

Viele Sunniten und Schiiten glauben, dass sie sogenannte Pluspunkte (Ḥasanāt) erhalten werden, alleine indem sie diese der Lesung (Koran) widersprechenden Segenssprüche wiederholen. Doch wir haben eingangs gelesen, dass nicht die Worte allein reichen, sondern vielmehr die rechtschaffenen Taten erst die Worte bestätigen und zu Gott aufsteigen (35:10). Wenn wir dabei noch den fünften Vers des ersten Kapitels aus der Lesung bedenken, dann wüssten wir, dass Gottes Botschaft alleine im Zentrum stehen soll. Somit ist der sogenannte traditionelle Segensspruch „sas im Islam“ als ein verzerrtes, falsches Verständnis abzulehnen. Der Irrglaube, hunderte Male diesen erfundenen, falschen Segensspruch auszusprechen (dazu noch Apps wie ‚Zikirmatik‘ runterladen oder noch schlimmer kaufen), schütze einen direkt vor der Hölle, wäre ja doch zu einfach gewesen! Dies ist der Zerfall der Religion schlechthin: Einfach sinnlos Aussagen wiederholen lassen, damit man ja nichts tun müsse. Das sprichwörtliche Opium des Volkes.

Dabei bedeutet „Zikir“ auch nicht, ständig „Allah, Allah, Allah, Allah,“ zu sagen, wie es die Sufis in ihrem Rausch tun. Ḏikr ist das Gedenken Gottes in sämtlichen Lebenslagen (33:41). Das Gedenken Gottes ist, wenn man beispielsweise vor der Wahl steht, das Geld, das irgendein Passant auf der Straße soeben verlor, ihm zurückzugeben, weil man die moralischen Prinzipien aus der Lesung befolgt und weiß, dass man rechtschaffen handeln muss (35:10) und dass wir uns nicht den materiellen Werten, sondern Gott allein hingeben müssen und gerade deshalb human handeln aus Liebe zu Gott (65:3, 39:36). Das Gedenken Gottes bedeutet also das Bewusstsein für Gottes Gegenwart zu entwickeln.

Ein weiterer Widerspruch ist der Umstand, dass Muhammad in der Lesung viermal erwähnt wird (3:144, 33:40, 47:2, 48:29), aber in keine dieser vier Stellen erwähnt Gott den angeblichen Segensspruch nach seinem Namen. Hier ließe sich fragen: Hat Gott etwa Seinen eigenen Segensspruch vergessen, selbst im selben Kapitel 16 Verse davor (33:40)?

Eine weitere Ungereimtheit ist die Tatsache, dass das Wort „Segen“ auf Arabisch barakah lautet und nicht Ṣalāh. Das Wort „Segen“ kommt in der Lesung auch mehrmals vor (nur ein Beispiel: 19:31), weshalb diese Bedeutung eindeutig ausgeschlossen werden kann.

Darüber hinaus werden die Gläubigen dazu aufgefordert, die Namen der Gesandten aufzusagen (und diesmal wörtlich sagen), ohne dabei irgendwelche Beisätze auszusprechen:

 

2:136 Sagt: Wir glaubten an Gott und was zu uns herabgesandt wurde und was zu Abram, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen herabgesandt wurde und was Moses und Jesus zukam und was den Propheten zukam von ihrem Herrn. Wir unterscheiden zwischen keinem von ihnen und ihm sind wir ergeben (Siehe auch 3:84)

 

Was bedeutet nun Ṣalāh ausüben auf den Propheten? Gott und die Engel üben Ṣalāh auf den Propheten aus laut 33:56. Deshalb sollen wir das ebenso tun und dies ist ausdrücklich Gottes Wille. Ṣalāh bedeutet in diesem Zusammenhang eine Verbundenheit, eine Unterstützung und eine Hilfe aufzubauen.

Dies kommt daher, weil Ṣalāh im Wesentlichen Kontakt bedeutet. Die traditionelle Vorstellung und Verständnis des Wortes ist dermaßen verbreitet, dass selbst namhafte Philologen wie E. W. Lane unter Salāh nur die Glorifizierung verstanden haben. Nichtsdestotrotz ist die Grundbedeutung der Wurzel ṣad-lām-wāw (S-l-w) zu verbinden oder nahe zu folgen, wie an den Wörtern muṣallin (مصلٍ) oder islá (اصلى) vom vierten Verbstamm zu erkennen ist, womit die zweite Position zum Beispiel in einem Rennen beschrieben wird, weil man der ersten Position nachfolgt. Ebenso ist dies am Wort ṣalā (صلا – اصلى) zu erkennen, womit der mittlere Bereich des Rückens, das Rückgrat angedeutet wird (siehe J. G. Hava, Seite 396). Es gibt auch ein Verb (ṣalā/ṣalawā – صلا/صلوا), wie man jemanden berühren kann am Rücken (siehe auch das Glossar von Penrice, Seite 85, oder auf Französisch Kazimirski, Seite 1365). Alles in allem kann man damit also sagen, dass man das Rückgrat eines Anderen stärken und stützen möchte. Deshalb bedeutet in diesem Vers 33:56 Ṣalāh unterstützen. Deshalb bedeutet auch das Kontaktgebet (aṣ-ṣalāh) eben Kontaktgebet, weil wir in Verbindung mit Gott treten und unsere eigenen Seelen dadurch stärken und Gottes Unterstützung erhoffen. Nicht umsonst rezitieren wir dabei das erste Kapitel der Lesung, worin wir sagen: Dir allein dienen wir und Dich allein ersuchen wir um Hilfe!

Gott und die Engel sind mit dem Propheten verbunden, unterstützen ihn und helfen ihm. Wir sollen deshalb den Propheten ebenso unterstützen, ihm helfen und eine Verbundenheit zu ihm aufbauen. Wie können wir am besten diese Verbundenheit aufbauen? Indem wir naturgemäß der von ihm überlieferten Botschaft Gottes folgen und unseren Worten konkrete Taten folgen lassen! Dies beinhaltet beispielsweise die Bedürfnisse eines Bedürftigen in Erfahrung zu bringen, für Verbesserung zu sorgen in der Gesellschaft, gegen Ungerechtigkeiten die Stimme zu erheben, da wir nur Gott zu fürchten brauchen, und konkret etwas zu unternehmen! Wenn wir tatsächlich Ṣalāh ausübten auf den Propheten, also seine Botschaft, die er im Namen Gottes verkündete, unterstützen, umsetzen und zu ihr eine Verbindung aufbauen, dann hätten diktatorische Regimes erst gar keine Chance. Wir würden das bloße aussprechen und sinnlose Repetieren sein lassen und würden uns mit rechtschaffenen Taten beschäftigen.

 

2:157 Auf jenen sind Ṣalawāt von ihrem Herrn und Barmherzigkeit und jene sind die Rechtgeleiteten

 

Wir sehen also, dass nicht nur der Prophet diese Unterstützung (Ṣalāh), diese Verbundenheit von Gott erhält, sondern genauso die Menschen, die rechtschaffen handeln. Gute Menschen werden von Gott unterstützt.

 

33:43 Er ist es, der euch unterstützt (Ṣalāh ausübt), und auch seine Engel, damit Er euch aus den Finsternissen ins Licht hinausführt. Und Er ist barmherzig zu den Gläubigen.

 

Sich gegenseitig zu unterstützen bedeutet, mit Gottes Hilfe Auswege aus schwierigen Zeiten und Umständen zu bieten. In diesem Vers wird nochmal deutlich, was die semantische Bedeutung von Salāh ist: Durch die Hilfe, die Unterstützung für die und die Verbundenheit (die Liebe) Gottes und der Engel zu den Gläubigen, die durch ihre Taten Rechtschaffenheit beweisen, aus den Finsternissen ins Licht geführt werden.

Das letzte Verb sallam kann mehrere Bedeutungen wiedergeben. Ein Aspekt ist tatsächlich die Begrüßung und ein anderer die „Sicherheit und Unversehrtheit“. Hans Wehr überträgt dies als „Heil“. Dies, weil die Wurzel s-l-m, von der auch die Wörter Muslim (Gottergebener) und Islām (Gottergebenheit) abstammen, in der Grundbedeutung den Zustand der Unversehrtheit, Widerstandslosigkeit und Tadellosigkeit wiedergibt. Da der erste Teil ein Aufruf für die Unterstützung ist, sehen wir den letzten Teil des Verses 33:56 als Aufruf, für die gegenseitige Unversehrtheit, für das gegenseitige Heil in geistiger und körperlicher Form zu sorgen. Mit all diesen Informationen lässt sich der Vers also sinngemäß genauer wie folgt übersetzen:

 

33:56 Gewiss, Gott und Seine Engel unterstützen den Propheten. O ihr, die ihr glaubtet, unterstützt ihn und sichert in Absicherung

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 4 – Buch und Weisheit: Eine Einheit

3:81 Und als Gott den Bund der Propheten annahm für das, was ich euch an Schrift und Weisheit brachte, kam darauf zu euch ein Gesandter, das bestätigend, was mit euch ist. So glaubt an ihn und helft ihm. Er sagte: Habt ihr zugestimmt und diesbezüglich meine Bürde angenommen? Sie sagten: Wir haben zugestimmt. Er sagte: So bezeugt und ich bin mit euch unter den Bezeugenden

 

Es ist leider so, dass ein erheblicher Großteil der Sunniten und Schiiten glaubt, dass einerseits mit „Schrift“ das Buch, also die Lesung selbst gemeint sei, andererseits die Weisheit etwas anderes sei, was wir erst durch die Aussprüche in den Ḥadīṯ-Büchern erfahren könnten. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn hier begründet sich die theologische Argumentation vieler klassisch-orthodoxer Sunniten oder Schiiten und ihren Anhängern, die damit der Tradition Gewicht verleihen möchten. Diese Tradition beinhaltet unter anderem auch die Steinigung, die Apostasie-Strafe für Abfällige von der Religion, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frau und viele weitere Abscheulichkeiten. Deshalb müssen wir diesem Missbrauch der Verse aus der Lesung Einhalt gebieten.

Dass diese Idee, die Weisheit sei in der traditionellen Sunna, auf einem Fehlverständnis der Lesung beruht, werde ich im Anschluss gleich zeigen. Leider hat dies alles damit angefangen, dass ein mittelalterlicher Gelehrter, nämlich Asch-Schāfiʿī meinte, er müsse die auf Vermutungen, Lügen und Hörensagen begründeten Überlieferungen zu einer Offenbarung (waḥiy) erheben, um so der angeblich prophetischen Sunna Legitimität zuschreiben zu können. Diese Leute des Hadīṯ (ahlu-l-ḥadīṯ) waren dermaßen überzeugt von ihrer eigenen Ansicht und sehr aggressiv, dass sie diese Überlieferungen, welche dem Propheten angedichtet wurden, faktisch höher ansahen als die Lesung selbst. Zumindest wurde die Lesung nicht als kategorisch epistemologisch erhabener als ihrer Meinung nach zuverlässige Aussprüche angesehen. Es wird von ihnen auch folgender Spruch überliefert:

 

جاءت السنة قاضية على الكتاب وليس الكتاب قاضياً على السنة

dschā’at as-sunnatu qāḍiyatan ʿalá al-kitābi wa laysa al-kitābu qādiyan ʿalá as-sunnah

Die Sunna kam als Richtende über das Buch (die Lesung) und nicht das Buch als Richtender über die Sunna.118

 

Natürlich werden die heutigen Gelehrten diesen Satz relativieren und sagen, dass damit gemeint sei, die angeblich prophetische Sunna sei dazu da, um eine Erklärung für die in der Lesung „nicht erklärten“ Verse anzubieten. Den ersten Fehler, den sie hierbei begehen: Sie nehmen an, das Buch Gottes hätte nicht bereits die Erklärung in sich für diese Verse (siehe 25:33). Den zweiten Fehler, den sie begehen: Die meisten Aussprüche, selbst wenn sie in der Überliefererkette (Isnad) und im Inhalt oder Text (Matn) beide als authentisch (ṣaḥīḥ) gelten, sind und bleiben immer eine Vermutung und Gottes Lebensordnung kann nicht auf Vermutungen begründet werden. Die Lesung wird nicht durch Vermutungen begründet, sondern durch sich selbst, indem wir Verse im Lichte anderer Verse betrachten.

Die Wurzel ḥā-kāf-mīm (ح ك م), von welcher das arabische Wort für Weisheit abgeleitet ist, beherbergt als Grundbedeutung die Idee der „Weisheit“. Sie kommt in der Lesung in 189 Versen insgesamt 210 Mal vor.119 Aus diesem Grunde werden für Wörter wie „Richter“ oder „Urteil“ Ableitungen dieser Wurzel verwendet, da beispielsweise eine ausgebildete Richterin ohne die eigenen Gefühle ins Zentrum zu stellen bedacht, vernünftig und gerecht Urteile fällen muss. In anderen Worten muss sie weise handeln. Die in der Lesung verwendeten Wortformen sind:

  • 45 Mal als ersten Verbstamm ḥakama (حَكَمَ): urteilen/richten
  • 30 Mal als das Verbalnomen des ersten Verbstammes ḥukm (حُكْم): Urteil
  • Fünfmal als aktives Partizip des ersten Verbstammes ḥākimīn (حَٰكِمِين): Urteilende/Richtende
  • Zweimal als zweiten Verbstamm yuḥakkimu (يُحَكِّمُ): Jemanden zum Richter ernennen
  • Einmal als das aktive Partizip des dritten Verbstammes ḥukkām (حُكَّام): (strafrechtlich) Verfolgender / die rechtlich Zuständigen / Richter
  • Zweimal als vierten Verbstamm uḥkimat (أُحْكِمَتْ): stärken, etwas klar machen
  • Zweimal als passives Partizip des vierten Verbstammes muḥkamāt (مُّحْكَمَٰت) und muḥkamah (مُّحْكَمَة): klar gemacht
  • Einmal als sechsten Verbstamm yataḥākamu (يتََحَاكَمُ): sich gegenseitig vor den Richter bringen, Urteil verlangen
  • Zweimal als die Steigerungsform oder als Elativ aḥkam (أَحْكَم): weiser als / weisest. In der Lesung nominal verwendet als „der Weiseste“ (95:8)
  • Dreimal als das Nomen ḥakam (حَكَم): Schiedsrichter/Vermittler
  • 20 Mal als das Nomen ḥikma (حِكْمَة): Weisheit
  • 97 Mal als das Adjektiv bzw. das Nominal ḥakīm (حَكِيم): weise / der Weise

Wir werden in den nächsten Abschnitten sehen, dass in Tat und Wahrheit die Weisheit und das Buch eine Einheit bilden, die Weisheit also der Lesung innewohnt.

Es gibt viele Arten, wie diese Wurzel in der Lesung verwendet wird. Eins ist aber immer klar: Die Weisheit ist stets Gott und Seiner Offenbarung zu verdanken und die einzige Quelle der Weisheit ist Gott mit Seinem Wort und Wirken.

Wenn wir uns mit der Frage befassen, wie der Prophet urteilte und warum man in der Gottergebenheit nur mit der Offenbarung urteilen darf, so lesen wir:

 

5:48 Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So urteile (uḥkum) zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist.

