Koran

Weltfremdheit und Abnormität – Wie Freitagspredigten unwissentlich ihres Potentials beraubt wurden

Man stelle sich heute eine Freitagspredigt in einer beliebigen Moschee in Deutschland vor, wie sie abgehalten wird und wie dann plötzlich eine Frau unter den Sitzenden auftaucht und laut von sich gibt, dass sie nicht mit dem einverstanden ist, was der Prediger von sich gibt – ein Ding der Unmöglichkeit, so wie es heutzutage scheint. Doch das ist nicht immer so gewesen. Ein Blick in die Geschichte gibt Aufschluss darüber.

Denn zu Zeiten des Kalifen Omar ist Ähnliches passiert. Im Vorfeld hatten sich einige junge Männer beim Kalifen beschwert, dass Brautgaben so hoch geworden sind, dass sich kaum einer eine Eheschließung leisten konnte. Daher nahm Omar seine Freitagspredigt als Anlass, um bekannt zu geben, dass es von nun an einen Höchstsatz geben solle. Da sprang eine Frau aus der vor ihm sitzenden Menschenmenge auf und legte Einspruch ein, indem sie einen Vers aus dem Koran zitierte, der die Festlegung einer Höchstgrenze für nichtig erklärt:

4:20 „Und wenn ihr eine Gattin anstelle einer anderen eintauschen wollt und ihr der einen von ihnen Schatz gegeben habt, dann nehmt nichts davon zurück (…).“

eigene Übersetzung

Omars Reaktion sinngemäß: „Jeder weiß Bescheid, außer ich! Hiermit erkläre die Festlegung einer Höchstgrenze für ungültig!“

Da frage ich mich persönlich, was ist bei uns schief gelaufen, dass sowas mittlerweile undenkbar geworden ist. Schließlich heißt es in der traditionellen Lehre einhellig, dass man sich in der Ausübung der Religion an die Zeit des Propheten und seine Gefährten orientiert. Aus diesem Grund wird heute zum Beispiel auch das Feiern von Geburtstagen verboten, weil es der Prophet auch nicht täte. Doch was wäre, wenn ich sage, dass das Freitagsgebet in der Anfangszeit des Islams vor der Predigt abgehalten wurde und der einzige Grund, warum Gebet und Predigt in die uns heute bekannte Reihenfolge getauscht wurden, ein pragmatischer war, nämlich der, dass man die Gefahr sah, dass alle nur noch zum Gebet kommen und sich danach aus den unterschiedlichsten Gründen schnell wieder verabschieden würden, woraus Chaos entstehen würde? Erst recht dann angesichts der Tatsache, dass der Islam in seiner Anfangsphase schnell an Mitglieder gewann. Mittlerweile wurde das Leben des Kalifen Omar verfilmt und jeder kann die Geschichte um Omar und der zwischenredenden Frau spätestens jetzt mit eigenen Augen sehen. Wieso fragt keiner nach dem Warum? Welche Lehren können aus dieser Geschichte gezogen werden?

Die Frage nach dem „Normalen“ im Islam in Bezug auf die Freitagspredigt

Wenn wir uns noch einmal jene Geschichte vor Augen führen, dann stellt sich folgende Frage: Was ist das Normale, was das Abhalten von Freitagspredigten angeht? Wenn unsere jetzige Situation der Maßstab sein sollte, dann wird sich immer wieder die Frage stellen müssen, warum es damals anders als jetzt war. Sprich: Warum es damals üblich war, in einer Freitagspredigt dazwischen zu reden, und heute nicht. Oder warum sich Frauen und Männer damals während der Predigt gemeinsam in einem Raum aufhalten durften und heute nicht. Oder warum es nicht verpönt war, dass die Frau in Gegenwart fremder Männer ihre Stimme erheben durfte und heute schon. Darauf wird es meines Erachtens nach keine zufriedenstellende Antwort geben. Im Gegenteil: In unserer heutigen Tradition gibt es einige Überlieferungen, die die Teilnahme an der Freitagspredigt regeln, in denen es z.B. heißt, dass man während der Predigt komplett still sein soll und dass man kein Wort sagen darf, außer es ist zwingend notwendig. Geschweige denn von der dezidierten Haltung der Muslime, Männer von Frauen in der Moschee voneinander zu trennen.

Wenn aber die damalige Situation das eigentlich Normale sein sollte, dann kann es meines Erachtens nach gute Gründe geben, dies anzunehmen. Auf diese werde ich nun im Einzelnen zu sprechen kommen:

Die historische Figur Omar

In der Tradition gilt Omar als charismatischer Typ, ist grob in seiner Art und hat eine starke Persönlichkeit. Er macht für gewöhnlich keinen Hehl daraus, wem gegenüber er feindlich gesinnt ist. Bekannt war er auch für seine Nähe zu seiner Familie, seinen Gefährten und seinem Volk und orientierte sich am Wohlergehen aller. Doch war er in seinem Handeln auch harmoniebedürftig. Denn seine Ernennung zum Kalifen war alles andere als demokratisch im Sinne des bereits damals bekannten und in wichtigen Angelegenheiten, die die damalige, noch junge und in politischer Hinsicht instabile muslimische Umma betrafen, angewendeten schūrā-Prinzips. Dennoch stieg das Kalifat unter seiner ca. zehnjährigen Herrschaft zur neuen Großmacht im Nahen Osten auf und er schloss zahlreiche Verträge mit der eroberten Bevölkerung.

Sein harter und grober Umgang und sein Temperament verleiteten ihn öfter dazu, unüberlegt Absichten zu fassen und Worte in den Mund zu nehmen, die er daraufhin selbst revidiert. Dazu gehört u.a. die Absicht, den Propheten zu töten. Das war in seiner Zeit vor Annahme des Islams, denn es kam bekanntlich anders. Dazu gehört auch seine Aussage unmittelbar nach dem Tod des Propheten: „Ich töte mit diesem meinem Schwert jeden, der sagt, Mohamed sei tot!“

Diesen Angaben nach zu urteilen, klingt es für mich glaubwürdig, dass sich das Ereignis um die Frau und Omar in der Freitagspredigt so oder so ähnlich abgespielt haben muss. Omar war dem Anschein nach selbstkritisch genug. Und dass er auf die Kritik der Frau eingegangen ist und seine Anweisungen revidiert hat, zeugt von einer glaubwürdigen Autorität Omars und einer ebenso hohen Stellung der Frau. Und um sie soll es im Folgenden gehen.

Die zwischenredende Frau

Bekannt ist weder ihr Name noch, dass sie ein höheres Amt oder eine wichtige Funktion unter dem Kalifen Omar bekleidete, sodass sie zu seinen engen Vertrauten zählte. Man muss sich das noch einmal vorstellen: Eine x-beliebige Frau steht mitten in einer wichtigen Predigt auf und bietet jemandem Paroli, der nicht gerade für seine sanfte Art bekannt ist, wenn ihm gegenüber Gegenwehr geleistet wird, jemand, der eine noch junge islamische Nation führen musste und der als Oberbefehlshaber seiner Armee zahlreiche Kriege koordinierte. Wir haben zwar bereits gesagt, dass Omar sehr volksnah war und sich sehr um das Wohlergehen seiner Leute kümmerte, sodass er diesen Einwand zuließ. Dies steigert natürlich das ohnehin schon hohe Ansehen Omars in der sunnitischen Tradition als einer der rechtgeleiteten Kalifen und engen Weggefährten des Propheten. Doch die einseitige Fokussierung auf Omar tut nicht nur der Frau Unrecht, für die es anscheinend normal war, mitten in der Predigt einfach aufzustehen und ihr Wort gegen das des Kalifen zu erheben.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die islamische Religion mit ihren ca. 1,8 Milliarden Anhängern weltweit im Laufe von Jahrhunderten fest etabliert hat. Es gibt unzählige Moscheen, feste, religiöse Riten und eine überwiegend gemeinsame Weltanschauung. Jemand, der heutzutage als Muslim geboren wird, kennt die Dinge, die ihm beigebracht werden, nur auf jener Art und Weise, wie er sie dann auch überall auf der Welt sieht. Und wenn sich heutzutage eine Frau Mut fasst und während der Freitagspredigt in den Männerbereich der Moschee eintritt und lautstark sagt: „Mir passt es nicht, was du sagst!“, was würde dann passieren?

Tagelanger Aufruhr in der entsprechenden Moscheegemeinde und Umgebung, unzählige TikTok-Videos und Facebook-Diskussionen, eine Sondersendung „hart aber (un)fair“ mit null Vertretern aus dem muslimischen Alltag, eine Distanzierung des Zentralrats der Muslime von dieser Aktion, mind. fünf aufeinanderfolgende Freitagspredigten in den Moscheen Deutschlands mit dem Thema „Verhaltensweisen bei Freitagspredigten nach dem Vorbild des Propheten“ und natürlich eine Menge Kanonenfutter für Seyran, Alice und Konsortium.

Das kollektive Gedächtnis der Muslime

Der Tadel ist weder an der einzelnen Moscheegemeinde noch an den einzelnen Gläubigen gerichtet. Ohnehin richtet sich meine Kritik nicht an Personen, sondern an den Problemen, die hinter der Fassade stecken. Und das Problem, womit wir es hier zu tun haben, deckt das auf, woran die heutigen Muslime stillschweigend leiden und wo es zunächst keinen Ausweg zu geben scheint: das kulturelle, muslimische Erbe, aus dem das kollektive Gedächtnis der Muslime entspringt.

Es ist träge, blind und verschließt sich vor tiefgreifenden Veränderungen, die sowohl notwendig als auch von großem Nutzen sind. Ich betone nochmal: ich tadele nicht den einzelnen Gläubigen. Denn er kann durchaus einsichtig sein, mit dem inneren Auge sehend und er kann offen für Veränderungen sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich durch die Einsicht des Einzelnen oder mehrerer Einzelner gleichsam das kollektive Gedächtnis der Muslime verändert. Dass dieses Gedächtnis so ist, wie es ist, hat gleichwohl nicht nur mit kulturellen und religiösen Gründen zu tun, sondern auch mit gesellschaftlichen, historischen und politischen. Doch um diese soll es hier zunächst nicht gehen.

Doch es ist verblüffend, wie ich meine, dass Millionen von Menschen weltweit die Serie des Kalifen im TV sehen oder von der Geschichte mit ihm und der Frau hören, ohne dass es einen Ruck durch die Masse gibt, welches ein Bewusstsein dafür schafft, dass etwas mit uns nicht in Ordnung sein könnte. Denn, wie ich bereits ausgeführt habe, muss man sich ganz klar die Frage stellen, welches der beiden Situationen die eigentlich Normale im Islam ist: unsere jetzige oder die in dem Beispiel Geschilderte. Und wenn es Letztere ist, so gibt es heute drei Hürden, die gemeistert werden müssen und die das kollektive Gedächtnis der Muslime nachhaltig verändern dürften:

  1. Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt. Dies führt jedoch zum Konflikt mit der überlieferten Tradition.
  2. Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen.
  3. Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens.

Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt

Wenn wir nun auf die erste Hürde näher eingehen und sich Geschichte und Tradition augenscheinlich widersprechen, stehen wir vor einem elementarem Problem im Verständnis dessen, was als islamisch im religiösen Sinne gilt. Weder waren wir Zeugen der Geschehnisse um Omar und die Frau im 7. Jahrhundert noch sind wir selbst die Begründer der religiösen Tradition, wie wir sie heute kennen. Und wenn ebendiese Tradition zweifellos hergibt, dass während der Predigt absolute Stille geboten ist, dann ist der Konflikt zwischen Geschichte und Tradition ein unlösbarer. Da ist es für den Einzelnen natürlich wesentlich einfacher, sich dem Druck der Tradition zu beugen und die Dinge so in die Hand zu nehmen, wie sie seit Generationen üblicherweise gehandhabt werden, als sich religiös und sozial zu isolieren, indem persönlichen Erkenntnissen der Vorzug gewährt werden. Denn Isolation wäre die unweigerliche Folge dessen, wenn man sich in der rituellen Praxis von der Tradition löst.

Wir sagten bereits, das kollektive Gedächtnis der Muslime ist um Dimensionen träger und uneinsichtiger als der einzelne Gläubige. Doch es wäre falsch, anzunehmen, dass es sich um ein genuin islamisches Problem handelt. Vielmehr ist es ein menschliches. Auf das kollektive Gedächtnis der Muslime, seine Struktur und seine Schwächen werde ich an anderer Stelle ausführlich eingehen.