 

Hier ist es eindeutig, dass nur nach der Offenbarung zu urteilen erlaubt ist, dass es demnach nur eine Sunna geben kann, nämlich Gottes Sunna. Der Prophet urteilte also nach der Lesung (vgl. auch 7:203) und zwar nur nach dieser. Daraus können wir schließen, dass auch alle vorherigen abrahamitischen Religionen nach ihren jeweiligen Büchern zu urteilen hatten, denn laut der Lesung ist die Gottergebenheit keine neue Religion, sondern die Bestätigung der vorangegangenen Bücher. Bereits Abraham nannte sich und seine Mitgläubigen Gottergebene (22:78).

 

3:79–80 Nicht gebührt es einem Menschen, dass Gott ihm die Schrift, die Weisung (al-ḥukm) und die Prophetie zukommen lässt, und der danach zu den Leuten sagt: Seid mir Diener anstelle Gottes. Sondern: Seid ein Vorbild dabei, wie ihr die Schrift zu lehren und wie ihr zu studieren pflegtet. Und nicht befiehlt er euch, dass ihr die Engel und die Propheten als Herren nehmt. Befiehlt er euch etwa das Ableugnen, nachdem ihr Ergebene seid

 

Wir erinnern uns daran, dass ein „und“ in der Lesung nicht zwangsläufig bedeutet, dass hierbei unterschiedliche Einheiten in einer Aufzählung gemeint wären. Vielmehr sehen wir in diesem Vers auf deutliche Art und Weise, dass sie miteinander eng verbunden sind. Die Prophetie besteht darin, das Buch Gottes als Offenbarung zu erhalten und die darin innewohnende Weisheit den Menschen zu verkünden.

Die Verse 3:79–80 sind auch eine eindeutige Ansage, sich die Propheten nicht zu Herren zu nehmen und sich ganz auf Gott und Sein Wort zu konzentrieren – geradeaus direkt mit Gott die Verbindung aufzubauen, ohne Nebenwege einzuschlagen in religiösen Belangen! Sollten andere ins Zentrum gestellt werden, wo Gott doch die Quelle allen Heils ist? Würde Gott uns die Beigesellung und Ableugnung anordnen? Die einzige Autorität ist und bleibt Gott:

 

42:10 Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil (al-ḥukm) darüber steht Gott zu. Dies ist doch Gott, mein Herr. Auf Ihn verlasse ich mich, und Ihm wende ich mich reuig zu.

 

Auch hier sehen wir wie eben dargelegt, dass das Urteil bei Uneinigkeiten in religiösen Dingen Gott allein obliegt, dass sich der Prophet nur auf Gott verlässt und sich Ihm in Reue zuwendet – sich also ganz auf Ihn einstellt. Ist nicht dies der Monotheismus in seiner schönsten Weise, von unseren Propheten vorgelebt? So folgen wir seinem prophetischen Beispiel und verlassen uns allein auf Gott.

 

4:105 Gewiss, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest (litaḥkuma) auf Grund dessen, was Gott dir gezeigt hat. Sei kein Verfechter für die Verräter!

 

Gott gibt also dem Propheten das Buch, damit er zwischen den Menschen richte. Der Satzteil „was Gott dir gezeigt hat“ bezieht sich auf die in der Lesung vorhandenen moralischen, ethischen wie auch sozialen Prinzipien, die gemäß der Wahrheit offenbart wurden. Dies wird in der Betonung der Wahrheit im Vers sichtbar, die dem Buch innewohnt. Hier wird nochmals die Einheit Gottes ersichtlich, nämlich dass Gott in religiösen Angelegenheiten die einzige Autorität (6:114) und unser einziger Lehrer ist (55:1–2).

Die Lesung liegt uns heute vollständig vor und Gott hat uns dort  alle Urteile, die religiöse Belange betreffen, zu seiner Vollkommenheit mitgeteilt. Gott will im vorangegangenen Vers 4:105 dem Propheten nahelegen, nicht seinen Neigungen gemäß zu handeln. Denn das Buch und ihre Urteile sind eine Sache, die Durchführung und die damit verbundene Konsequenz eine andere. Der Prophet war nämlich nur ein Mensch (18:110) mit allen damit verbundenen Stärken und Schwächen. Denn der Vers 4:105 betont diese Haltung im letzten Satz: „Sei kein Verfechter für die Verräter!“

Und als nächstes muss man sich fragen, wie soll sich eine menschliche Sunna mit den oben behandelten Versen verstehen lassen, die nur der Offenbarung Platz einräumen? Und wieso wird in der Lesung nur Gottes Sunna erwähnt? Darüber hinaus muss die Quelle für die Religion rein und ohne Makel sein und wir finden in der Lesung selbst gleich mehrere Beispiele, die die Sünden des Propheten behandeln (47:19, 48:2). Die Offenbarung selbst wird hingegen als rein bezeichnet:

 

98:2 Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorliest

 

Wir sehen, eine Offenbarung muss ohne Makel sein und die traditionell gelehrte Sunna ist es nicht. Die traditionelle Sunna ist menschlichen Ursprungs, da bisher niemand behauptet hat, Buchārī oder Konsorten seien ebenso Gesandte Gottes, die in Seinem Namen gehandelt hätten. Allein diese Umstände verunmöglichen es, der traditionellen Sunna irgendeine religiöse Autorität zu verleihen.

Wir fassen das Bisherige zusammen:

  • Gott lehrte den Propheten die Lesung (55:2) und nur die Lesung.
  • Der Prophet wie auch alle Gläubigen dürfen nur dem Herabgesandten, also der Lesung folgen (7:3, 7:203).
  • Der Prophet selbst ist keine weitere Quelle, kein weiterer Herr, wie es 3:80 und 6:19 und auch weitere Verse klar machen.
  • Gott allein steht das Urteil zu (6:114, 5:44 usw.).

Es ist also sehr deutlich, dass der Prophet nur nach dem offenbarten Buch urteilte und keine andere Quelle benutzen durfte und dass nur Gott urteilen darf in religiösen Angelegenheiten. Der Vers 6:114 wird tiefgreifend mit dem Monotheismus verknüpft, denn der Vers sieht nur einen Schiedsrichter vor – Gott allein. Seine Gesetze sind im Buch, die ohne Sekundärquellen auskommen. Die Lesung wurde hier als „ausführlich dargelegt“ beschrieben, somit erübrigt sich die Frage, ob die Lesung Einzelheiten ausgelassen habe, die durch die traditionelle Sunna ergänzt werden müssten. Durch die rhetorische Frage des Verses wird jegliche Quelle außer Gott für überflüssig und auch ungültig erklärt.

 

6:114 Soll ich denn einen anderen Schiedsrichter (ḥakam) als Gott begehren, wo Er es doch ist, der das Buch, ausführlich dargelegt, zu euch herabgesandt hat?

 

Außerdem sagt Gott von der Lesung:

 

11:1 Alif-Lam-Ra. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Weisen und Kundigen.

41:3 Ein Buch, dessen Zeichen ausführlich dargelegt sind, als eine arabische Lesung, für Leute, die Bescheid wissen

 

Es lässt sich aber die Frage stellen, ob Gott denn Seine Befehlsgewalt weiter delegiert und sie in dem Sinne dann indirekt wirken lässt? Gibt es also noch andere Verse, die die Einheit und alleinige Autorität Gottes untermauern und somit die vorige Frage verneinen? Es folgen Verse, die besonders die alleinige Autorität Gottes hervorheben, indem gerade betont wird, dass Er seine Befehlsgewalt nicht aufteilt:

 

18:26 Sag: Gott weiß am besten, wie (lange) sie verweilten. Sein ist das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie vorzüglich ist Er als Allsehender, und wie vorzüglich ist Er als Allhörender! Sie haben außer Ihm keinen Schutzherrn, und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden.120

11:12 Vielleicht möchtest du einen Teil von dem, was dir offenbart wird, verlassen und deine Brust ist dadurch beklommen. Dies, weil sie sagen: „Wäre doch ein Schatz auf ihn herabgesandt worden oder ein Engel mit ihm gekommen!“ Du bist aber nur ein Warner. Und Gott ist Sachwalter über alles.

12:40 Anstelle seiner dient ihr nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet. Dafür ließ Gott keine Ermächtigung herabsenden. Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Er befahl, dass ihr keinem außer ihm dient. Dies ist die wertvolle Lebensordnung, doch die meisten Menschen wissen nicht

6:57 Sag: Ich halte mich an einen klaren Beweis von meinem Herrn, während ihr Ihn der Lüge bezichtigt. Ich verfüge nicht über das, was ihr zu beschleunigen wünscht. Das Urteil gehört allein Gott. Er berichtet die Wahrheit, und Er ist der Beste derer, die entscheiden.121

 

Die vier oben genannten Verse machen mit Aussagen wie „Das Urteil (al-ḥukm) ist allein Gottes“, „Und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden“ oder „Und Gott ist Sachwalter über alles“ klar, dass weitere Quellen neben Gottes Worten keine Autorität haben können. Sie unterstreichen die alleinige Autorität Gottes und zeigen auf, dass es nur die Sunna Gottes gibt. Wenn wir uns die Frage stellen, welche Befugnisse der Gesandte durch Gottes Worte, also durch die Lesung erhält, so finden wir unter anderem folgende Verse dazu:

  • Dem Gesandten obliegt nur die Verkündigung. (5:92, 64:12)
  • Der Gesandte ist nur ein Warner. (88:21, 79:45, 13:7, 11:12)
  • Der Gesandte hat die Botschaft klar zu übermitteln. (16:44)

Es gibt noch viele weitere Verse, die die alleinige Autorität Gottes hervorheben, ich will hier nur mit drei Versen diese Angelegenheit ein letztes Mal verdeutlichen:

 

12:67 … Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Auf Ihn vertraue ich und auf Ihn sollen sich die Vertrauensvollen verlassen.

25:2 Er, Dem das Königreich der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind nahm und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hatte und alles erschuf und ihm sein Maß wohlbemessen gegeben hat.

28:70 Und Er ist Gott. Es gibt keine Gottheit außer Ihm. Ihm gehört das Lob im Ersten und im Letzten. Ihm gehört das Urteil, und zu Ihm werdet ihr zurückgebracht.

 

Nach diesen und anderen Versen ist es schwer eine Gewaltenteilung vorzunehmen, dass auf der einen Seite die Lesung stünde und auf der anderen Seite die menschliche Sunna (entgegen der göttlichen Sunna). Gott, „der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat“, und von sich aus sagt, dass das Urteil (ḥukm) allein Seines ist und Ihm das Richten gehört, reicht den Gläubigen aus.

 

12:80 Als sie es bei ihm aufgegeben haben, gingen sie gerettet davon. Der Älteste von ihnen sagte: Wisst ihr nicht, dass euer Vater von euch, auch bevor ihr euch von Josef entledigt habt ein verbindliches Versprechen vor Gott entgegengenommen hat. Ich werde das Land nicht verlassen, bis mein Vater es mir erlaubt oder Gott richtet (yaḥkum Allāh), und er ist der beste der Richtenden (al-ḥākimīn).

95:8 Ist Gott nicht der Weiseste der Richtenden (bi-aḥkami al-ḥākimīn)?

5:50 Erstreben sie etwa das Urteil (al-ḥukm) der Ignoranz? Wer ist ein besserer Richter (ḥukm) als Gott für ein Volk, das überzeugt ist?

 

Wir sehen also überaus deutlich, dass die Weisheit und die daraus abgeleiteten Urteilssprüche Gott allein gehören. Es gibt auch klare Aussagen in der Lesung, dass die Lesung selbst die Weisheit darstellt. Wie etwa in Kapitel 17, in welchem beginnend ab Vers 22 ethische Prinzipien und Gesetze erklärt werden, welche ein Gläubiger umzusetzen hat. Dies geht weiter bis Vers 38 und im darauffolgenden Vers lesen wir:

 

17:39 Diese sind von dem, was dein Herr dir von der Weisheit offenbarte. Und setze zu Gott keine andere Gottheit, sonst wirst du in die Hölle geworfen, verschmäht und verstoßen sein

 

Die vorhergehenden Verse werden also direkt als Teil der Weisheit des Herrn beschrieben. Insofern sehen wir in diesem Beispiel, dass die Verse ein Teil der Weisheit Gottes sind. Im nächsten Schritt werde ich aufzeigen, dass diese laut der Lesung eine Einheit sein müssen. Das Prinzip der Einheit von Buch und Weisheit wird also auch von der anderen Richtung her aufgezeigt.

 

2:231 … So nehmt euch Gottes Zeichen nicht zum Spott und gedenkt Gottes Gunst an euch und dessen, was Er aus der Schrift und der Weisheit (al-ḥikmah) auf euch herabsandte, euch damit zu belehren. Und seid Gottes achtsam und wisst, dass Gott in allen Dingen wissend ist.

 

Auf Arabisch heißt es:

 

ولا تتخذوا ءايت الله هزوا واذكروا نعمت الله عليكم وما أنزل عليكم من الكتب والحكمة يعظكم به واتقوا الله واعلموا أن الله بكل شىء عليم

Transliteration:
wa lā tattachiḏū ʾāyāti-llāhi huzuwān waḏkurū niʿmāta-llāhi ʿalaykum wa mā ʾanzala ʿalaykum min al-kitābi wal-ḥikmati yaʿiẓukum bihi wa-ttaqū-llāha wa ʾaʿlamū ʾanna-llāha bikulli schayʾin ʿalīmun

 

Das große fette Wort im Arabischen wird in der Übersetzung als „damit“ wiedergeben und transliteriert „bihi“ ausgesprochen. Wären nun die Schrift und die Weisheit zwei verschiedene Dinge, müsste für den Bezug auf diese beiden verschiedenen Dinge die Dualform benutzt werden, nämlich bihimā (بهما) oder zumindest der Plural bihim (بهم). Der im Vers verwendete Bezug ist aber singular! Somit sind die Schrift und die Weisheit eine Sache, oder anders gesagt: Die Weisheit wird als der Schrift innewohnend angenommen.

Alles in allem kann bekräftigt werden, dass die traditionelle Aufteilung in Buch als die Lesung und Weisheit als die angebliche prophetische Sunna auf einem missglückten, geradezu peinlichem Fehlverständnis des Begriffs „Weisheit“ und der Wurzel selbst beruht, wobei ich hier etliche Verse zitierte, die Gott allein Autorität zusprechen und die Gott allein als Quelle der Weisheit klarstellen.

gehorcht dem gesandten

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 1 – Die Aufgabe der Gesandten und „gehorcht dem Gesandten“

Da wir nun die Werkzeuge und die Fallen des Verstehens kennengelernt haben, möchte ich in diesem Teil des Buches unsere Methodik an einigen Beispielen anwenden und beginne mit einer Kurzanalyse des Aufrufs aus der Lesung: Gehorcht dem Gesandten! Ich werde hierbei nicht an jeder Stelle deutlich erwähnen, welcher Schritt wo angewandt wurde, sondern es geht hierbei mehr darum zu vermitteln, was bei einer solchen Methodik für Ergebnisse zu erwarten sind.

Natürlich sind die Beispiele bei Weitem nicht ausschöpfend analysiert worden, denn das ist nicht das Ziel dieses Buches. Bei vielen Beispielen könnte ich noch weiter in die Tiefe gehen. Jedoch möchte ich sie einfach und relativ kurz halten. Vielmehr geht es bei jedem Beispiel um die Betonung verschiedener Aspekte der vorgeschlagenen Methodik.