Was meiner Meinung nach zum Konflikt zwischen jahrhundertealter Tradition und individuellen Erkenntnissen passt, ist das Gleichnis von Abraham und seinem Volk in Sure 21 (Verse 51 – 73). An dieser Stelle werde ich das Gleichnis in seinen für uns wichtigsten Punkten zusammenfassen:

Abraham wird als ein besonnener Mensch beschrieben, der die Schöpfung eingehend studierte und unerschütterliche, persönliche Einsichten gewann. Sie stützen auf Gott, dem Schöpfer der Welt, und auf Seine Schöpfung, in der Abraham einen fortlaufenden Wandel erkannte1. Seine Einsichten verliehen ihm Gewissheit und Mut, woraufhin er auf Konfrontationskurs mit seinem Volk ging, das einer dezidiert traditionellen Weltanschauung angehörte, indem es sich vorzugsweise an Größen der Vergangenheit orientierte. Dieser Konflikt mündete in der Entscheidung Abrahams, die Idole der Vergangenheit bis auf den Größten von ihnen zu zerstören. Abraham zur Rede stellend, verlangte sein Volk nach einer Erklärung, ob er der Schuldige war. Da verwies er auf jenen Größten. Doch war dieser aufgrund seiner Beschaffenheit zu keiner Erklärung fähig. Daraufhin wich das anfängliche Schuldbewusstsein des Volkes Abrahams der anschließenden Selbstentlarvung, dass die Idole der Vergangenheit zu keiner Erklärung im Hier und Jetzt fähig sind (nämlich was die Zerstörung der anderen Idole oder im übertragenen Sinne den von Abraham erkannten Wandel angeht, der keinen Platz in ihrer Tradition hat). Doch war diese Selbstentlarvung kein Startschuss für einen Paradigmenwechsel seitens des Volkes. Vielmehr versuchte man mit allen Mitteln, das Althergebrachte zu schützen und Abraham zu bestrafen, was sich schließlich als erfolglos herausstellte. Denn schlussendlich gehörten sie zu den „größten Verlierern“ (21:70).

Und spätestens jetzt sieht man: Dieses Gleichnis hat einen direkten Bezug auf uns Muslime im Hier und Jetzt. Wir müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein, wenn wir feststellen, dass wir Muslime in unserer heutigen Welt einen schweren Stand haben und in ähnlicher Weise zu den größten Verlierern gehören. Nicht nur, dass die islamische Religion aus ihrer jahrhundertealten Kultur- und Religionsgeschichte entrissen und zum Spielball globaler Mächte zweckentfremdet werden konnte, mit dem politische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden, die weit jenseits denen der Muslime liegen. Vielmehr leidet die Mehrheit der Muslime in der westlichen Gesellschaft unter einer erdrückenden Fremdwahrnehmung, die gleichsam aufgezwungen wie überholt scheint und der muslimischen Diaspora keine Möglichkeit eines grundlegenden, wahrnehmbaren Paradigmenwechsels gewährt.

Zugegeben, dass Muslime während der Predigt dazwischen reden dürfen sollen, ist allein keineswegs die Rettung der Muslime aus ihrer Misere. Genauso wenig ist es ratsam, die Tradition samt ihrer überaus gehaltvollen Geschichte einfach über Bord zu werfen, sodass bloße Wortspielereien übrig bleiben, die genauso wenig erfolgsversprechend sind, wie die einseitige Fixierung auf die religiöse Tradition. Was aber von grundlegender Bedeutung für uns Muslime ist, gründet in der Tatsache, dass wir zeit unseres Lebens dem Konflikt zwischen individuellen Erkenntnissen und überlieferter Tradition ausgesetzt sein werden, das uns permanent eine Entscheidung abverlangt – eine Entscheidung, die wir selbst im besten Wissen und Gewissen basierend auf unserer Willensfreiheit im Hier und Jetzt treffen müssen. Und in der Fähigkeit, die Dinge so zu priorisieren, wie wir es für richtig und wichtig erachten, liegt meines Erachtens nach unser Heil. Das erfordert Mut, Gewissheit und ein gewisses Maß an Unerschütterlichkeit hinsichtlich der eigenen Überzeugungen, die uns dazu befähigen, unsere Tradition aus der Vogelperspektive zu betrachten und zu erkennen, dass außerhalb der hohen Mauern der Tradition eine Menge grüne Fläche für uns ist, welche wir nutzen können.

Denn das, was die zerstörten Idole im Gleichnis Abrahams symbolisieren, sind einzelne Elemente aus unserer islamischen Tradition, die bei näherem Blick widersprüchlich erscheinen und Fragen aufwerfen, wie es z.B. die Geschichte um die Frau und den Kalifen Omar bereits tat. Es gibt viele weitere Beispiele hierfür, wie etwas das Verbot von Meeresfrüchten ausschließlich für Anhänger einer bestimmten Rechtsschule oder die Existenz mehrerer Überlieferungen zu ein- und demselben Ereignis mit unterschiedlichen, ideologienbefeuernden Wortlauten. Was hat es dann mit dem Größten auf sich, der unversehrt blieb?

Das ist eine grundlegende Frage, die sich jeder von uns stellen muss: Wer ist in unserer eigenen Historie derjenige, der die Grundlage für unsere religiöse Tradition geschaffen hat, wie wir sie heute seit Generationen vererbt bekommen haben? Asch-Schāfiī mit seiner Aussage, der Prophet habe zwei Offenbarungen (nämlich Koran und Sunna) erhalten, basierend auf Sure 53 Vers 3: „und er redet nicht aus eigener Neigung.“? Oder Buchārī, der nach den strengsten Kriterien aus 600.000 Überlieferungen 2800 (ohne Wiederholungen) als Grundlage für die islamische Rechtswissenschaft, den sog. fiqh, ausgesucht haben soll? Wenn dem so ist, wo ist dann z.B. Hadith Nr. 278 in Buchārīs Sammlung einzuordnen? Doch ganz gleich, ob es Asch-Schāfiī oder Buchārī ist, sind konkrete Namen zweitrangig. Denn egal, wer es ist: Kann einer von denen uns im Hier und Jetzt helfen und uns eine Antwort darauf geben, warum die Geschichte etwas anderes hergibt, als es die Tradition vorschreibt? Oder auf die Frage, aus welchen 600.000 Überlieferungen gerade diese 2800 ausgesucht wurden und nach welchen Kriterien? Oder wie Asch-Schāfiī darauf kommt, dass der Prophet zwei Offenbarungen erhalten habe, und wie seine Koranhermeneutik aussieht? Das sind alles Erklärungen, die uns im Hier und Jetzt fehlen. Wir Muslime müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein und müssen konstatieren, dass die Probleme, in denen wir uns heutzutage befinden, bis zu einem gewissen Grad hausgemacht sind. Und es ist diese offene Kritik, die wir Muslime annehmen müssen und die ein Anlass dafür sein soll, unsere religiösen Regeln neu zu definieren, auf dass wir bald zu einer ähnlichen Selbstverständlichkeit und Entschlossenheit gelangen, die auch die Frau im Beispiel Omars in sich trug. Denn das, was die Frau und Abraham gemeinsam haben, sind unerschütterliche, persönliche Einsichten.

Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen

Die Gesundheit einer Gesellschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, wie es um das Thema Geschlechtergerechtigkeit geht. Auch hier möchte ich nicht an bestehende, öffentliche Debatten anknüpfen, die den Islam per se als frauenfeindlich abzustufen versuchen o.Ä. In Wahrheit geht es mir hier noch einmal in Anlehnung an der von mir angeführten zweiten Hürde um eine Gegenüberstellung der Frau im Beispiel mit dem Kalifen Omar und der Frau, deren Vorgaben zur Teilnahme an Freitagspredigten in der Tradition streng reglementiert sind. Streng nicht nur, weil es die traditionelle, islamische Rechtslage doppelt und dreifach vorschreibt durch Heranführung von Überlieferungen des Propheten und von Konsensbeschlüssen, die von irgendwelchen Muslimen irgendwann getroffen wurden. Streng auch, weil der kulturelle (und ich sage bewusst nicht religiös!!) Druck seitens der traditionell orientierten Muslime heutzutage immens ist, wenn man auch nur im Ansatz versucht, an diesen Grundpfeilern zu rütteln. Nochmal: Hier geht es noch gar nicht darum, dass Frauen und Männer gemischt zusammen beten oder dass Frauen predigen sollen, sondern „nur“ dass Männer und Frauen gemeinsam in einem Raum an der Predigt in der Moschee teilhaben dürfen sollen. Warum ist dies so wichtig?

Einfach, weil es ein Gebot des Respekts, der Wertschätzung und der Würdigung gegenüber der Frau ist, der gleichermaßen das Recht zur Teilhabe an der Freitagspredigt gewährt werden muss, wie der Mann sie für sich als natürlich gegeben gewusst haben will, was der bekannten Aussage „Im Islam sind die Rechte von Mann und Frau gesichert!“ meines Erachtens nach den wahren Inhalt gibt. Frauen sind heutzutage Doktoren und Nobelpreisträger geworden, führen Kinderarztpraxen und leiten internationale humanitäre Organisationen und sie soll genau dann an Wert einbüßen, wenn sie erst am Hinterhof vom Hinterhof ihre eigene, 1,5 m hohe Eingangstür zur Moschee findet und 200 Treppenstufen runterläuft, bis sie ihren als Gebetsraum getarnten, miefigen Zimmer im Keller ohne Heizung oder Warmwasser findet, um dort zu beten und die Predigten zu hören? Nur um dann die Worte eines selbsternannten Imams namens bin Asyl zu hören, der in Saudi-Arabien an 20 Sitzungen teilnahm und so den „Islam“ gelernt haben will? Mit den Inhalten solcher Predigten werde ich mich ohnehin bei der dritten Hürde auseinandersetzen.

Und selbst wenn sich die Muslime irgendwann dazu durchringen sollten und den Teilnehmenden ermöglichen, während der Freitagspredigt ihren eigenen Input zu liefern, was ist mit den Frauen? Schreiben sie ihr Anliegen auf einem Zettel und lassen kleine Kinder als Mittler hin und her laufen? Oder kramt man aus dem Keller des Kellers ein seit 10 Jahren vergessenes Steckmikrofon heraus, welches sich nur zur Hälfte reinigen lässt, durch den die Frau dann in geboten leiser Stimme spricht und beim Empfänger nur Kauderwelsch ankommt? Der Wert der Frau in der Moschee ist weit mehr als nur der Zettel, auf dem irgendwelche Worte stehen, mehr als das Kauderwelsch, das aus dem Lautsprecher tönt, und mehr als der Raum, in dem sie sich befinden. Das, was viele Frauen auf dieser Welt an Würde, Standhaftigkeit und Barmherzigkeit gegenüber ihren heimlichen wie offenen Peinigern haben, ist um ein Vielfaches höher, als noch mehr muslimische Männer jemals haben werden. Mit dieser gefährlichen, einer Farce gleichenden Selbsttäuschung muss endlich Schluss sein! Da brauchen wir auch keine Feinde, die den Islam als rückständig abstempeln.

Diese meine Worte lesen sich an dieser Stelle sicherlich emotional und konfrontativ. Doch nur so, denke ich, kann endlich ein Bewusstsein für diese Misere geschaffen werden, in der wir wie in Treibsand gefangen sind. Daher halte ich dieses Problem für genauso wichtig und fundamental und dessen Folgen für unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung für genauso fatal wie der vorher beschriebene Konflikt zwischen Geschichte und Tradition.

Was die Frau in Bezug auf Freitagspredigten angeht, soll es in der Tradition eine Überlieferung geben, die besagt, dass die Pflicht zur Teilnahme an Freitagspredigten für fünf nicht vorgeschrieben sei: Die Frau, das Kind, den Kranken, den Reisenden und den Sklaven2. Andere Überlieferungen legen den Frauen nahe, lieber im eigenen Zimmer anstatt sonst irgendwo zuhause und lieber irgendwo zuhause anstatt in der Moschee der Gemeinde zu beten. Doch noch schlimmer als diese Behauptungen – so muss ich sie in aller Deutlichkeit benennen, denn ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, dass der Prophet Mohammed etwas in der Art gesagt haben soll – ist die omnipräsente Scheu vor Vermischung von Männern und Frauen in der muslimischen Community, die seltsamerweise nur dann zum Tragen kommt, wenn es in Richtung Moschee zum Gebet geht. Aber auch nur dann! Keine sonstige Veranstaltung und sei sie noch so religiös bzw. islamisch gibt Anlass genug, verstärkt auf die Geschlechtertrennung zu achten, wie es beim Beten oder bei der Freitagsgebet der Fall ist (Randgruppen ausgenommen).

Doch bleiben wir weiterhin bei der Predigt. Ein beliebtes Totschlagargument ist der Punkt mit der Ablenkung. Man könne sich nicht auf das Wesentliche, also auf den Inhalt, konzentrieren, wenn beide Geschlechter im selben Raum einer Predigt zuhören. Damit sind wir wieder beim Thema Selbsttäuschung. Warum sollte man sich als nüchterner, vernünftig denkender Mensch – und das kann jedem unterstellt werden, der sich aus freien Stücken zur Moschee begibt – genau dann ablenken lassen, wenn man sich zur Moschee begibt, um sich eine Predigt anzuhören, woraus man Nutzen zieht? Was ist mit der Ablenkung in den Vorlesungssälen und in den Laboren? In den Rathäusern und den Bibliotheken? Was ist mit den Konsumhöllen unserer Hemisphäre? Den schleichenden Indoktrinationen und den erbarmungslosen Teilenden und Herrschenden? Und außerdem: Was ist das für ein Menschenbild, das wir als islamisch propagieren? Und wo war die Ablenkung zur Zeit der zwischenredenden Frau und des Kalifen Omar in unserem Beispiel? Dieser Konformismus tötet. Wacht auf!

Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens

10.02.2023: Erste Freitagspredigt (Gedächtnisprotokoll) nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei mit Zehntausenden Opfern und noch mehr Verletzten:

„O ihr edlen Geschwister! Schwer getroffen hat das Erdbeben unsere Geschwister in der Türkei und Syrien und hat eine hohe Zahl an Toten und Verletzten gefordert. (…) Liebe Geschwister! Ihr müsst wissen, dass dieses Erdbeben nur eine Strafe für unsere Sünden sein kann. Sünden, die wir tagtäglich begehen, die wir nicht mal mehr registrieren und gering schätzen, wobei sie bei Gott fürwahr schlimm sind! Frauen, die keinen Kopftuch mehr tragen. Und selbst wenn sie sie tragen, dann nicht nach den Regeln der Sunna (…).“

Es sind Worte, die die perfekte Steilvorlage für die Erklärung der dritten Hürde liefern. Denn der obige Auszug aus der Freitagspredigt ist alles andere als ein Beweis dafür, dass die Frau dem Mann als ebenbürtig erachtet wird. Zumal es sich um einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen den universellen Grundsatz im Koran „Keine Seele trägt die Last eines anderen!“ darstellt, das die Opfer, insbesondere Kinder, sowie alle (Nicht-)Kopftuchträgerinnen auf der Welt auf schreckliche Weise verhöhnt, wenn sich ein selbst ernannter Imam dazu erdreistet, im Namen der Muslime ein solches Urteil über das Schicksal Tausender Menschen zu fällen, während er selbst danach das Gebet leitet im Aberglauben, Gott vergebe die Sünden seiner Diener von diesem Freitag bis zum nächsten – eine Überlieferung und gleichzeitig ein Freibrief für alles, was „nicht so gemeint“ bzw. „unabsichtlich“ gewesen sei. Wenn dem so sei und die Überlieferung stimmen sollte: Hat Gott nicht die Sünden all jener Männer und Frauen vergeben, die bei der letzten Freitagspredigt (in dem Fall ganz konkret vom 03.02.2023) dabei waren? Und wenn das Erdbeben eine Strafe wegen dieser angeblichen Vergehen sein soll, warum geschah es dann in der Türkei und Syrien mit einem höheren Anteil kopftuchtragender Frauen als in Deutschland bspw.? Hätten wir hier nicht viel mehr das Erdbeben „verdient“ nach dieser Logik? Und vor allem: Warum müssen Kinder dafür büßen?

Sicherlich kann sich jeder mit gesundem Menschenverstand wesentlich mehr über diese Aussagen des Imams über die angeblichen Ursachen für das Erdbeben auslassen. Doch hier tritt offensichtlich das zum Vorschein, woran die muslimische Community krankt: die anhaltende und übertriebene Fixierung auf eine Tradition, die gemessen an ihren Werten und Grundsätzen längst nicht mehr den eigentlichen Bedürfnissen der Muslime von heute überall auf der Welt entspricht und gleichsam einen idealen Nährboden für jene narzisstischen, rückständigen, realitätsfremden, patriarchalischen, dreisten, selbstverherrlichenden und frauenfeindlichen Äußerungen, wie der obigen, liefern. Solche Äußerungen sind keine Seltenheit. Denn die Tradition produziert im Prinzip nichts anderes als fatalistische Nachplapperer, denen die Fähigkeit, frei und eigenständig zu denken, abgewöhnt wird. Solche Äußerungen spiegeln eine Haltung wider, die stillschweigend von vielen Muslimen angenommen wird und die mithilfe der Tradition eine Parallelwelt erzeugt, die mit den tatsächlichen Lebensbedingungen der Wirklichkeit nur wenig übereinstimmt.

Ausnahmen bestätigen die Regel und es mag sicherlich den einen oder anderen geben, der zwar der Tradition als solches folgt, sich aber bewusst mit ihr auseinander setzt und einen zeitgemäßen Glauben zu etablieren versucht. Trotzdem müssen jene trotz ihrer aufstrebenden Anzahl als Randerscheinung gelten, denn sie verändern das kollektive Gedächtnis der Muslime bis dato nur in einem sehr geringen Ausmaß. Und damit wurde das Zauberwort der Heilung nach meinem Dafürhalten genannt: Veränderung.

Es braucht eine tiefgreifende, paradigmatische Veränderung im kollektiven Gedächtnis der Muslime, die es ermöglicht, den Fokus auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Muslime – ganz gleich, ob als Individuum, in der Gemeinschaft oder in der Gesellschaft – zu lenken und die erdrückende Last der Tradition zu überwinden. Diese Veränderung besteht meines Erachtens darin, die gesamte Tradition, das kulturelle Erbe der Muslime, in ihrem historischen Entstehungskontext zu setzen und ihr den religiös-konstitutiven Anspruch zu entziehen. Alle vermeintlichen Anweisungen aus dieser Tradition entstanden aus einer Zeit, deren Maßstäbe nicht denen unserer Zeit entsprechen können. Und wie wir bei der ersten Hürde gesehen haben, ist der Konflikt zwischen Tradition und Geschichte ein unüberwindbarer, wenn an Ersterer mit allen Mitteln festgehalten wird.

Nun mag man einwenden, wenn die Tradition als religiöse Quelle aufgegeben wird, verlieren wir unsere muslimische Identität. Nein! Wir verlieren eine Identität, die andere Menschen vor etwa 1300 Jahren für uns gezeichnet haben. Diese ist jedoch nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen dagegen unsere muslimische Identität neu entdecken, indem wir ganz genau in uns hineinhorchen und erfühlen, was unsere geheimsten Wünsche und Ziele als ehrliche, gottgläubige Muslime sind. Nur so kommen wir aus unserem Schlamassel raus. Die Tradition zu historisieren, bedeutet auch nicht zwangsläufig, die rituelle Praxis aufzugeben. Es geht dabei vorrangig um unseren Platz als Muslime in Kultur und Gesellschaft. Und nur so sind wir dazu in der Lage, jene frauenfeindlichen, narzisstischen und rückständigen Elemente hinter uns zu lassen und die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann zu erreichen. Denn die Tradition ist durchsät von Grundsätzen einer vormodernen, patriarchalischen, erneuerungsresistenten und rückwärtsgewandten Geisteshaltung.

Veränderung als Ausweg

Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Herbeiführen einer Veränderung die schwierigste Herausforderung ist, der man sich stellen kann. Auch hinterlässt uns die Aufgabe der Tradition ein großes, religiöses Vakuum, das es mit neuen Inhalten zu füllen gilt – Inhalte, die in einem innermuslimischen, ergebnisoffenen Diskurs besprochen werden müssen und die die wichtigen Themen unserer Zeit repräsentieren. An diesem Diskurs muss jeder – ob Mann oder Frau – beteiligt sein dürfen, dem die Zukunft der muslimischen Community am Herzen liegt. Eine solche Veränderung ist absolut notwendig und von grundlegender Bedeutung. Der erste Schritt wäre, wenn alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, wozu auch die Freitagspredigt zählt, dafür aufgewendet werden, unsere wirklichen Bedürfnisse als Mitglieder der muslimischen Community zu identifizieren und zu erfüllen. Dazu braucht es vor allem Mut und eine starke Persönlichkeit. Ähnlich wie sie die Frau in der Geschichte um den Kalifen Omar hatte. Spätestens dann, wenn kopftuchtragende Frauen für Erdbebenkatastrophen verantwortlich gemacht werden, muss es genauso Leute geben, die während der Predigt aufstehen und sagen: „Nein! Das akzeptiere ich als gottgläubiger Muslim nicht! Im Koran steht, dass keine Seele die Last eines anderen trägt!“. Das muss das neue „normal“ werden! Indem die drei Hürden überwunden werden und das Primat des überzeugendsten Arguments gemäß dem gesunden Menschenverstand herrscht. Was es braucht, sind Pioniere, die mit gutem Beispiel vorangehen und die Grenzen des Üblichen sprengen. In diesem Sinne: Lasst uns alle ein Beispiel an der Frau in Omars Geschichte nehmen!