Wenn Sie nach den Beispielen in diesem Teil ein Gefühl erhalten haben, wie die Anwendung der vorgeschlagenen Methodik im Wesentlichen funktioniert, so bin ich bereits zufrieden.

Sie und ich begeben uns nun auf eine weitere, gemeinsame Reise durch die Lesung.

 

Beispiel 1 – Die Aufgabe der Gesandten und gehorcht dem Gesandten

Die Lesung beinhaltet zahlreiche Stellen, in denen von den Gläubigen gefordert wird, dass sie gegenüber dem Gesandten gehorsam sein sollen, wenn sie Gott gehorchen wollen (3:31–32, 3:132, 4:80, 5:92, 24:52, 24:56, 64:12, 72:23). Dabei stellt Gott aber auch klar, dass Gehorsam gegenüber dem Gesandten in Zusammenhang mit Gehorsamkeit gegenüber der überlieferten Botschaft und nichts anderem steht. Traditionalisten bringen dann gerade aufgrund dieser Verse Argumente vor wie: „Es wird uns befohlen, den Vorschriften Gottes und des Propheten zu gehorchen, was wir nur durch den Koran und die Sunna bewerkstelligen können“. Dass dies auf einem tiefgreifenden Fehlverständnis und einer falschen theologischen Verortung dieser koranischen Aussage beruht, werde ich gleich zeigen.

Erstens ist zu betonen, dass in den besagten Versen der Prophet nur als Gesandter (rasūl) genannt wird. Zweitens ist anzumerken, dass Mohammed auch namentlich erwähnt wird in der Lesung, nämlich dreimal in Bezug auf seine Gesandtenfunktion (3:144, 33:40, 48:29) und einmal in 47:2, in der er im direkten Bezug zur Herabsendung erwähnt wird. Den Vers 61:6 könnte man unter Umständen ebenso hinzuzählen, obwohl dort nicht der Name des Propheten beschrieben wird, sondern eine Umschreibung als „aḥmad“, aber auch dieser Vers betont die Gesandtenfunktion von Mohammed.

Nirgends stoßen wir auf eine Aussage wie „Gehorcht Gott und Mohammed“. Einzig und allein die Aussage „Gehorcht Gott und Seinem Gesandten“ wird verwendet. Also ergibt sich der Gehorsam gegenüber dem Propheten nur in seiner Funktion als Übermittler der Botschaft. Die Lesung selbst wird in einem anderen Vers als „das Wort eines edlen Gesandten“ (69:40) beschrieben und gleich drei Verse später (69:43) als „eine Herabsendung vom Herrn der Welten“, um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen. „Gehorcht dem Gesandten“ bedeutet deshalb nicht, dass er eine persönliche Vorgehensweise hatte, der man gehorchen soll, als ob sie Gottes Offenbarung sei. Gott befiehlt dem Propheten zu sagen, dass er zwar unfehlbar in der Überlieferung der Botschaft ist, aber Fehler begehen könnte, wenn es um seine eigene Meinung geht:

 

34:50 Sage: „Wenn ich irregehe, gehe ich nur aufgrund mir selbst irre. Wenn ich rechtgeleitet bin, so geschieht das durch das, was mir mein Herr offenbart. Er ist hörend und nahe.“

 

Das, was ihm offenbart wurde, ist natürlich die Lesung selbst, was wir leicht aus einer anderen Stelle der Lesung verstehen können (6:19). Der Gesandte darf hierbei in keiner Sache, sei sie noch so klein und scheinbar unbedeutend, von den Richtlinien Gottes abweichen (10:15–18, 17:73–75, 69:40–47). Als er aus Versehen jedoch einmal abwich, wurde er von Gott getadelt und korrigiert (66:1). Die Lesung ist Gottes Buch und Sein Wort an uns. Dennoch hörten sie die Menschen aus dem Munde Seines Gesandten Mohammed (4:13, 9:1, 9:3, 9:29). Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass der Gesandte selbst keinerlei Autorität über die Verordnungen der Lebensordnung (dīn) besitzen konnte. Die Aufgaben des Gesandten, nur Verkünder und Warner zu sein, bedeuten dasselbe, denn der Prophet sprach Gläubige und Ableugner an. Für Gläubige ist es eine frohe Botschaft, eine Verkündigung, für die Ableugner aber eine Warnung (18:56, 6:70 – der Bezug zur Lesung wird in den Versen 6:54 und 6:55 klar).

 

33:21 Für euch ist ja im Gesandten Gottes ein schönes Vorbild…

 

Es wird gefragt, wie man diesem Beispiel folgen kann, ohne eine Quelle zu haben, in der beschrieben ist, wie sich der Gesandte verhielt. Dieser Frage will ich in diesem Buch nicht nachgehen. Den Interessierten empfehle ich die Lektüre meines Artikels „Koranischer oder sunnitischer Mohammed?“.97

In der Lesung ist in zahlreichen Stellen vom Gesandten die Rede, dessen einzige Pflicht die Verkündigung der Botschaft ist (5:92, 5:99, 16:35, 16:82, 24:54, 29:18, 42:48, 64:12), wovon wir zwei Verse zitieren möchten:

 

29:18 … Und dem Gesandten obliegt nur das deutliche Übermitteln.

16:35 Diejenigen, die beigesellten, sagten: „Hätte Gott gewollt, hätten wir nichts an seiner Stelle gedient, weder wir noch unsere Väter, und wir hätten nichts an seiner Stelle verboten.“ So handelten auch diejenigen vor ihnen. Obliegt denn den Gesandten etwas anderes als das deutliche Übermitteln?

 

Es sei hier betont, dass in Vers 16: 35 der Plural des Wortes „Gesandter“ verwendet wird (الرُسُل – ar-rusul) und demzufolge stets ein Bestandteil der göttlichen Sunna (sunnatullah) war, dass sämtliche Gesandten nur diese eine Aufgabe hatten, was das eigenständige Interpretieren der Lesung im Namen Gottes also ausschließt. Die Gesandten haben also nur die Botschaft zu übermitteln.

Eine der vorbildlichen Eigenschaften des Gesandten war es, dass er nur die Lesung befolgte (7:203). Wenn wir seinem Vorbild folgen möchten, dann gilt für uns auch, dass wir nur die Botschaft der Lesung ins eigene Leben übertragen und ebenso an unsere Mitmenschen übermitteln, ohne dabei Missionierung zu betreiben. Wir müssen, wie bereits erwähnt, uns auch daran erinnern, dass der Prophet nicht uneingeschränkt als positives Vorbild dient (9:43, 66:1).

In der Lesung wird der Charakter des Propheten an vielen Stellen umschrieben. Auch er war dem Glauben verpflichtet und hatte sich nur Gott zu unterwerfen. Der Prophet wird an mehreren Stellen ermahnt nicht seinen Neigungen nach zu handeln (2:120, 2:145, 4:135). Schließlich wäre eine menschliche Sunna nicht vollkommen wie Gottes Worte. Wir dürfen laut Gottes Wort auch keinen einzigen Unterschied unter den Gesandten machen (2:285), also können wir uns nicht auf einen einzigen beschränken und nur diesen als Vorbild nehmen. Wir haben auch an Abraham ein schönes Vorbild (60:4), und offensichtlich wurde uns keine „Sunna Abrahams“ überliefert. Die Lesung beschreibt die vorangegangenen Propheten in ihren Geschichten und genau da sind ihre Beispiele und Vorbildfunktionen zu finden:

 

12:3 Wir erzählen dir die besten Geschichten, indem wir dir diesen Quran offenbaren, da du zuvor von den Achtlosen warst.

12:111 In ihren Geschichten war ja eine Lehre für die Verständigen. Es war keine erdichtete Erzählung (ḥadīṯ), sondern eine Beglaubigung für das, was er zwischen den Händen hielt und eine genaue Darlegung für alles und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Leute, die glauben.

 

Des Weiteren führen traditionell eingestellte Muslime gerne folgenden Vers an:

 

59:7 … Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch. …98

 

Hier soll also die „Sunna“ gemeint sein, die über den Gesandten gesammelt sein soll. Doch wenn man den Kontext des Verses anschaut, wird schnell klar, dass hier etwas völlig anderes gemeint ist:

 

59:7 Was Gott Seinem Gesandten von den Leuten der Dörfer an Gütern zugeteilt hat, das gehört Gott, Seinem Gesandten und den Verwandten, den Waisen, den Armen und dem Obdachlosen. Dies, damit es nicht nur im Kreis der Reichen von euch bleibt. Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt an, und was er euch unterbindet, dessen haltet euch fern. Und seid Gottes achtsam. Gewiss, Gott ist hart in der Bestrafung.

 

Hier geht es also um die Beuteaufteilung, die von Gott dem Gesandten zugeteilt wird. Es wird nicht pauschal mitgeteilt, dass wir das Verhalten des Propheten blindlings annehmen sollen. Das Prinzip der Nachahmung (at-taqlīd) in der traditionellen Betrachtungsweise hat hier keinen Bestand. Vielmehr ist es so, dass der Gesandte Gottes von Gott eben Anordnungen mittels Offenbarungen erhält, die er zu verkünden und zu übermitteln hat. Diesen Anordnungen müssen wir Folge leisten, und genau in dem Sinne ist dann der Ausdruck „Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch.“ zu verstehen. Genau so und nicht anders wird dann auch der Schlusssatz im Vers besonders bedeutsam, indem wieder auf Gott hingewiesen wird, dass wir Gottes achtsam sein sollen.

Einer der weiteren häufig angeführten Verse ist 16:44:

 

16:44 … Und wir haben zu dir die Ermahnung hinab gesandt, damit du den Menschen klar machst, was ihnen herabgesandt wurde, und auf dass sie nachdenken mögen.99

 

Hiermit wird behauptet, dass der Ausdruck „damit du klar machst“ meine, der Gesandte brächte außerkoranische, zusätzliche eigene Erklärungen. Oft wird der Versteil dementsprechend als „damit du den Menschen erklärst“ übersetzt. Der Vers sei ein klarer Beweis dafür, dass wir das Verhalten und die Ansichten des Propheten zu befolgen hätten, um die Lesung vollends zu verstehen. Wenn wir diesen Vers auf diese Weise auslegen, widerspricht dies den zuvor genannten Versen, die Gott die alleinige, absolute Autorität zusprechen. Darüber hinaus lassen die Verse 75:19, 25:33 und 55:2 keinen anderen Schluss zu, als dass in erster Linie Gott die Lesung erklärt. Er hat uns die Lesung vollständig herabgesandt (6:114, 5:3). Sein Buch ist in Wahrheit und Weisheit vollkommen (6:115), und deshalb sollte der Prophet nur nach dem urteilen, was darin steht (5:44, 5:48). Es herrscht auch weitgehend Einigkeit, was diese Frage betrifft.

Schaut man 20 Verse weiter, sehen wir in 16:64 folgendes stehen:

 

16:64 Und Wir haben auf dich das Buch nur hinabgesandt, damit du ihnen das klar machst, worüber sie uneinig gewesen sind, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.100

 

Auch hier wird wie in 16:44 das Wort „litubayyina“ benutzt, muss aber in der Bedeutung von „klar übermitteln“ verstanden werden, denn selbst wenn man mit „erklären“ (im Sinne von ausführlich verständlich machen durch den Propheten) übersetzen will, ist dies nur mit der Lesung selbst zu tun. 16:64 lässt nämlich nur eine Möglichkeit zu: Die einzige Bedingung ist die Erklärung oder die Klarmachung von dem, „worüber sie uneinig gewesen sind.“ Dies aber auch eben nur mit der Lesung, denn nur dazu wird sie hinabgesandt. Würde man in diesem Vers mit „erklären“ im Sinne von „zu verstehen machen“ übersetzen, also dass der Prophet eigenmächtig auslegen muss, damit die Lesung verständlich wird, würde das dem Sinn des Verses widersprechen, nämlich dem einzigen Grund, warum die Lesung hinabgesandt wurde. Folgender Vers unterstreicht diese These:

 

69:44–47 Und wenn er sich gegen uns einige der Aussagen selbst in den Mund gelegt hätte, hätten wir ihn gewiss an der Rechten gefasst. Danach hätten wir ihm sicherlich die Schlagader durchschnitten, und niemand von euch hätte ihn davor bewahren können.

 

Aus der Lesung wird ersichtlich, dass der Gesandte damals eine untergeordnete Rolle zu spielen hatte, sofern es die Auslegung und Interpretation der Schrift betraf. So steht in 10:15, dass er die Lesung nicht aus eigenem Antrieb ändern durfte. Wie oft wird der Prophet angehalten, nicht seinen Neigungen zu folgen und nur der Offenbarung zu folgen (2:120, 2:145, 5:48, 7:3, 10:15, 46:9, usw.)? Des Weiteren wird aus 25:33 nochmals deutlich, dass er eine passive Rolle innehatte, da die besten Erläuterungen (aḥsan tafsīr) ihm als Offenbarungen weitergegeben wurden. Wir können also dem Propheten nacheifern, indem wir unsere religiösen Antworten nur in der Offenbarung suchen.

Weiterlesen: Schlüssel zum Verständnis des Koran: Erklären, Offenbarung und Gehorsam

Siehe auch: Die erfundene Religion und die Koranische Religion – Kapitel 27: Was bedeutet „Gehorcht dem Gesandten“?

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Traditionelle Barrikaden, die es zu überwinden gilt

In diesem Kapitel will ich mich relativ kurz der Tatsache widmen, dass die Tradition noch weitere Barrikaden mit sich bringt, auf die wir Acht geben müssen.

 

Autorität der Gelehrten oder: Der Kaiser ist nackt

In der arabischen Literatur wie auch in der traditionellen Unterrichtsart im Religionsunterricht ist die Idee der Autorität nahezu omnipräsent. Die meisten der Gottergebenen wuchsen als Kinder auf im volkstümlichen Irrglauben, dass nur jemand, der „50 Jahre seines Lebens mit dem Studium des Islām verbracht habe“, autorisiert sei über die Religion Auskunft zu erteilen. Uns wurden hierzu spezielle Begrifflichkeiten beigebracht, die wir in den Moscheen hörten, wie zum Beispiel, dass man nur mit einer Lizenz oder Erlaubnis (idschāzah – إجازة) rechtsgültig über die Religion reden könne. Nur wenn man zu den sogenannten Wissenden (ʿulamāʾ) mit dieser ominösen Lizenz gehörte, konnte man ernst genommen werden. Oft wird dabei der Vergleich mit dem Medizinstudium herangezogen, dass Ärzte ja auch nicht ohne Lizenz arbeiten dürfen. ABER, und das ist ein extrem großes aber, das nicht ins Konzept der Traditionsbewahrung passt: Ärzte sind rechtlich anklagbar, religiöse Muftis jedoch nicht. Sie können leider nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie Unsinn verbreitet haben. Uns wäre bestimmt vieles erspart gewesen, hätte man sie anzeigen können.

Man musste im Endeffekt irgendeiner Autorität folgen und war „frei“ für sich eine der folgenden Rechtsschulen auszuwählen, die man als „Autorität“ akzeptieren sollte, sofern man denn Sunnit ist: die ḥanafītische, mālikītische, ḥanbalītische oder schāfiʿītische Rechtsschule. Diese Rechtsschulen und ihre ausgebildeten Gelehrten waren zu lange Autoritäten über uns, obwohl die Lesung unzählige Male davon spricht, dass es nur eine Autorität geben kann, nämlich den Schöpfer selbst. Dass ich hierbei die sunnitische Art und Weise der Autoritätserrichtung anführe, heißt nicht, dass die schiitische gutzuheißen wäre. Dort gelten dieselben Regeln und in dieser Sache unterscheiden sich die Schiiten und Sunniten nicht.

Zu Beginn war die Absicht natürlich nicht böser Natur, das Ziel war das Verhindern von Rechtsauskünften (fatāwá, plural von fatwá) der ignoranten (dschāhil) Menschen. Mit der Zeit hat es aber das blinde Akzeptieren eines Gelehrten, Scheichs, Mufti (derjenige, der Rechtsauskünfte erteilt)91, „Mawlánā“, Imām oder Hodscha gefördert. Ebenso stieg damit auch der religiöse Analphabetismus, was das grundsätzliche Problem unserer Zeit darstellt, nämlich dass ein Großteil der „Gottergebenen“ nicht zu unterscheiden weiß zwischen dem, was in der Lesung steht und dem, was außerhalb der Lesung ist. Dies begründet auch die oft verdutzte Reaktion vieler Menschen, wenn man ihnen in einer Angelegenheit sagt, dass sie nicht in der Lesung zu finden ist. Hierzu ein Kommentar des pensionierten Arabisten und Orientalisten Wim Raven:

 

Es ist manchmal unerwartet schwierig, muslimischen Studenten den Unterschied beizubringen zwischen dem, was im Koran steht und dem, was Korankommentare dazu sagen. Oft ist es nur ein Kommentar, den sie zu Hause im Schrank haben oder den der Imam zitiert hatte; nicht selten ist es das Werk des dummen Ibn Kathīr (± 1300 – 73) — als hätten vierzehn Jahrhunderte Islam nichts besseres gebracht!

Obwohl es doch so einfach ist und eigentlich gar nichts mit Glauben zu tun hat. Eine Aussage steht entweder in Buch A (das grüne Buch hier rechts, mit „Koran“ auf dem Umschlag), oder zum Beispiel in Buch B (dort links, mehrbändig, mit braunen Umschlägen, auf denen „Kommentar“ oder „Tafsīr“ steht). Die beiden Textsorten sind sogar physisch leicht auseinander zu halten. […]

Wenn der Koran für jemanden ein heiliger Text ist, muss dann der Kommentar eines späteren Muslims, der schon seit mehr als tausend Jahren tot ist, das auch sein? […]

Soll doch jeder glauben was er will; aber es wäre schön, wenn man zumindest die Textgattungen auseinander halten könnte: Koran, Auslegung (tafsīr) und Hadith.92

 

Die Lösung ist natürlich nicht die komplette Aufhebung dieses Gedankens, dass Wissende fachkundig Auskunft erteilen sollen. Jedoch müssen wir uns eingestehen, dass die Autoritäten keine Autoritäten sind. So wie der Kaiser in der berühmten Kindergeschichte „Des Kaisers neue Kleider“ nackt ist, müssen wir uns auch eingestehen, dass wir uns selbst etwas vorgemacht haben, wenn wir irgendeiner Person unseres Vertrauens blind gefolgt sind.

Fragen sind durchaus an „Wissende“ zu stellen, jedoch sollten wir die religiöse Belesenheit fördern mit kritischem Hinterfragen der gegebenen Antworten von Menschen mit Wissen („Gelehrten“). Selbst zu denken ist die unabdingbare Voraussetzung, um ein Gottergebener zu sein, denn wir lesen:

 

17:36 Und geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Gesicht und Verstand – für all das wird (dereinst) Rechenschaft verlangt.93

 

Und wenn wir nach Antworten suchen, so haben wir die beste Antwort als eine zeitlich eingeschränkte Lösung anzunehmen, denn wir dürfen nie aufhören, nach besseren Antworten zu suchen:

 

39:18 Diejenigen, die auf das Wort hören und dann dem Besten davon folgen, das sind diejenigen, die Gott rechtleitete, und das sind diejenigen, die Verstand besitzen.

 

Aḥādīṯ als Quelle der Irreführung

Es ist leider in vielerlei Fragen zu einer Quelle der Irreführung geworden, wenn wir den traditionell überlieferten Aussprüchen (aḥādīṯ) religiöse Gewichtung schenken. Denn sie wurden in vielen religiösen und politischen Angelegenheiten missbraucht. Natürlich gibt es eine breite Palette an Meinungen hierzu und nicht jeder Sunnit hätte gleich gehandelt wie die Usurpatoren. Dennoch haben wir die Pflicht, es unmissverständlich auszudrücken, dass diese Aussprüche selbst die Quelle dieser Problematik sind und nicht erst ihre Auslegungen.

Es ist nicht wegzureden: Steinigung, Kopftuch, Sklaverei, Köpfe abhacken, sexuelle Versklavung oder Perversion, Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostasie; ḥaddu-r-riddah – حد الردة), Aberglaube, Unterdrückungsgesetze der Frau und vieles mehr sind direkt in diesen dem Propheten angedichteten Aussprüchen zu finden. Wieso wir den Aussprüchen gegenüber, die dem Propheten zugeschoben werden und eigentlich eine Beleidigung des Propheten darstellen, äußerst kritisch zu stehen haben, lässt sich dadurch erklären, dass sie verwendet wurden:

  • um die Lehre einer Abspaltung (Rechtsschule, maḏhab) gegenüber einer anderen in Kleinigkeiten zu verteidigen, die nicht in der Lesung vorkommen, wie etwa, was die Waschung vor dem Gebet (wuḍūʾ) ungültig mache, welche Tierarten aus dem Meer gegessen werden dürfen und was nicht.
  • um die Autorität und Vorgehensweise eines bestimmten Königs oder Herrschers zu rechtfertigen oder ihm zu schmeicheln, indem Geschichten wie etwa über den Mahdī oder Daddschāl verwendet und ausgeschmückt werden, die mit der Lesung rein gar nichts zu tun haben.94
  • um die Interessen eines bestimmten Stammes oder einer Familie zu fördern. Berühmtestes Beispiel ist der Ausspruch (Ḥadīṯ), nach welchem Führungspersonen nur vom Stamme der Quraisch oder der Familie Muhammads (und sämtlichen Nachfolgern, selbst denen der 50. Generation nach ihm!) ausgewählt werden dürfen.
  • um sexuellen Missbrauch und Misogynie zu rechtfertigen, indem ʿAīschas Alter bis auf neun Jahre herabgesetzt wurde. Oder auch um Frauen davon abzuhalten, als Vorbeterin Gebete anführen zu dürfen.
  • um Gewalt, Unterdrückung und Tyrannei durch die Aussprüche zu rechtfertigen, in denen Angehörige der Stämme Uraina und Uqaila gefoltert oder Juden in Medina massakriert wurden und man eine Poetin für ihre kritische Poesie ermorden ließ.
  • um die Gemeinschaft der Gläubigen durch zusätzliche Rituale (wie etwa die sogenannten nawafil Gebete) zu beschäftigen, im Irrglauben, man erlange dadurch mehr Rechtschaffenheit. Hierbei ist Religion das sprichwörtliche Opium der Massen geworden.
  • um Aberglaube zu bestätigen und zu verbreiten wie etwa die Illusion der Wirkung von Magie, die Ritualisierung des Küssens des schwarzen Steines und der Kaʿba selbst. Dies geschieht meistens, um wirtschaftliche Interessen zu befriedigen, wie etwa die Werbung für Datteln aus der Adschwa-Region, die laut einem Ausspruch besonders gegenüber Gift und Magie wirksam und schützend seien.
  • um neue Verbote und Gebote im Namen Gottes einführen zu können wie etwa das Bilderverbot, das Musikverbot oder das Verbot von Schach, Gold und Seide.
  • um die damals verbreitete lokale, jüdische oder christliche Praxis in die Religion Gottes einzugliedern wie die Steinigung, die Beschneidung, das Kopftuch und das Einsiedleroder Mönchstum.
  • um vor-islamische Glaubensinhalte und Praktiken aufrechtzuerhalten. Beispiele: Fürsprache, Sklaverei, Stammestum und Misogynie.
  • um die Massen durch erfundene Geschichten voller irrsinniger Fantasien zufriedenzustellen, die man den Kindern erzählen kann, wie etwa die Himmelfahrts-Geschichte (Mirādsch) des Propheten Mohammed.
  • um Mohammed und seine Gefährten zu idolisieren und zu erhöhen und um den Gesandten Mohammed über andere Gesandten zu erheben, indem Geschichten in den Aussprüchen erfunden wurden, in denen er zahlreiche „Wunder“ vollbracht haben soll (wie etwa die Mondspaltung allein durch seinen Fingerzeig). Auch dass er in der Bezeugung (schahādah) als einziger Gesandte erwähnt wird, gehört in diese Kategorie.

Dies hat wieder einmal nichts mit der Lesung zu tun, ja es widerspricht ihr sogar diametral. Jede einzelne dieser Aussagen können mit den angeblichen Aussprüchen, die dem Propheten untergejubelt wurden, belegt werden und Kenner der Aussprüche wissen das auch. Ich habe die Quellen zu den hier verwendeten Aḥādīṯ bereits anderswo ausführlich analysiert. Deshalb verzichte ich hier auf eine Quellenangabe und fordere die Leserinnen und Leser auf, meine Aussagen als „Behauptungen“ aufzufassen, die sie erst noch überprüfen müssen (17:36).

Dieses Kapitel wird für viele Gottergebene, die sich als Sunnit oder Schiit bekennen, sehr schwierig zu verdauen sein, da ihr Weltbild in ihren Grundmauern angegriffen und kritisiert wird. Wir alle mussten an einem Zeitpunkt in unserem Leben die eine oder andere liebgewonnene Tradition verlassen, weil es nichts mit der Religion und Offenbarung Gottes zu tun hat. Die Wahrheit kann sowieso nicht hinterfragt und widerlegt werden, sofern man denn glaubt, dass es solch eine Wahrheit gibt. In der Wahrheitsfindung müssen wir eben stets bereit sein, unser komplettes Weltbild aufzugeben für die Wahrheit Gottes – in religiöser, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht. Dies ist der Inbegriff der Ergebung in Gott. Es geht nicht um mein Weltbild und mein Empfinden, sondern um die Wahrheit, die Millionen von Gesichtern hat und deshalb nicht immer in gewohnter Form zu erkennen ist.

Es wird so Gott will noch mindestens ein bis zwei Generationen dauern, bis sich die Gemeinschaft der Gottergebenen neuen Ideen und Lösungsvorschlägen gegenüber offen zeigt, obwohl diese offene Grundhaltung von Gott in der Lesung selbst verlangt wird (17:36, 39:18, 10:38–39). Der Mensch ist psychologisch so eingestellt, dass er sein Weltbild, koste was es wolle, verteidigen will.

Gott sei Dank gibt es die ersten Anzeichen dafür, dass dieser Umbruch stattfindet – denn nur so werden wir den Jugendlichen, die sich mit der Religion identifizieren möchten, eine vernünftige, starke und authentische Lebenshaltung anbieten können, die der Lesung in allen Aspekten treu bleibt, sie aber problemlos ihre deutsche, schweizerische oder österreichische Identität nicht nur beibehalten, sondern auch stärken können.

Die ersten Anzeichen dieses Umbruches sind zum Beispiel beim Theologen Mouhanad Khorchide zu sehen, der als bekennender Sunnit am 25.10.2014 zum neuen Hidschra-Jahr 1436 folgendes schrieb:

 

[…] Denn Mohammed kam mit einer Botschaft, die den verbreiteten Mainstream kritisch hinterfragt und die mit der herrschenden Tradition abgebrochen hat. Mohammed war für seine Zeit ein Revolutionär, der seine Mitmenschen zu kritischen Geistern erziehen wollte, die nichts einfach so hinnehmen. […] Es waren hauptsächlich die mündigen kritischen Geister, die ihm gefolgt sind und in seiner Botschaft eine Befreiungsbotschaft gesehen haben. Wer heute wissen will, ob er damals möglicherweise dem Propheten gefolgt wäre, möge sich ehrlich fragen, welche geistige Haltung er/sie innehält. Wie geht er/sie mit alten und mit neuen Ideen und Positionen um? Wie bereit ist er/sie sich mit traditionellen Gedanken/Ideen und Positionen kritisch auseinanderzusetzen und diese ständig auf deren Plausibilität zu überprüfen, und wie bereit ist er/sie, sich mit anderen/neuen Gedanken, Ideen und Positionen sachlich auseinanderzusetzen und diese auf deren Bereicherungspotentiale zu überprüfen, auch wenn sie „anders“ sind? Wie bereit ist er/sie etablierte Traditionen, die unplausibel erscheinen, evtl. zu verwerfen und sich neue Traditionen anzueignen? Ich befürchte, dass gerade vieler derer, die heute meinen, die alten Traditionen behüten zu wollen und diese daher zu unantastbaren Wahrheiten erklären, über die man nicht einmal denken darf, genau diejenigen sind, die am anfälligsten sind, eine sture Haltung einzunehmen und jede neue Idee oder Herangehensweise strikt abzulehnen, ohne sich wirklich die Chance zu geben, sich mit deren Inhalt auseinanderzusetzen […]. Genau Menschen mit dieser Haltung lehnten die Befreiungsbotschaft des Propheten ab und bekämpften diese mit allen Mitteln. […]

Gerade das etablierte Establishment, das vom vorhandenen System am meisten profitiert, wehrt sich gegen Veränderungen: „Jedes Mal, wenn wir einen Gesandten vor dir [Muhammad] zu einer Stadt entsandten, sagten die Wohlhabenden, die verschwenderisch lebten: „Wir fanden unsere Väter auf einem Weg und wir treten in ihre Fußstapfen.“ Der Gesandte sagte daraufhin: „Wenn ich nun aber mit einer Botschaft zu euch gekommen bin, die besser für euch ist, als was ihr als Brauch eurer Väter vorgefunden habt?“ Sie sagten: „Wir nehmen eure Botschaft nicht an.““ (43:23)95

 

Herr Khorchide hat hier im Prinzip nichts anderes zu vermitteln versucht, was er aus der Lesung selbst richtig erkannt hat:

 

2:170 Und wenn ihnen gesagt wird: Folgt dem, was Gott herabsandte. Dann sagen sie: Vielmehr folgen wir dem, was wir bei unseren Vätern vorfanden. Auch dann, wenn ihre Väter weder etwas verstanden noch Rechtleitung fanden?

 

Propheten sind revolutionäre Reformisten, die mit ihren Ideen äußerst erfolgreich waren, weil sie Gottes Unterstützung hatten – gerade weil sie nur die Offenbarung Gottes und nur sie allein aufrecht erhielten und ihre eigenen Ideen zur Seite schoben. Die Ableugner beschuldigen den Propheten des Verrats und der Untreue gegenüber den Ahnentraditionen und weisen jegliche Vernunft und jegliche Logik ab, weil es ihrem Weltbild widerspricht. Die sofortige, geistige, innere Reaktion „Wir haben sowas noch nie von unseren Vorvätern gehört!“ (sinngemäß auch: sowas wurde uns noch nie beigebracht!) ist mitunter einer der Reflexe, auf die wir Acht geben müssen, weil sie in der Lesung an unzähligen Stellen kritisiert wird. Wenn Sie die Lesung aufmerksam studieren, dann werden Sie sehen können, dass jeder Prophet mit derselben Problematik konfrontiert wurde, zum Beispiel die Propheten Hūd, Ṣāliḥ, Schuʿayb, Abraham, Moses und Mohammed: 23:24, 7:70, 11:62, 11:87, 26:74, 28:36, 34:43.