Fußnoten:

1 vgl. auch Sure 6 Verse 74 – 79

2 https://www.islamweb.net/amp/ar/library/index.php…. Hier der entsprechende Konsensbeschluss: https://dorar.net/feqhia/1592/المطلب-الأول-من-لا-تجب-عليهم-الجمعة.

pro choice posters at a building

Schwangerschaftsabbruch

Am Thema Schwangerschaftsabbruch lassen sich einige Prinzipien des Koranverständnisses aufzeigen. 

Zunächst ist da die gute alte Forderung der Frauenbewegung „Mein Bauch gehört mir“. Kein Mann und keine andere Frau, das versteht sich von selbst, darf über den Körper einer Frau verfügen. Nur sie allein darf bestimmen, was sie mit ihm macht, was sie bereit ist zu erleiden und was nicht.

Auf der anderen Seite ist da die Forderung des Koran: Tötet eure Kinder nicht aus Armut (6:151). Wobei Armut stellvertretend für all die Notlagen steht, in die Menschen kommen können. Was also tun? Lassen sich die beiden Forderungen versöhnen und wenn ja, wie?

Gott bleibt im Koran nicht bei der Forderung stehen. Noch im selben Vers macht Gott ein Versprechen: Wir sorgen für euch und für sie. 

An anderer Stelle unterscheidet Gott zwischen den sich Ergebenden – muslimun – und den Vertrauenden – mu’minun; oft als Gläubige übersetzt. Die Wurzel hamza-mim-nun weist aber eher auf Sicherheit, festes Vertrauen und Verlässlichkeit hin. So wie in Bezug auf die Kinder wirbt Gott im Koran an vielen Stellen um das Vertrauen der Menschen, mit Hinweis auf die Perfektion der Schöpfung, in welcher der Regen herabfällt, um das Land wiederzubeleben, all die Nahrungsmittel, die uns gegeben wurden. Auch im Folgevers zu Vers 6:151 folgt der Forderung nach Gerechtigkeit das Versprechen, niemanden über seine/ihre Kräfte hinaus zu belasten.

Gott kennt uns, ist uns näher als unsere Halsschlagader (50:16), und weiß, dass das Vertrauen in Gott die Voraussetzung dafür ist, auch in schwierigen Situationen dem Din (Entscheidung, Lebensweise, Verpflichtung) zu entsprechen. Deshalb gibt es auch keinen Zwang im Din (2:256), weil Zwang und Vertrauen sich ausschließen. Dieser Vers ist also nicht nur eine Forderung, es soll keinen Zwang im Din geben, sondern auch die einfache Feststellung, dass Zwang in keiner Weise den Din herstellen kann.

Um auf die Frage der Schwangerschaft bzw. Schwangerschaftsunterbrechung zurückzukommen, bedeutet dies also, es ist besser, das Kind auszutragen, aber das setzt (in schwierigen Situationen) Gottesvertrauen voraus. Kein Mann und keine Frau hat das Recht, eine andere dafür zu verurteilen, wenn dieses Vertrauen nicht vorhanden ist. Umgekehrt ist die Gesellschaft verpflichtet, Situationen zu schaffen, die das Vertrauen zumindest auf materiell-psychisch-sozialer Ebene herstellen. Das heißt: keine Verurteilung, Herabsetzung, Verspottung der Schwangeren, die es nicht geschafft habe zu verhüten, die nur auf ihren eigenen Spaß aus sei, kein Versperren der Bildungschancen und eine finanzielle Sicherung sowieso.

photo of a white muslim mosque

Das Wort ‚heilig‘

Eine der Herausforderungen beim Verstehen der Lesung (Koran) ist die Einordnung von Wörtern, wie dies bspw. beim Wort heilig deutlich wird. Ein korrektes Verständnis der Mehrdeutigkeit gewisser Wörter, aber auch der Bedeutungsunterschiede und klare Abgrenzungen sind wichtig. Grammatik und Semantik sind nur zwei Bereiche. Auch die Methodik des Interpretierens ist wesentlich.

Das Wort heilig wird im Alltag in verschiedener Form gebraucht wird: der heilige Koran, der heilige Prophet, der heilige Engel, heilige Menschen usw. Wie wird das Wort im Koran verwendet? Sollten wir dabei auf unsere Wortwahl achten, religiös gesehen?

Heilig auf Deutsch und Arabisch

Als religiöses Adjektiv bedeutet heilig auf Deutsch erhaben über alles Irdische, unantastbar, von Gottes Geist erfüllt, gottgeweiht und stammt wahrscheinlich vom althochdeutschen heilagheilīg ab, was wiederum geweiht, heilbringend, zum Heil bestimmt, fromm bedeutet. Eine weitere Ausgangsbedeutung kann jmdm. ausschließlich eigen, ganz, vollständig sein. So kann dann von heiliges Wesen, göttliche Vollkommenheit, Unantastbarkeit, Heiligkeit, Frömmigkeit, Heiligtum oder Sakrament die Rede sein.

Dadurch wird die Suche nach dem entsprechenden arabischen Wort schwierig. Wörter wie muqaddas (geheiligt) oder haram (verboten, tabuisiert, unantastbar) können auch diese oben beschriebene Bedeutungsvielfalt umfassen. In dem Sinne ist es auf Deutsch nicht falsch vom heiligen Propheten zu sprechen. Die Große Moschee von Mekka wird al-masdschid al-haram genannt. Das kann aber auch daran liegen, dass der Aufenthalt in dieser Moschee mit einem direkten Kriegs- und Kampfverbot verknüpft ist. Der Frieden in der Moschee ist also ein unantastbares Tabu. Generell haben Moscheen eine wichtige Bedeutung, da es den gläubigen Menschen untersagt ist sich in Moscheen aufzuhalten, die nicht für die Gerechtigkeit (qist, adalah) und Rechtschaffenheit (taqwa, sulh, birr), also den Weg Gottes (sabîlu-llah) einstehen (9:107-109).