 

31:20–21 … Und doch debattiert manch einer ohne Wissen, Rechtleitung oder klares Buch über Gott. Wenn ihnen gesagt wird: “Folgt dem, was Gott herabgesandt hat!”, sagen sie: “Wir folgen den Wegen, auf denen wir unsere Väter fanden.” Auch dann, wenn der Satan sie zur Qual der Feuerglut einlädt?

 

Es ist nur zu einfach, Ausreden zu erfinden, dass doch die Mehrheit der Gelehrten (unsere Vorväter) dies oder jenes sagen und wir deshalb nicht anders denken dürften. Diese Vorväter wurden in ihrer Gesamtheit zu Autoritäten erhoben, als ob sie eine Ermächtigung hätten, uns und unsere Denkweise im Namen Gottes bestimmen zu dürfen! Die Verwirrung ist besonders dann groß, wenn die Aussagen der Gelehrten den Inhalten der Lesung widersprechen, wie im Falle der Steinigung oder der Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostate) oder noch schlimmer: die Katastrophe der Nāsich-Mansūch-Geschichte (Abrogation), in der ganze Passagen aus der Lesung für null und nichtig erklärt werden, weil sie irgendwelchen Aussprüchen (aḥādīṯ) widersprechen oder weil gar behauptet wird, die Lesung habe in sich selbst Widersprüche! Und dies trotz des Verses 4:82, in dem uns Gott zu verstehen gibt, dass wenn die Lesung Widersprüche hätte, sie auch nicht von Gott sein könne!

Eine der typischen Reaktionen wird auch sein, dass Gott doch niemals zulassen würde, dass so viele Menschen für über 1400 Jahre dem falschen Weg gefolgt sein sollen? Woher will man denn wissen, was Gott wie tut? Wir können doch nicht einfach unser eigenes Empfinden Gott überstülpen, als ob sich Gott uns anzupassen habe! Darüber hinaus ist diese Frage nach den früheren Generationen gleichwertig zur Frage des Pharao, dem Tyrannen und Despoten:

 

20:51 Er (Pharao) sagte: „Was ist denn mit den vorherigen Generationen?“

 

Gott hat sie nicht vergessen (20:52) und so verstehen wir, dass die Frage nach den früheren Generationen hinderlich ist in der Suche nach der Wahrheit und eher einem ignoranten Verhalten wie bei Pharao entspricht.

Natürlich ist Gott der Barmherzige und mag es nicht, wenn Seine Diener ableugnen (39:7), doch Er wird Seine eigene Vorgehensweise (sunna) nicht ändern, weil es einem Menschen nicht passt. Denn Gott sagt uns klar und deutlich:

 

6:116 Wenn du den meisten derer auf Erden gehorchst, werden sie dich abirren lassen von Gottes Weg. Sie gehen gewiss nur Vermutungen nach und raten nur.

12:106 Und die meisten glauben nicht an Gott, ohne Ihm beizugesellen.

 

Es ist leicht einzusehen, dass die gesamte Ḥadīṯ-Wissenschaft auf Vermutungen gegründet ist. So zum Beispiel auf den Vermutungen darüber, dass der Gewährsmann XY historisch gesehen eine gute Persönlichkeit war und die Ḥadīṯ-Experten ihn deshalb als berechtigt ansehen, überhaupt erst Aussprüche im Namen des Propheten zu überliefern. Jedoch werden hierbei die ersten Generationen in der Überliefererkette (isnād) gar nicht überprüft, was auch damals schon nicht mehr möglich war. Deshalb hat man diese ersten Generationen weitgehend pauschal als glaubwürdig betrachtet – ohne sie zu kennen!

Unzählige Definitionsunterschiede der sogenannten Muḥaddiṯūn (Ḥadīṯ-Gelehrte), was beispielsweise Gewährsmänner oder auch „Ṣaḥāba“ (Prophetengefährten) konkret bedeuten, zeigen dies offen und klar, dass die gesamte Ḥadīṯ-Wissenschaft mittels einer komplexen, meist auf die Überliefererkette beschränkten Systematik der Vermutungen und Schätzungen gegründet ist. Und in der Lesung wird diese Haltung klar abgelehnt und kritisiert (6:116,148, 10:36,66, 53:23,28).

Wieso wurde dies alles überhaupt in erster Linie von Gott zugelassen, wo Er doch verspricht, dass Er Sein Wort schützen wird (15:9)? Sein Schutz betrifft die Offenbarung, nicht aber all die Interpretationen, welche die Menschen in ihren Kommentarbüchern (tafāsīr, plural von tafsīr) zur Lesung anführten. Es gibt eine Passage in der Lesung, welche uns über diese Erfindungen über die Religion und den theologischen Gesamtsinn all dessen aufklärt:

 

6:112–113 Und auf diese Weise machten wir für jeden Propheten Feinde: Die Satane der Menschen und der Dschinn. Sie geben einander geschmückte Aussagen ein als Täuschung. Und hätte dein Herr gewollt, hätten sie es nicht getan. So lass sie mit dem, was sie erfinden. Dies, damit die Herzen derer, die nicht an das Letzte glauben, ihm zugeneigt sind, und damit sie daran Gefallen haben und begehen, was sie begehen.

 

Mit all diesen Aussprüchen werden also die Ableugner von der Lesung ferngehalten. Diese Menschen interessieren sich gar nicht aufrichtig für die Lesung und Gottesworte. Sie wollen sich gegenseitig das diesseitige Leben schön machen durch schmückende Aussagen. In Wahrheit täuschen sie nur sich selbst und weisen vom Weg Gottes ab und weisen stattdessen zum Weg der Steinigung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Vernunftlosigkeit.

Es ist eine interessante Tatsache, dass mit dem Wort „eingeben“ aus der Übersetzung wörtlich auch offenbaren gemeint ist und dieselbe Wurzel beinhaltet, die auch für das Wort Offenbarung (waḥy) gebraucht wird und im Zusammenhang mit der Lesung steht (zum Beispiel in 6:19). Es ist also nicht nur einfach so zu verstehen, dass diese Wörter erfunden werden und man sich damit die Zeit vertreibt, sondern vielmehr, dass sie als Offenbarungen gehandelt werden und so den Menschen geistig und intellektuell eingeflößt, also „offenbart“ werden. Dass Asch-Schāfiʿī in seinem Buch Ar-Risālah die außerkoranischen Aussprüche, die dem Propheten angedichtet werden, als „Offenbarung“ bezeichnete, fällt besonders in diese Kategorie von 6:112–113. Der Grund, wieso diese Menschen nicht wirklich ans Jenseits glauben, ist die Tatsache, dass diese Menschen die Lesung nicht wirklich ernst genommen haben, weil gleich im darauffolgenden Vers (6:114) betont wird, dass die Gläubigen außer Gott keinen Richter suchen sollten. Solche also, die diesen geschmückten Reden zugeneigt sind, die als „Aḥādīṯ“ bekannt sind, suchen in Tat und Wahrheit weitere Richter neben Gott, obwohl Er unmissverständlich betont, dass Sein Wort vollkommen ist und ausreicht (6:114–115, 7:3, 11:1, 12:1, 44:58).

Es ist deshalb die Zeit gekommen für uns, dass wir uns lossagen von dieser Autoritätsidee und nur die eine und einzige Autorität anerkennen: Es gibt keine Gottheit außer dem einen und einzigen Gott.

 

39:36 Genügt Gott seinem Diener nicht? Und doch möchten sie dich mit jenen außer Ihm in Furcht versetzen.

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Koranische Hermeneutik – Die Auslegungsmethodik

Sie werden in diesem Kapitel eine Auslegeweise kennenlernen, die Sie selbst auch relativ leicht anwenden können. Es sind sieben Prinzipien, welche für jede Studentin und jeden Student der Lesung unabdingbar sind. Diese legen die Rahmenbedingung fest, nach der wir die Textstellen der Lesung auslegen werden. Gewisse Punkte werden vielleicht trivial oder offensichtlich erscheinen, dennoch zeigen sie gewisse Fallen und Tücken auf, in die man tappen könnte. Wenn Sie nun an eine Stelle der Lesung gelangen, die Sie gerne genauer verstehen wollen, so halten Sie sich mindestens an folgende Schritte:

  1. Die Sprache ist kein Hindernis
  2. Den Vers vollständig durchlesen
  3. Umliegende Verse nicht vergessen
  4. Das Wort selbst und seine Mehrdeutigkeit beachten – der „Tunnelblick“
  5. Verse gleichen Themas zusammenstellen
  6. Nach Beispielen in der Lesung suchen
  7. Geduldig sein und Gott um Hilfe und Rat bitten

Sie müssen sich nicht an diese spezielle Reihenfolge halten. Manchmal wird Punkt 4 der wichtigste Punkt in ihrer Analyse sein, weshalb Sie diesen zuerst ausführen möchten. Wichtig ist aber, dass Sie jeden dieser Punkte anwenden.

Den ersten Punkt haben wir bereits erläutert, der zweite und dritte Punkt wurden auch eingangs mit Beispielen versehen. Die wirklich aufwändigen und zeitintensiven Schritte der Auslegung betreffen die Punkte 4 – 7. Dennoch werde ich hier der Vollständigkeit halber auf alle Punkte eingehen.

Studenten der traditionellen Islāmwissenschaft werden hier mindestens drei der folgenden sechs Kategorien für die traditionelle Methodik der Exegese wiedererkennen:

  1. Interpretation der Lesung durch die Lesung. (تفسير القرآن بالقرآن – tafsīru-l-qurʾān bil-qurʾān)
  2. Interpretation der Lesung durch die angebliche „prophetische Sunna“. (السنة النبوية – as-sunnatu-n-nabawiyyah)
  3. Interpretation der Lesung durch die angeblichen Aussagen der Prophetengefährten. (أقوال الصحابة – ʾaqwālu-ṣ-ṣaḥābah)
  4. Interpretation der Lesung durch die angeblichen Aussagen der Tābiʿīn. (أقوال التابعين – ʾaqwālu-t-tābiʿīn)
  5. Interpretation der Lesung durch die Sprache und der Philologie. (اللغة وعلومها – al-lughatu wa ʿulūmuhā)
  6. Interpretation der Lesung aufgrund von Meinung und gemeinsamer Übereinkunft. ( الرأي والاجتهاد – ar-raʾyu wal-idschtihād)

Es ist das ausdrückliche Ziel dieses Buches, aufzuzeigen, dass nur drei dieser sechs Kategorien, nämlich die erste, die fünfte und sechste, ausreichen für ein vollständiges Verständnis der Lesung. Insbesondere muss aber für eine zeitgerechte und vor allem der Lesung treu bleibende Auslegung die sechste Kategorie neu aufgerollt werden und kann nunmehr nicht allein aufgrund vergangener Gelehrtenmeinungen begründet werden, da sich diese auf die Vermutungen von Ḥadīṯ und Sunna stützen.

Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass diese Methodik bereits die Lesung selbst in sich beherbergt, weshalb ich sie als eine koranische Hermeneutik betrachte.

 

1. Die Sprache ist kein Hindernis

Der erste Punkt im Studium der Lesung ist verständlicherweise die Sprache. Die meisten der Gottergebenen, die an der Schrift festhalten wollen, wurden unterrichtet, dass die Lesung nur auf Arabisch verstanden und vorgelesen werden und dass keine Übersetzung je die exakte Bedeutung wiedergeben könne. Es ist wirklich unterhaltsam, dass die gleichen selbsternannten Gelehrten den Arabern sagen werden, dass die Lesung für sie „zu schwer“ zu verstehen sei und dass sie das Verständnis den „Experten“ überlassen sollten! Es sieht so aus, als ob Galileo Galilei solch eine Erfahrung ebenfalls gemacht habe, denn er soll einst gesagt haben:

 

„Ich fühle mich nicht zu dem Glauben verpflichtet, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Verstand ausgestattet hat, von uns verlangt, dieselben nicht zu benutzen.“

– Galileo Galilei, italienischer Mathematiker

 

Natürlich sagt die Lesung selber, dass die Sprache kein Hindernis darstellt um sie zu verstehen (41:44), da Gott Derjenige ist, Der ihn den Menschen erklärt (75:19, 55:2), die ihr Herz Ihm gegenüber öffnen (29:49). Es sei wiederholt, dass Gott die Menschen nicht mit „O ihr Araber“ oder „O ihr, die ihr Arabisch sprecht“ anspricht, sondern mit „O ihr, die ihr glaubtet“. Gottes Buch ist anders als jedes andere Buch auf Erden, da es Seinem System und Seinen Gesetzen entspricht. Das Verständnis wird an der Ehrlichkeit wie auch an der geistigen Reinheit der Leser gemessen und nicht allein an der Sprache, den Qualifikationen oder am Fachwissen:

 

56:77–80 Dass dies wahrlich eine edle Lesung ist. In einer wohl aufbewahrten Urschrift. Keiner kann sie erfassen, außer den Reinen. Eine Offenbarung vom Herrn der Welten.

 

Natürlich ist jegliches Fachwissen wie auch jegliches Können von Vorteil, aber keine Voraussetzung. Das Verständnis zum Beispiel des Wortes „ḥadīṯ“ lässt sich auch mittels Transliterationen und weiteren Hilfsmitteln erarbeiten.

Dieser Punkt ist auch deshalb so wichtig, weil jeder Mensch die Lesung aus seinem eigenen Blickwinkel heraus betrachten wird, ja muss. So wird der Philosoph andere Schwerpunkte setzen und andere Zusammenhänge erkennen als der Arzt, welcher im Normalfall die physiologischen Vorgänge im Körper besser begreift. Eltern, die erst vor Kurzem ihr Kind bekamen, haben in ihrem Leben andere emotionale Schwerpunkte als ein junger Mensch, der gerade seine Pubertät durchlebt. Durch bloßes Wissen und Können werden keine theologischen Inhalte erschlossen. Erst die Kombination ergibt die richtige Mischung, was uns auch in folgendem Vers sinngemäß mitgeteilt wird:

 

49:14 Die Araber sagten: Wir glaubten! Sage: Ihr glaubtet nicht. Aber sagt: „Wir haben uns ergeben“ bis der Glaube in eure Herzen eingetreten ist. Wenn ihr Gott und Seinem Gesandten gehorcht, wird Gott von euren Taten nichts mindern. Gott ist verzeihend, gnädig.

 

Nur durch das Aussprechen eines Satzes wie „ich glaube, dass es nur einen Gott gibt“, wird man laut den Prinzipien Gottes, die wir aus der Lesung entnehmen können, nicht automatisch zu einem Gläubigen. Dies hat auch mit der Bedeutung des arabischen Wortes Īmān zu tun, nichtsdestotrotz war dieser Vers an Araber gerichtet, denen die Erfahrung und die tiefe Überzeugung in ihrem Herzen noch fehlte.