Die arabische Wurzel für heilig

Klassisch wird die Konsonantengruppe qâf-dâl-sîn (q-d-s) als Ausgangswurzel genommen. In der Lesung (Deutsch für Koran) wird die Wurzel wie folgt verwendet:

  • Einmal in 2:30 als zweiter Verbstamm qaddasa, um Gottes Souveränität zu verehren
  • Dreimal (5:21, 20:12, 79:16) als passives Partizip des zweiten Verbstammes muqaddas/ah, um den geweihten Zustand eines Ortes zu betonen:
    • Zweimal als al-wâdi al-muqaddas = das geheiligte Tal (Tuwa)
    • Einmal al-ard al-muqaddasah = die geheiligte Erde
  • Viermal in Verbindung mit dem Geist der Heiligkeit (nicht Heiliger Geist): rûh al-qudûs
  • Zweimal als Gottesname al-quddûs: Der Heilige

So wird klar, dass auch in der Lesung semantische Bedeutungsnuancen des Wortes heilig verwendet werden im Sinne von ganz, ungeteilt, vollständig, vollkommen oder auch gesund.

Außerdem werden in arabischen Wörterbüchern wie dem Lisanu-l-‚arab (Die Sprache der Araber) für die Bedeutung des Begriffs muqaddas auch Umschreibungen wie mubârak (gesegnet) und mutahhar (rein, sauber) wiedergegeben. Diese beiden Eigenschaften werden direkt im Zusammenhang mit der Offenbarungsschrift erwähnt:

Dies ist ein Buch, das Wir zu dir hinabsandten, gesegnet, damit sie über seine Zeichen nachsinnen und damit die Einsichtigen es bedenken.
kitâbun anzalnâhu ilayka mubârakun liyaddabbarû ‚âyâtihi wa-l-yatadhakkara ‚ûlû l-albâb

38:29

Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorträgt
rasûlun min Allahi yatlû suhufan mutahharatan

98:2 Hanif-Übersetzung

Der Begriff gesegnet wird auch für Gesandte, Friede sei auf allen, gebraucht, z. B. in 19:31 oder 37:113; ebenfalls für Orte, z. B. in 23:29, oder auch für einen Baum als besondere Energiequelle in 24:35. Der Ausdruck rein oder gereinigt wird auch für Menschen gebraucht, siehe bspw. in 3:42, 3:55, 5:41, 8:11 oder besonders in 9:108.

Abgrenzung zur deutschen Sprache

Alles in allem hat zwar die Umschreibung heilig auch eine christliche Konnotation. Dennoch ist dieser Begriff auch im Sinne der Alltagssprache auch für die Lesung (Koran) und die Gesandten nicht fragwürdig. Im Alltag sagen wir ja auch Herr Abdullah. Aber im religiösen Sinne ist Gott allein unser aller wahrhaftiger rabb (Erhalter, Herr). Dennoch ist es auch religiös gesehen nicht falsch, Herr Abdullah zu sagen.

Muqaddas stellt ein passives Partizip des zweiten Verbstammes dar, bedeutet also geheiligt und nicht heilig. Aus gutem Grund wird der Geist der Heiligkeit mit qudus (قُدُس) erwähnt. Es ist sprachlich falsch hier vom Heiligen Geist zu reden, richtig ist der Geist der Heiligkeit. Gott wird mit Al-Quddûs (الْقُدُّوسُ), also der Heilige beschrieben. Die Engel heiligen Ihn direkt in 2:30 (nuqaddisu laka, kein Passiv). Das Land hingegen wird in passiver Form als geheiligt (muqaddas) beschrieben. Das Adjektiv heilig wird nirgends für irgendeinen Propheten oder Gesandten gebraucht im Koran. Der einzig Heilige und die Quelle aller Heiligkeit ist somit Allah, unser formloser, geschlechtsloser, unerschaffener Schöpfer.

Hier können wir einwenden, dass all dies sprachliche Spitzfindigkeiten sind. Dennoch finden wir diese wichtig, da kein Wort in der Lesung (Koran) zufällig gewählt ist. Aus demselben Grund sagen wir auch nur zu Gott mawlânâ (unser Beschützer, Meister, Verbündeter, Schutzpatron). Dieses Wort dient in der Alltagssprache im religiösen Kontext als Ehrentitel für Menschen. Sufis weltweit sagen zum Mystiker Rumi mevlana (türkische Schreibweise). Ebenfalls nennt man gewisse Religionsgelehrte in manchen Ländern so. In der Schrift kommt dieses Wort nur für Gott alleine vor.

Fazit

Synonyme aus den Wörterbüchern bedeuten nicht, dass diese Wörter miteinander gleichzusetzen sind. Linguistisch sollten wir also exakt bleiben. So ist haram auch nicht einfach heilig, sondern die Wurzel H-r-m hat in der Grundbedeutung mit einer Tabuisierung, z. B. im Sinne einer Unantastbarkeit zu tun. Aus dieser Grundbedeutung heraus entspringen dann Ableitungen wie haram (verboten, „tabuisiert, etwas zu tun/sagen/konsumieren“) oder hurma (z.B. Respekt, im Sinne von „es ist ein Tabu, respektlos zu sein“). Haram mit heilig gleichzusetzen führte zu merkwürdigen Widersprüchen, etwa dass Schweinefleisch dann auch plötzlich heilig sein könnte und deshalb nicht zu essen wäre. Die Haram-Moschee ist eine Moschee, bei der es laut Koran ein Tabu ist zu kriegen: ein Ort der spirituellen und körperlichen Unantastbarkeit.

Sprache ist jedoch nie absolut präzise und es gibt Überlappungen. Heil sein bedeutet in dem Sinne auch gesund und intakt sein – aber das ist dann wiederum eine Vermischung von deutschen und arabischen Sprachlichkeiten, die voneinander getrennt sind. Heilen oder heil sein ist nicht dasselbe wie heiligen. Heil sein im Sinne von gesund ist auf Arabisch eher unversehrt, also salîm (سَلِيم), da Unversehrtheit besser passt. Heilsam, heilend, gesund ist dann auf Arabisch eher sihhy (صِحِّي). So ist die HEILung auf Arabisch eher schifâ‘ (شِفَاءٌ).

Wichtig: Wir sagen nicht, dass es absolut unislamisch ist, wenn jemand das Wort heilig in einer anderen Form für sich in seinem Glauben verwendet. Sonst machen wir uns des Takfîrs schuldig, was schon ein Tabu an sich ist. Möge uns davor unser gnädige Schöpfer bewahren.

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Abtreibung im Islam ist Mord, WENN…

Wann beginnt das Leben? Und ab wann ist Abtreibung Mord? In der Gottergebenheit (Islam) können diese Fragen mit Hilfe der Lesung (Koran) erörtert werden. Wir zeigen eine Möglichkeit auf diese Fragen Antworten zu finden.