Widerlegung von „Der Koran und die Koraniten“

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Satan,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen,

Die Homepage antikezukunft hat gegen unsere Auffassung, dass der Koran alleine für das religiöse Heil völlig hinreichend ist, mehrere Artikel verfasst. Eines dieser Artikel wurde bereits von uns widerlegt. Nun folgt, wie angekündigt, die Widerlegung des nächsten Artikels. Dieser zweite Artikel auf antikezukunft ist als eine Erweiterung zum vorangegangenen Artikel zu verstehen und überschneidet sich teilweise mit den Argumenten des Vorgängers. Ich gehe in dieser Widerlegung nur auf die Gegenargumente und nicht auf die am Artikelanfang angeführte Beschreibung ein, da die Widerlegung sonst zu umfangreich wird. Im Vergleich zu unserer Richtung schreibt der Autor über seine Strömung:

 

Die zweite Bewegung hält sich nicht nur an der gelebten Tradition (Sunna), sondern auch an dem schriftlich überlieferten Quellenmaterial fest. Ihre Herangehensweise wird im Grunde als die historisch–kritische Kontextualisierung bezeichnet.

 

Die so genannte historisch-kritische Methode versucht, im Unterschied zu den meisten anderen Gruppen, die Sekundärquellen zeitgemäß auszulegen. Ihr großes Manko ist allerdings, dass sie auf dieselben Quellen zurückgreifen wie alle anderen Strömungen. Dies wirft die Frage auf, wie diese Strömung sich im Recht glauben kann, das „richtige“ Verständnis der Ahadith zu repräsentieren im Gegensatz zu den restlichen Gruppen? Ein Beispiel: Alle vier sunnitischen Rechtsschulen ahnden den Abfall vom Glauben mit der Todesstrafe (Apostasie). Dazu beziehen sie sich auf Ahadith, welche dies legitimieren. Wie will diese Strömung dieses Verhalten verbieten, wo sie doch selbst aus den gleichen Quellen schöpft? Fahren wir fort:

 

“Für Islamoglu war das Projekt der Koranitischen Denkweise vor allem in Indien ohne weiteres eine Intention der Orientalisten gewesen, die vornehmlich bei den Muslimen den Gedanken hervorhebten, die Sunna (Lebensweise und Haltungdes Propheten) mitsamt ihrer Orthopraxie im Angesicht der Moderne als weit überholt verwerfen zu müssen.”

 

Wir sind weder Inder noch mit der indischen Kultur aufgewachsen. Einzig und allein ist der Wahrheitsgehalt einer Aussage ausschlaggebend für uns und nicht, woher das Argument abstammen mag (39:18, 10:38-39). Des Weiteren wurde bereits in der ersten Widerlegung die negative Darstellung von Orientalisten behandelt. Weiter schreibt der Autor:

 

Welchen Ansatz verfolgt eine historisch textualisierte Koranexegese?

Mit dem Ansatz der historischen Kontextualisierung sucht die islamische Koranexegese hauptsächlich die Nähe zu den Erstempfängern.

Sie (Anm.: die Sahabis) wurden direkt mit der Offenbarung konfrontiert, so dass dieser ihre Lage wie auch ihre Gesellschaftlichen Begebenheiten in seinem Kontext miteinbezog, wie dies im folgenden Koranvers ihren Ausdruck findet: „O ihr, die ihr glaubt! Fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch enthüllt würden, euch unangenehm wären; und wenn ihr danach zur Zeit fragt, da der Koran nieder gesandt wird, werden sie euch doch klar. Gott hat euch davon entbunden; und Gott ist All-verzeihend, Nachsichtig“ (5:101)

 

Auch alle anderen Gruppen verfahren hierzu gleichermaßen, indem sie die Nähe zu den Erstempfängern suchen, es ist also keine Besonderheit der „historisch textualisierten Koranexegese“. Es trifft zu, dass die Ṣaḥābah laut Koran zu verschiedenen Belangen Fragen gestellt haben. Der Autor will jedoch mit dieser Argumentation darauf hinaus, dass man für die Erschließung der betreffenden Koranverse Ahadith benötigt, was zu vielen Stellen im Koran einen Widerspruch darstellt. Für das religiöse Heil ist der Koran alleine völlig hinreichend (5:44,45,47, 42:10, 6:114). Dementsprechend sind die angeblichen Ahadith der Ṣaḥābah unnötig. Auch wenn manche Verse die damaligen Begebenheiten anschneiden, ist der Koran eine „Klärung aller Dinge“ (16:89, 12:11) in der Religion (5:3 – siehe auch die Diskussion mit dem Autor zu dieser Thematik). Die Ṣaḥābah spielen somit heute weder für uns noch für den Koran selbst eine Rolle. Im weiteren Textverlauf werden Überlieferungen präsentiert, also keine Koranverse, um die “historisch kritische Methode” zu legitimieren. Hierzu zitiert der Autor aus unsicheren Ahadithquellen Abdullah ibn Abbas:

 

Wenn ihr mich über ein ungewöhnliches Wort im Koran befragt, sucht es in der Dichtung wie zum Beispiel im arabischen Diwan.

 

Dazu folgende Koranverse:

 

20:97 Wir haben ihn eigens leicht gemacht in deiner Sprache, damit du durch ihn den Gottesfürchtigen frohe Botschaft verkündest und durch ihn hartnäckige Leute warnst. (Siehe auch: 39:27-28, 16:103, 43:3, 41:44, 26:192-195)

 

Der Koran ist also keinesfalls ein Buch mit sieben Siegeln, wie der Autor uns weismachen will. Es sei folgender Hadith zitiert, welcher der Argumentation des Autors diametral entgegen steht:

 

Wer mit dem Koran auskommt und sich nicht auf die Haltung einstellt, auf etwas weiteres nicht angewiesen zu sein, gehört nicht zu uns. (Bukhari, Tauhid, 44; Abu Dawud, Vitir, 20; Darimi, Salat, 171)

 

Ohnehin haben Ahadith im Koran keine Autorität und es gibt noch viele andere Koranverse, die diesem Hadith direkt widersprechen. Dann zitiert der Autor den Kalifen ʿUmar ibn al-Chattab:

 

O ihr Menschen! Sieht zu, dass ihr die Dschahaliyya Dichtung zusammen trägt, weil in diesem das Tafsir für euer Buch (dem Koran) vorhanden ist.

 

Dieser Hadith widerspricht der eben von mir angeführten Quelle. Denn er stellt klar, dass der Koran alleine für das religiöse Heil Sorge trägt. Der angeführte Hadith ist ein klarer Widerspruch zu 5:3, 6:114 und vielen anderen Versen. Schließlich könnte der Autor keine hinreichende Argumentation aufbringen, wonach sein Hadith richtig und meiner falsch wäre. Er will mit seiner selektiven Herangehensweise darauf hinaus, dass der Koran nicht “zur Ermahnung leicht” (54:17,22,32,40) und auch nicht in der “Sprache leicht” gemacht ist (20:97, 44:58), wie dies uns im Koran klar mitgeteilt wird. Somit steht dieses Zitat gegen die von Gott offenbarten Koranverse. Man muss den Autor auch dahingehend fragen, warum Gott etwas so Fundamentales wie die Erklärung des Korans, in unserem Falle die „Dschāhiliyya Dichtung“, an keiner Stelle im Koran erwähnt. Dieses außerkoranische Argument ist letztendlich uninteressant, da man aus Ahadith alles ableiten kann, wie zum Beispiel ihre Vernichtung laut ʿUmar ibn al-Chattab:

 

Omar schrieb den Gefährten des Propheten, die in anderen Städten lebten, Briefe, mit der Aufforderung, all die Kopien der Ahadith, die sie hatten, zu zerstören. (Ibn Abdil Berr, Camiul Bayanil Ilm ve Fazluhu 1/64-65.)

Es gab einen beachtlichen Anstieg der Anzahl an Ahadith während des Kalifats von Omar. Omar wünschte, dass alle Seiten, auf denen die Ahadith geschrieben wurden, die in der Hand der Öffentlichkeit waren, zu ihm gebracht werden. Dann ordnete er ihre Zerstörung an, indem er sagte: “Sie sind wie die Mischnah der jüdischen Leute.” (Ibn Sad, Tabakat 5/140)

Ibn Abbas erzählte: Als die Zeit des Todes des Propheten sich näherte, waren einige Männer im Haus und unter ihnen war ‚Umar Ibn al-Khattab. Der Prophet sagte: „Kommt näher und lasst mich ein Schreiben für euch schreiben, nach dem ihr nie vom rechten Weg abgehen werdet.“ ‚Umar sagte: „Der Prophet ist ernsthaft krank, und ihr habt den Quran. Gottes Buch genügt uns.“ … (Sahih al-Bukhari: 9.468 und 7.573)

 

Der Autor zitiert danach ʿAli ibn Abu Talib:

 

Fragt mich nach dem Buche Gottes. Es gibt keinen Koranvers, weder in der Dunkelheit noch am Tageslicht, wo ich nicht wüsste, weshalb und unter welchen Umständen es offenbart wurde.

 

Dazu gibt es einen zu dieser Haltung direkt widersprechenden Hadith von ʿAli ibn Abu Talib selbst:

 

Ali Ibn Abu Talib, der vierte Kalif, sagte in einer seiner Reden: „Ich ermahne alle, die Niederschriften vom Propheten haben, nach Hause zu gehen und diese zu vernichten. Die Leute vor euch haben sich selber fehlgeleitet, weil sie Ahadith folgten, die von ihren Gelehrten kamen [Anm.: Juden mit ihrer eigenen Hadith-Kollektion, beispielsweise Talmud]. Auf diese Weise verließen sie das Buch Gottes.“ (Sunan Al-Daramy)

 

Es wird bei diesen Argumentationen schließlich selektiv mit Ahadith umgegangen. Die Einstellung der vier Kalifen gegenüber den Ahadith ist eindeutig und deswegen existiert aus ihrer Zeit auch kein einziger Hadith. Weiter geht es folgendermaßen im Text:

 

Nach Abu Zaid hat der Koran eine spezielle sprachliche Kodierungsdynamiken angewendet, um seine Botschaft den Erstadressaten einwandfrei zu übermitteln: „Wir haben es als einen arabischen Koran hinabgesandt, auf dass ihr begreifen möget“ (12:1). Denn in einer Sprache ist zweifelsohne viel mehr als nur das gesprochene Wort enthalten.

 

Der Einwand:

 

6:19 Sag: Welches ist das größte Zeugnis? Sag: Gott (, Er) ist Zeuge zwischen mir und euch. Und dieser Koran ist mir eingegeben worden, damit ich euch und (jeden), den er erreicht, mit ihm warne.

 

Es ist also klar ersichtlich, dass der Koran nicht nur für das Umfeld des Propheten gesandt ist, sondern auch für andere Menschen erschließbar sein muss. Dazu nun folgender Vers:

 

41:44 Hätten Wir ihn zu einem fremdsprachigen Koran gemacht, hätten sie sicherlich gesagt: „Wären doch seine Zeichen ausführlich dargelegt worden!” Ob fremdsprachig oder arabisch, sage: “Er ist für diejenigen, die glauben, eine Rechtleitung und eine Heilung.” Und diejenigen, die nicht glauben, haben Schwerhörigkeit in ihren Ohren, und er ist für sie (wie) Blindheit. Diese sind, als würde ihnen von einem fernen Ort aus zugerufen.

 

Von nun an will uns der Autor anhand eines Beispiels davon überzeugen, dass der Koran nicht so einfach zu verstehen sei und man die Sprachgepflogenheiten der Ṣaḥābah beherrschen müsse:

 

Es gibt unzählige Beispiele im Koran, die diese Annahme bestätigen, wie z. B: „Er hat eure Ehefrauen, zu denen ihr sagt: “Ihr seid mir verwehrt wie der Rücken meiner Mutter, nicht zu euren Müttern gemacht“ (33:4).

 

Diese unzähligen Beispiele soll der Autor bitte anführen. Zum Beispiel mit dem Rücken: Die Redewendung ist hier selbst erklärend, denn es steht in seiner eigenen Erläuterung: Er hat eure Ehefrauen, zu denen ihr sagt: „Ihr seid mir verwehrt wie der Rücken meiner Mutter, nicht zu euren Müttern gemacht.“ Er hat zudem den koranischen Gesamtkontext nicht beachtet, nämlich dass es verboten ist, die eigene Mutter zu heiraten (4:23). Man muss hier also nicht wissen, was der Rückenschwur nun genau ist. Der Koran erklärt es hier selber. Die Verse 58:1-4 erklären den „Rückenschwur“ ausführlich genug. Weiter führt der Autor an, dass die klassischen Korangelehrten die „Offenbarungsanlässe“ (asbab an-nuzul) für eine der grundlegendsten Instrumente bei der Auslegung der Schrift hielten. Gott erachtete diese als nicht grundlegend, denn sonst würden sie in den Koran gehören und nicht in massiv verderbte Quellen. Dem Leser sei auch nicht vorenthalten, wie prekär es um die Offenbarungsanlässe denn selbst steht. Dazu folgendes Video eines Befürworters dieser Strömung. Die Offenbarungsanlässe werden im Koran nirgendwo erwähnt, schon gar nicht, dass diese die Koranverse erklären sollen. Gott allein erklärt den Koran laut 25:33, 55:1-2, 75:19, 11:1 und 6:114. Der Autor muss selber eingestehen:

 

Die Kritiker der „Offenbarungsanlässe“ bemängeln jedoch die zur Verfügung stehenden Materialien, weil nur ein Bruchteil der historischen Quellen schriftlich aufgezeichnet und bis in unsere Tage tradiert wurden. In al-Bukhari findet sich hierfür im 60. Buch der Titel mit der folgenden Überschrift „Buch der Kommentare“. Dort werden nur 358 Erläuterungen des Propheten zu fast ebenso vielen Koranversen aufgeführt, dass macht sage und schreibe 5,7 Prozent aller Koranverse aus.(29) Auch in den klassischen Korankommentaren wie z.B. die von al-Tabari (gest. 923), gehen nicht alle Überlieferungen bei der Erläuterung des Koran, anhaltend auf den Propheten selbst zurück. In seinem monumentalen Werk „Dschami al-Bayan´an ta´wil ay al-Quran“ werden geradewegs 3000 Überlieferungen, die freilich bis auf den Propheten zurück gehen sollen aufgezeichnet. Das macht bei den gesamt Überlieferungen in diesem Werk gerade mal 7,8 Prozent aus. Aus diesem Grund, können die Offenbarungsanlässe bei dem überwiegend größten teil der Koranverse keine Auskunft über die Hintergründe und deren Anlässe geben.

 

Festzuhalten ist dementsprechend, dass die Offenbarungsanlässe nur minimal bedingt helfen können, noch bevor man den Koran zu Rate gezogen hat. Solche Quellen werden im Buche Gottes nicht geduldet. Weiter lesen wir:

 

Die Methodik der Offenbarungsanlässe wird auch dahingehend kritisch betrachtet, weil es die Gefahr mit sich bringt, als sei die Offenbarung nur spezifisch und ursächlich für das siebte Jahrhundert relevant. Dazu Kommentiert Dr. Murad Wilfried Hofmann den folgenden Satz: „Es wäre allerdings eine Übertreibung, den Koran nur im Lichte der Offenbarungsanlässe auslegen zu wollen, als seien sie für die Offenbarung ursächlich gewesen oder schränkten ihre Bedeutung auf den konkreten Anlass ein“.”

 

Anfangs brauche man Offenbarungsanlässe, welche laut dem Autor von den klassischen Koranexegeten „für eine der grundlegendsten Instrumente bei der Auslegung der Schrift“ gesehen werden, jedoch nur einen sehr geringen Teil des Koran erklären. Dann soll man die Erklärung des Koran durch die Erstadressaten nicht ganz so ernst nehmen, um nicht ins siebte Jahrhundert zu verfallen? Damit sind die Offenbarungsanlässe der subjektiven Relativierung des Interpretierenden ausgeliefert! Wessen Ansicht soll hier dann der Maßstab sein? Die Erklärung für den Koran ist somit selbst erklärungsbedürftig und hat keine größere Relevanz? Wenn es also „passt“, benutzt man sie und wenn nicht, dann lässt man sie weg? Wie soll man mit Offenbarungsanlässen umgehen, die nicht mal ansatzweise vollständig und dazu noch voller Ungereimtheiten sind? Beispielsweise, dass es zu manchen Versen gleich mehrere unterschiedliche Offenbarungsanlässe gibt oder auch viele politisch motivierte, wie dies Mouhanad Khorchide selber zugeben muss im eben erwähnten Videobeitrag? Und nun versucht der Autor die Haltung, dass Gott für die Religion alleine ausreicht, direkt einer Widerlegung zu unterziehen. Dazu schreibt er:

 

Warum kann allein der Koran nicht für die kontextuelle Lesart ausreichen? Weil dadurch grundsätzliche Bestandteile und Informationen der Religion verloren gehen. Im Koran wird darauf hingewiesen, dass, bevor die Kaaba als Gebetsrichtung obligatorisch vorgeschrieben wurde, die Muslime ihre Gebete in eine andere Gebetsrichtung ausführten, wie dies aus den folgenden Versen ersichtlich wird. […] Ohne die tradierten Überlieferungen, würde die Information über die damalige und erste Qibla in Jerusalem vollkommen untergehen.

 

Quellen gehen nicht verloren, wenn man der Offenbarung alleine folgt. Allerdings ist die falsche Handhabung dieser Quellen, beispielsweise dass sie immense religiöse Autorität genießen dürfen, und die damit einhergehenden katastrophalen Folgen für Religion und Mensch Grund genug, sie abzulehnen. Der Koran ist jedoch geschützt von Gott (15:9) und die Quellen des Autors erwiesenermaßen nicht. Überhaupt: Könnte es machtpolitische Gründe gegeben haben, dass man diesen Hadith vielleicht erfand oder dass man dies nur erwähnt hat, um Jerusalem vor anderen Städten zu bevorzugen? Die im religiösen Rahmen unbrauchbaren Einzelheiten haben kein Ende. Wir müssen deshalb nicht alle Sekundärinformationen bis zum letzten Punkt erschließen, um die Religion zu verstehen. Fahren wir fort:

 

Auch die nachfolgende Koranverse erläutern nicht annähernd die Kaaba als die neue Gebetsrichtung dar, ..

Hier fragt man sich allen ernstes den „Koraniten“, wie man für die Gebetsrichtung auf die Kaaba kommt, ohne die jeglichen Überlieferungen zu konsultieren?

 

Es wird im Koran klar vorgeschrieben in Richtung der Masdschid al-ḥarām zu beten, wo sich auch mittendrin die Kaaba befindet. Der Autor hat sich weder mit den Argumenten der Gottergebenen, die sich auf Gott allein verlassen (65:3), gründlich auseinandergesetzt, wie nun deutlich wurde, noch den Koran an der richtigen Stelle aufgeschlagen, da Gott im Koran die Richtung angibt und dort ohnehin auch die Kaaba steht. Möchte der Autor den Gläubigen trotz Gottes Wort vorschreiben, dass statt der Masdschid al-ḥarām nur die Kaaba als gültige Definition gilt? Im Koran steht:

 

49:16 Sag: Wollt ihr Gott über eure Religion belehren, wo Gott weiß, was in den Himmeln und was auf der Erde ist? Und Gott weiß über alles Bescheid.

 

Unabhängig davon ist aus folgenden Versen klar ersichtlich, dass mit der Gebetsrichtung auch die Kaaba mit eingeschlossen ist:

 

5:97 Gott hat die Ka’ba (Al-Ka`bata), das geschützte Haus, zu einer Stätte des Gottesdienstes für die Menschen gemacht, und (ebenso) den Schutzmonat, die Opfertiere und die (Opfertiere mit den) Halsgehänge(n). Dies, damit ihr wisset, dass Gott weiß, was in den Himmeln und was auf der Erde ist, und dass Gott über alles Bescheid weiß.

2:127 Und (gedenkt,) als Ibrahim die Grundmauern des Hauses errichtete, zusammen mit Isma’iI, (da beteten sie): „Unser Herr, nimm (es) von uns an. Du bist ja der Allhörende und Allwissende.

2:125 Und als Wir das Haus zu einem Ort der Einkehr für die Menschen und zu einer Stätte der Sicherheit machten und (sagten): „Nehmt Ibrahims Standort als Gebetsplatz!“ Und Wir verpflichteten Ibrahim und Isma’il: „Reinigt Mein Haus für diejenigen, die den Umlauf vollziehen und die sich (dort) zur Andacht zurückziehen und die sich (vor Gott) verbeugen und niederwerfen.“ (Siehe auch besonders: 22:26-29)

 

Und das Spiel des Autors einmal auf ihn selbst umgekehrt: Man soll also zur Kaaba beten, gut aber zu welcher Seite oder genauen Stelle des Komplexes? Oder in welchem Abstand, wenn man vor der Kaaba ist? Oder soll man auch den schwarzen Stein anbeten oder ihn verehren, wie dies aus Ahadith hervorgeht:

Ahadith zum schwarzen Stein

Dem Propheten zugeschriebene Ahadith:

‘Abis bin Rabia berichtete: ‘Umar kam in die Nähe des schwarzen Steins und küsste ihn und sagte: “Kein Zweifel, ich weiß, dass du ein Stein bist, das mir weder Schaden noch Nutzen geben kann. Hätte ich nicht den Gesandten Gottes dich küssen sehen, hätte ich dich nicht geküsst.” (Bukhary, Band 2, Buch 26, Nummer 667)

Salim berichtete, dass sein Vater sage: ‘Ich sah den Apostel Gottes in Mekka ankommen; Ich sah ihn den schwarzen Stein küssen, während er die Tawaf tat und in seinen ersten drei Runden der sieben Runden machte er Ramal (des Tawafs).’ (Bukhary, Band 2, Buch 26, Nummer 673)

Ibn Abbas berichtete: Der Prophet machte ein Kamel reitend die Tawaf der Kaaba. Jedes Mal, wenn er vor dem schwarzen Stein war, zeigte er mit irgendetwas auf ihn und sagte Takbir! (Bukhary, Band 2, Buch 26, Nummer 682)

Der heilige schwarze Stein entstammt aus dem Paradies. Er war schneeweiß, doch die Sünden der Heiden schwärzten ihn. (Hanbal 1/307)

Der heilige schwarze Stein ist Gottes Hand auf Erden. Er schüttelt durch ihn die Hand der Auserwählten. (Dschami-us Sagir 1/151)

Artikel dazu: Ahadith in Widerspruch zur Logik und Auszüge aus der Hadith-Literatur

Das wäre Götzendienst! Und wenn dem so ist, wie lange soll man den schwarzen Stein verehren oder anbeten? Man muss doch bei etwas so wichtigem wie Religion bis zum letzten Detail angeleitet werden! Dann führt der Autor Hakki Yilmaz auf, um ihn für seine Interpretation der Gebetsrichtung zu kritisieren ohne ihn jedoch zu widerlegen. Aus Vers 2:144 wird klar ersichtlich, dass die Qibla als Gebetsrichtung zur Masdschid-al-ḥarām dient. Hakki Yilmaz geht jedoch in seinem Tafsirwerk auch auf dieses Argument ein, kann aber letzten Endes, meiner Meinung nach, nicht hinreichend überzeugen.

Auch die Interpretation von Hakki Yilmaz zu saqar wird vom Autor nicht widerlegt. Er müsste auch wissen, dass beispielsweise Prof. Yasar Nuri Öztürk das Wort saqar auch als Computer deutet (Kuran‘ daki Islam, S.20, Aufl. 42). Man muss auch dahingehend sagen, dass Hakki Yilmaz nur für einen Teil der Gottergebenen spricht und die meisten von uns ihm in seinen Ansichten nicht zustimmen.

Hinzu kommt, dass man dieses Spiel mit dem Autor noch viel drastischer spielen kann, indem man Ahadith vorgibt und ihm vorwirft, wie er die Autoren von solchen Behauptungen als Quelle annehmen kann und mit welchem Recht er einen Teil verwirft, andere wiederum akzeptiert. Als wäre dies nicht genug, kann man einen Vertreter seiner eigenen Strömung vorführen, welcher einen “Koran” veröffentlicht hat (Mustafa Öztürk) und diesen so auslegt, dass er angeblich oder möglicherweise die Meinung der Ṣaḥābah und des Propheten wiedergebe, also wie der Koran aufgrund massiv verderbten Sekundärquellen erschlossen werde. Der Autor dieses Buches macht auch keinen Hehl daraus, dass dies seine Eigeninterpretation sei und man den Koran eben so nicht einfach verstehen könne. Dieser angebliche historische Kontext, also Ahadith und Offenbarungsanlässe, kann den Koran jedoch eben alles aussagen lassen, abgesehen davon, dass dies gleich mehreren Koranversen direkt widerspricht (10:15, 6:115, 11:1, 12:1, 26.2, 44:58, 26:191-195, 20:97, 44:58).

Weiter:

 

Ein subjektives Koranverständnis kann den Koran in der Tat alles sprechen lassen und in die Schrift hinein projizieren, was man persönlich zu beabsichtigen sucht. Prof. Ömer Özsoy bemerkt dazu: „Fängt man einmal an, den Koran als übergeschichtlichen Text zu lesen, führt das zwangsläufig dazu, ihn über jeden möglichen Gegenstand sprechen zu lassen; und das ist nichts anderes als „Entstellung“ (tahrif)

 

Soll hier suggeriert werden, dass mit Ahadith und Offenbarungsanlässen auf einmal alles richtig verstanden werden kann? Genannt seien ISIS, Salafisten und noch alle andere Gruppierungen, die sich den Islam gerade mit Ahadith, und zwar von denselben Individuen, die sich auch der Autor bedient, so zurecht biegen, dass man den Koran alles sagen lassen kann. Keineswegs deutet unsere Strömung den Koran subjektiv, sondern achtet auf den Kontext im Koran (4:82, 25:33). Dem Autor sei folgender Vers ein Denkanstoß für seine Sekundärquellen:

 

15:91-93 Die den Koran auseinandergerissen haben. Bei deinem Herrn! Wir werden sie allesamt zur Rechenschaft ziehen. Für all ihre Taten.

 

Keiner der erwähnten Gruppen, also auch die des Autors, machen sich wirklich Gedanken darüber, wie man den Koran dahingehend auslegt, dass seine Verse innerhalb zu keinem Widerspruch stehen. Das bleibt ihnen natürlich verwehrt. Einmal in Ahadith versunken, kann man den Koran alles sagen lassen, eben was der Autor uns hier selber vorwerfen will. Stellt man sich alleine auf den Koran ein und achtet auf seinen klaren Kontext, wird eine subjektive Auslegung des Koran unmöglich. Fahren wir fort:

 

Zudem gibt es unzählige Koranverse, dessen Wortlaut nicht unbedingt auf dem ersten Blick erschlossen werden kann. Sie kann durchweg sogar zum negativen Verständnis des Lesers herbeiführen, weil der historische Anlass nicht im Wortlaut des Textes explizit zu erschließen ist

 

Dies widerpricht direkt dem Koran (27:1, 41:3, 54:17, 17:9). Hiermit stellt unser Autor Gott als zu unfähig hin, ein vollkommenes (6:115), in der Sprache leicht gemachtes (20:97) und leicht verständliches (54:22) Buch zu offenbaren und widerspricht damit Gottes Versen, die ein ganz anderes Bild vom Koran schildern. Somit ist die angeführte angebliche Problematik des Autors nur für diejenigen relevant, welche den Koran nicht ohne Sekundärquellen verstehen wollen. Für solche Behauptungen hat der Koran ja auch entsprechende Verse: 2:85, 17:45-46, 43:36-37, 18:57.

Ohnehin würden selbst viele liberale Anhänger der tradierten Sunna so einer Behauptung nicht zustimmen. Andersherum werden gerade durch Ahadith Koranverse entstellt, beispielsweise für politische oder kriegerische Zwecke. Und es geht hierbei nicht einfach nur um Randgruppen, sondern um große Kreise innerhalb derjenigen Gelehrten, die sich auf Offenbarungsanlässe oder andere Sekundärquellen verlassen wollen. Um die haltlose Argumentation zu bekräftigen schreibt der Autor:

 

wie dies unter anderem aus der Sure 64 Vers 14-15 demonstriert werden kann: „O ihr, die ihr glaubt, wahrlich, unter euren Frauen und Kindern sind welche, die euch feindlich gesonnen sind; so hütet euch vor ihnen […] „Eure Reichtümer und eure Kinder sind wahrlich eine Versuchung […]“.

Man beachte hier im Vers, dass Frauen und Kinder als eine ontologische Versuchung für den Mann impliziert und dementsprechend negativ assoziiert werden.

 

Der Autor achtet hier nicht auf den genauen Wortlaut, denn es werden nicht alle Frauen und Kinder pauschal mit “feindlich gesonnen” geahndet, sondern nur ein Teil. Dazu kommt, dass er das Wort „Frauen“ selektiv übersetzt. Das besagte Wort an dieser Stelle heißt „azwādschikum“. Viel schlüssiger übersetzt bedeutet dieses Wort „eure Partner“, also Ehemann und Ehefrau zusammen und nicht einfach nur Frauen (siehe folgenden Link, unter „de“ für Deutsch). Dazu schreibt Muhammad Asad:

 

D.h.:“manchmal sind eure Ehepartner…“ Da nach den Lehren des Qur’an alle moralischen Pflichten für Frauen wie für Männer bindend sind, ist offensichtlich, daß der Begriff azwadschikum nicht mit „eure Ehefrauen“ übertragen werden darf, sondern – nach klassisch arabischem Sprachgebrauch – als gleichermaßen auf männliche wie weibliche Ehepartner bezogen zu verstehen ist. („die Botschaft des Koran“ Muhammad Asad, S. 1068 Fußnote 11, Patmos Verlag)

 

Bayraktar Bayrakli kommt zum selben Schluss in seinem Tafsirwerk. Auch Edip Yüksel und Ali Riza Safa (beide die traditionelle Sunna ablehnend) übersetzen gleichermaßen. Die Wurzel des Wortes macht es im klassischen Arabischen ohnehin ersichtlich. Einer der berühmtesten, der Tradition verschriebenen klassischen Gelehrten, Qurtubi, bestätigt zum betreffenden Vers in seinem Tafsirwerk unsere Argumentation (el-Câmiu li Ahkâmi’l-Kur’an, Band 17 S.401 Absatz 3, Buruc Yayinlari). Dass manche klassische Exegeten mit „Frauen“ übersetzen und somit seine Bedeutung verkürzen hat den Grund, dass sie den Vers an entsprechende Ahadith mit Bezug auf Frauen gekoppelt sehen.

Nun zum Argument des Autors, dass man in 64:14 generell „einen Schuldzuspruch aller Frauen auf der Welt“ sehen könne. Obwohl das Wort mit „Partner“ besser übersetzt ist und das Argument des Autors keinesfalls für alle Frauen gelten kann, nehmen wir einmal an, dass diese Übertragung stimme. Selbst mit der selektiven Übersetzung dieses Verses ist die Einstufung als frauenfeindlich übertrieben. Denn es gibt viele Verse im Koran, in denen Gott den meisten Menschen, also auch Männern, Ableugnung attestiert. Keinesfalls stehen generell ein Teil der Frauen und Kinder vor den Männern schlechter da oder sind den Gläubigen pauschal feindlich gesinnt. Wir sehen in den Koranversen 37:147-148, dass der Prophet Jonas ein ganzes Volk zum Glauben bringt. Es ist deswegen nicht richtig die Behauptung aufzustellen, dass jedes Mal, wenn es eine Gruppe von Gläubigen gibt, es dann auch immer Frauen oder Kinder von ihnen geben muss, die diesen feindlich gesinnt sind. Man kann hier also sagen, dass dieser Vers einmal die damaligen Gläubigen ansprach, da schon ohnehin die meisten Menschen, einschließlich Männer, als Ableugner beschrieben werden (11:17, 6:116, 12:103, 13:1).

Zusätzlich ist dieser Vers noch heute für uns wichtig, also universell auszulegen, damit wir daran erinnert werden, Gott über alles und jeden zu stellen – Frauen wie auch Männer. Schließlich sieht der Koran in Frauen und Männern Gläubige wie auch Ableugner. Diese Tatsache macht es unmöglich, dass durch die Erwähnung der teilweise feindlich eingestellten Frauen (mit der selektiven Übersetzung), einfach generell immer ein Teil der Frauen den männlichen Gläubigen gegenüber feindlich eingestellt sein müssen. Mindestens der Vers 30:21 zeigt uns, dass Frauen wie auch Männer für das jeweilige Gegengeschlecht eine Ruhe, Barmherzigkeit und Liebe bedeuten. Auch in 9:71 werden die Frauen positiv erwähnt.

Nun zum Argument, „dass Frauen und Kinder als eine ontologische Versuchung für den Mann impliziert“ seien. Die Verse lauten:

 

64:14-15 O die ihr glaubt, unter euren Partnern und euren Kindern gibt es welche, die euch feind sind; so seht euch vor ihnen vor. Wenn ihr aber verzeiht, nachsichtig seid und vergebt – gewiss, so ist Gott vergebend und barmherzig. Euer Besitz und eure Kinder sind nur eine Versuchung; Gott aber – bei Ihm gibt es großartigen Lohn.

 

Nur die Kinder und der Besitz werden als Versuchung gesehen, nicht auch die durch den Autor selektiv übersetzten „Frauen“. Die Frage ist nun: Sind Kinder wirklich einfach wie Besitz als eine Versuchung einzustufen? Natürlich nicht. Kinder waren damals ein Machtstatus (9:69, 9:85, 18:32-46). Somit sind Kinder selbst nicht pauschal eine Versuchung, sondern der Umstand, die Kinder als Machtsymbol und Stärke anzusehen. Dadurch entfernt man sich davon, sich ganz auf Gott alleine einzustellen. Daran ist aber das Kind selber nicht schuld. Auch werden Kinder im Koran differenziert betrachtet. Als Gläubige (18:81) wie auch Ableugner (18:80). Überhaupt werden auch die Grundzüge der Erziehung von Kindern, am Beispiel des Sohnes von Luqmān, im Koran umschrieben (31:13-16, siehe auch: 46:15-18, 2:83, 4:36). Hieraus wird unmissverständlich klar, wie Kinder sich gegenüber ihren Eltern zu verhalten haben. Damit wurden auch die weiteren Behauptungen des Autors zu diesem Thema, wie etwa die Wiedergabe der Ansicht von Abu´l Lays Samarkandi (dazu: Unzucht treibende Männer werden in 24:2 mit Unzucht treibenden Frauen zusammen erwähnt und im dritten Vers sogar der Mann zuerst), einmal mehr ins ad absurdum geführt. Wichtig zu erwähnen wäre zudem, dass unser werter Samarkandi kein Korananhänger ist, sondern sich der angeblichen Sunna bedient. In der gleichen Quelle, Band 4 auf Seite 298, legitimiert Samarkandi die Steinigung durch die Sunna:

 

… die Steinigung ist durch die Sunna legitimiert. Unser Prophet (s.a.v.) ließ die verheirateten Unzucht begehenden durch Steinigung, unverheiratete durch 100 Hiebe bestrafen, …

Samarkandi, Tefsiru´l Kuran, Bd. 4, S.298, Özgü Yayinlari 2007.

 

Die Steinigung wird im Koran jedoch ausgeschlossen. Nach der so genannten „Methodologie der Rekontextualisierung“ des Autors müsste er jetzt Steinigung gutheißen, was aber dem Koran selbstverständlich widerspricht (10:15).  Nun soll unser Autor folgende frauenfeindliche Ahadith hier alle widerlegen:

 

O das weibliche Geschlecht! Gibt Almosen und bereut. Ich habe gesehen, dass die Mehrheit der Höllenbewohner aus Frauen besteht. (Muslim, Iman 34/132; Ibn Madsche, Fiten 19/4003.)

Wenn ein Mann seine Frau zu Bett ruft und sie lehnt (die Einladung) ab, werden sie die Engel bis zu den frühen Morgenstunden verfluchen. (Bukhary 9/36)

Eine von einer Frau geführten Gesellschaft ist eine dem Untergang geweihte Gesellschaft. (Ibn Hanbal, Musnad 5/43,50; Tirmidhi, Fitan 75 ; Nesai, Kudat 8; Bukhary, Fiten 18.)

Nimmt keine Ratschläge von Frauen an; setzt euch gegen sie, denn die Opposition gegenüber Frauen bewirkt Wohlstand. (Suyuti, Leali II, 147; Ibn Arrak, Tanzihush Sharia II, 210.)

 

Und man achte bei diesen Ahadith auf die Quellen, von denen hier die Rede ist. Der Autor könnte gar nicht daran herum kommen, als diese Ahadith selektiv auszuschließen. Er könnte keine hinreichende Argumentation aufbringen, welche diese Ahadith entkräften während er einem anderen Teil der Ahadith Autorität gibt, gerne in den selben Quellen, wo vielleicht nur ein paar Seiten weiter kritische Ahadith zu Frauen stehen. Die einzige Möglichkeit ist nach wie vor diese Quellen religiös rigoros komplett zu negieren. Weiter schreibt der Autor sich auf die im Koran erwähnten Schutzmonate beziehend:

 

Ohne die historischen Berichte dazu, würden sämtliche Informationen über den Hintergrund der vorislamischen Zeit fehlen. Auch an dieser Stelle kann berechtigt den Koraniten die Frage gestellt werden, wie sie auf solche Hintergrund Informationen gelangen können, wo sie doch nichts anderes als nur den Koran akzeptieren?

 

Es besteht kein Bedarf, dass der Koran aus Quellen erklärt werden soll, welche voller Widersprüche und Lügen sind. Zu den Schutzmonaten gibt es auch einen umfassenden Artikel.

Nochmals sei zum obigen Anhang betont, dass wenn die Pilgerfahrt im Sinne der Ahadith gedeutet wird, dies schwere Konsequenzen für die Praxis nach sich zieht. Sie schränken den Zeitraum des Hadsch drastisch ein und deswegen gab und gibt es immer wieder Tote oder Verletzte durch den daraus resultierenden großen Andrang zur Kaaba. Und wieder einmal wird deutlich, dass unser Autor sich kaum die Mühe gemacht hat, unsere Ansichten zu studieren.

Um die Verse 12:111 und 16:89 zu entkräften, dass hier „alles“ nicht wirklich alles meine, führt der Autor die Verse 27:16 und 18:84 an und schreibt:

 

Im ersten Vers wird vom Propheten Salomo berichtet, wohin dieser sagte, dass Gott ihm alles beschert (kulli šayˈin) hatte. Wenn „kulli šayˈin“ tatsächlich alles im wörtlichen bedeuten sollte, weshalb gelang es Salomo dann nicht seinen Tod aufzuhalten?”

 

Es gilt die goldene Faustregel: Solange etwas mit “alles” bezeichnet wird, ist auch wirklich alles gemeint. Sonst gäbe es das Wort „alles“ im Arabischen nicht. Wenn man beispielsweise auf Deutsch zu irgendeiner Sache oder einem Thema “alles” sagt, dann bedeutet dies entweder wirklich alles, oder der Kontext schränkt das Wort “alles” ein, was auch nahezu immer der Fall ist. Zu argumentieren, dass „alles“ einfach generell nicht alles hieße, bringt im Koran folgenschwere Logikfehler mit sich. Natürlich ist in 16:89 und 12:111 mit “alles” nicht wirklich jede auch nur erdenkliche Information gemeint, sondern „alles“ wird kontextuell auf die Religion beschränkt (5:3). In diesem Rahmen wird dann alles erklärt. Dies kann man auch aus dem Vers 6:114 erschließen durch das Wort mufaṣṣal, was so viel bedeutet wie vollständig detailliert und deutlich erklärt.

Der Autor muss belegen, dass “kulli” (alles) insoweit verkürzt werden muss, dass Gott den außerkoranischen Ahadith eine Autorität gibt. Das ist aus dem Koran her nicht möglich, man kann es nur auf die Religion einschränken. Zu der Argumentation, warum der Tod nicht außer Kraft gesetzt werden kann, lässt sich auch wie folgt begründen. Gott bestimmt alles Mögliche für die Menschen und in 3:185 wird festgelegt, dass jede Seele den Tod kosten wird. Dass im Vers zu Salomo “alles” nicht alles mögliche mit einschließt, ist aus dem Vers selbst zu entnehmen. Denn dann wäre es widersinnig, dass Salomo erwähnt, dass ihm die Sprache der Vögel gelehrt wurde. Somit kann man schon am Vers selbst erkennen, dass ihm hier nicht alles mögliche, was auch Gottes Allmacht umfasst, gegeben wurde. Gott sagt im Koran:

 

51:56 Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur (dazu) erschaffen, damit sie Mir dienen.

 

Dementsprechend hat der Autor wieder einmal den Korankontext missachtet und somit ist anzumerken, dass was Salomo unter “alles” bezeichnet, keinesfalls wirklich alles meinen kann, da er sonst wie Gott selbst wäre, wiederum man aber auch nicht genau ermitteln kann und muss, was „alles“ nun genau mit einschließt. Die Argumentation bezüglich 18:84 ist analog.

Kommen wir nun zum wichtigsten Gegenargument: Wenn man wie der Autor „alles“ auf „nicht wirklich alles“ einschränkt, dann ist Gott auch nicht mehr allmächtig, und zwar in allen Versen, wo derselbe Begriff vorkommt:

 

29:20 Sag: Reist auf der Erde umher und schaut, wie Er die Schöpfung am Anfang gemacht hat. Hierauf läßt Gott die letzte Schöpfung entstehen. Gewiß, Gott hat zu allem die Macht.

Transkription:
Qul Sīrū Fī Al-‚Arđi Fānžurū Kayfa Bada’a Al-Khalqa ۚ Thumma Al-Lahu Yunshi’u An-Nash’ata Al-‚Ākhirata ۚ ‚Inna Al-Laha `Alá Kulli Shay’in Qadīrun (siehe auch: 28:88, 33:27, usw)

 

Die komplette Liste von كل شى (Kulli Shay’in) im Koran sei den Leserinnen und Lesern zusätzlich empfohlen, um zu vergleichen. Kommen wir nun zum letzten Argument, am Ende schreibt der Autor:

 

In seinem Werk „Mecazul´l-Quran“ erwähnt Abu Ubayda Ma´mer ibn ul-Muthanna (gest. 825) ein Dialog zwischen Umar ibn al-Chattab (gest. 644) und ibn Abbas (gest. 688), in dem überliefert wird: „Bestürtzt fragte Umar seinen Gefährten ibn Abbas: „Obwohl die Qibla, das Buch und die Religion eins sind, warum gibt es dennoch Meinungsverschiedenheiten in unserer Umma?“ Woraufhin Abbas sagte: „Wir wussten genau auf wem und weshalb die Koranverse offenbart wurden. Aber jetzt wissen sie es nicht. Deshalb interpretiert ihn jetzt jeder nach seinem eigenen Gutdünken. Wenn sie jedoch auch wie wir wüssten, über wem und weshalb die Verse offenbart wurden, so würden auch sie, ganz bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten haben“.

 

Das ist wirklich interessant. Die Ṣaḥābah, welche für den Propheten und den Islām ihr Leben riskiert haben, bekommen auf einmal eine Generalamnesie und wissen nicht mehr, warum jeweilige Koranverse hinabgesandt wurden und laufen wie verirrte Schafe umher. Aber Herr Ibn Abbas hat mit Umar zusammen noch alles richtig in Erinnerung! Dass Offenbarungsanlässe auf die Ṣaḥābah zurückgeführt werden, führt diese Argumentation ins ad absurdum.

Anmerkung: Die Gegenüberstellungen der Ahadith in diesem Artikel dienten nur dazu, die Diskrepanzen dieser Quellen aufzuzeigen. Der Koran ist in Bezug zu allen außerkoranischen Ahadith unmissverständlich ablehnend.

 

Fazit

Der Autor konnte mit seinem Artikel nicht belegen, dass man für die Religion neben Offenbarungen andere Quellen nehmen muss. Er hat die immensen Problematiken der Sekundärquellen nur geringfügig beachtet. Fast nur bei den Offenbarungsanlässen hat er die Problematiken teilweise erwähnt und sich dahingehend selbst widerlegt. Schließlich wollte er aber dem Leser suggerieren, dass man mit den Sekundärquellen den Koran „richtig“ verstehen könne und hat dabei die weitaus wichtigeren Problematiken außerhalb der Offenbarungsanlässe, nämlich den viel umfangreicheren restlichen Ahadith, größtenteils ausgelassen. Sein Beispiel zu der Problematik, dass Apostasie seit Jahrhunderten mit dem Tode geahndet wird, wurde nur erwähnt aber keinesfalls gelöst. Er konnte nirgendwo schlüssig belegen, warum manche Ahadith „historisch kritisch gesehen“ richtig und andere falsch sind. Es wurden auch bei nicht wenigen seiner Argumente die Beachtung des Kontextes innerhalb des Korans oder das klassisch Arabische vernachlässigt. Manchmal wurden sogar Verse nicht einmal vollständig gelesen, woraus dann haltlose Behauptungen aufgestellt wurden. Auch die anfangs und am Ende aufgeführten, selektiven Zitate aus den Ahadith konnten schnell widerlegt werden. Die Problematik für den Autor ist offensichtlich und nicht schön zu reden. Sobald er sich in das Terrain der Ahadtih begibt, finden sich unzählbare Gegenargumente vor, die man ihm entgegenhalten kann, vom Koran selbst noch abgesehen. Sein Versuch, diese ganzen Problematiken durch eine angebliche „kritische“ Herangehensweise zu umgehen, sind schnell widerlegt und viel wichtiger: In der Praxis anderer Sunnaanhänger oft noch anders beurteilt.

 

Im Namen der Religion den Koran als unzureichend zu sehen, bedeutet Gott als unzureichend zu sehen. Ihr sagt zu Gott regelrecht „du hast ein unvollständiges Buch geschickt.“ (Prof. Bayraktar Bayraklı)

 

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