Die Frage nach der Abtreibung kann sehr schnell und leicht die Gemüter erhitzen. Denn die Meinungen erhalten aufgrund individueller Umstände unterschiedliches Gewicht. Wir kennen aus dem Alltag, dass auch jedes Gesetz seine Ausnahmen oder Bedingungen hat. Dies gilt ebenso für sämtliche aus der Lesung abgeleiteten und dadurch als Interpretationen einzustufenden Regeln. Die eigene Kultur, unsere Sozialisierung, unser Bildungs- wie auch Wissensstand spielen eine große Rolle, wie wir welche Positionen erzeugen und einstufen. Die Lesung ist auch ein sehr ambiger Text, der jederzeit Vielfalt und ein ausgeklügeltes, differenziertes Verständnis erfordert und fördert. Eindeutigkeit kann hier höchstens eine Illusion der Sicherheit vermitteln. Sie ist also ein unerreichbares Unterfangen. Je nach Methodik und philosophischen Annahmen (Prämissen) werden unterschiedliche Ergebnisse erfolgen müssen.

Die Frage, ob Schwangerschaftsabbruch verboten ist, wurde nicht erst kürzlich relevant für muslimische Gläubige, ganz zu schweigen für die Gelehrten. Diese setzten sich mit solchen Themen aus allen möglichen Aspekten bereits intensiv auseinander. Fragen wie «wann beginnt das Leben?», «wie ist der Zusammenhang zwischen Seele, Geist und Körper?» und «wann werden die Körper beseelt?» führten zu unterschiedlichen Ansichten unter den Gelehrten. Wichtig ist hierbei die Anmerkung, dass diese (Rechts-)Gelehrten zumeist nicht Theologie im heutigen Sinne betreiben wollten. Sie waren in erster Linie Juristen. Um dogmatische Wahrheitsfindungen kümmerten sich vornehmlich die «Philosophinnen und Philosophen» (mutakallimūn). Es ging ihnen primär um eine systematische, analytische Anwendung der technischen Rechtsmethodik in der Scharīʿa. Diese ist in den Grundsätzen der heutigen europäischen Rechtsmethodik nahe. Dabei konnte ein und derselbe Gelehrte gleichzeitig oder zeitversetzt verschiedene juristische Urteile entwerfen und anwenden.

Für einige Gelehrten galt die Abtreibung ab dem ersten Tag der Schwangerschaft als Tötung einer Seele. Andere meinten wiederum, dass jeweils ab 40, 80 oder gar 120 Tagen erst die Schwangerschaftsunterbrechung oder Abtreibung als Mord verstanden werden kann und somit als verboten gilt. Für andere galt eine individuelle Abwägung, die in der einen Situation eine andere Regel benötigte als in einer neuen anderen Situation. Letzterer Position folge ich auch grundsätzlich. Eine klare Rechtsmeinung gab es nicht, geschweige denn einen Konsens (Idschmāʿ).

Wir möchten versuchen, aus der Lesung eine mögliche Position für eine sehr generalisierte Situation abzuleiten anhand der analytischen Koranhermeneutik, die im Buch Schlüssel zum Verständnis des Koran beschrieben ist. Dabei möchten wir betonen, dass das Ergebnis eine Richtschnur und kein absolut gültiges Gesetz für jede einzelne mögliche Situation darstellen soll. Der Koran leitet dazu an, sich stets differenzierter Gedanken zu machen und nicht bei einem einzelnen Ergebnis stehen zu bleiben. Das Leben ist Dank der kreativen Gunst und Liebe unseres Schöpfers voller Farben und nicht nur schwarz-weiss. Die hier aufgeführten Gedanken sind keine neuen Ideen. Wir bedienen uns an bereits bestehenden Überlegungen von verschiedenen Gelehrten, wie zum Beispiel Yaşar Nuri Öztürk oder Edip Yüksel, nur um zwei zu nennen, die wiederum auf den Ideen anderer Gelehrten aufbauten.

Zusammenhang zwischen Leben und Seele?

Wichtig sind die Definitionen der Worte wie Leben oder Seele. Ist das Töten von Leben dasselbe wie das Töten einer Seele? Bakterien können ebenfalls als Leben verstanden werden und somit auch ein Fötus, der sich lebendig weiterentwickelt. Jede Stammzelle kann als lebendiger Grundbaustein des Lebens verstanden werden, worin der genetische Code eines Menschen verzeichnet ist. Eine genetische Struktur zu haben bedeutet nicht eine Persönlichkeit mit einer Seele zu besitzen. Die Summe ist mehr als ihre Einzelteile.

Die Lesung unterscheidet zwischen Leben (ḥayāh) und Seele (nafs). Das Wort Seele ist nicht ganz passend, jedoch ist die Diskussion für einen anderen Artikel vorgesehen. Laut der Offenbarung sind ebenfalls Pflanzen und Tiere lebendig. Auch unser formloser, geschlechtsloser Gott ist der Lebendige (al-hayy). Dem Menschen wird jedoch eine besondere Beziehung zwischen Leben und Seele attestiert, indem uns vom göttlichen Geist (rūḥ) eingehaucht wird (15:29). Statt von Seele könnte man auch von einem besonderen Bewusstsein sprechen. Die Diskussion ist auf philosophischer Ebene sehr schwierig, da es naturwissenschaftlich-philosophische Argumente für ein komplexes Bewusstsein auch bei Tieren mit Wirbelsäulen und einem vegetativen Nervensystem gibt.

Durch die in der Lesung dargelegten Unterschiede erhalten die Menschen nun die Erlaubnis, sich Pflanzen oder Tiere zu Nutze oder «dienstbar» zu machen (22:37, 31:20). Das Töten von Tieren zum Verzehr von Fleisch wird beispielsweise nicht als Mord eingestuft. Dies heißt nicht, dass der Mensch mit der Umwelt und den Mitgeschöpfen blind verfahren kann, wie er möchte. Umweltschutz und Sorge zur Umwelt und den Geschöpfen sind aus vielen anderen Gründen auch gottergebene (islamische) Pflichten. Da die Berücksichtigung individueller Umstände in einem allgemeinen Prinzip unmöglich bleiben wird, ist das Recht nach Selbstbestimmung eines der wichtigsten Prinzipien:

Kein Zwang in der (gottergebenen) Lebensweise. […]

2:256

Eine gläubige Person wird in ihrem Gottvertrauen immer wieder geprüft und hat deshalb zu erlernen, wie dieses auch in schwierigen Situationen aufrechterhalten werden kann. Sie kann nicht Vertrauen und Verständnis in Gott und seine Gebote durch Zwang aufbauen. Vertrauen und Zwang schliessen sich aus.

Was ist Mord?

Mord ist im Koran der ungesetzliche, ungerechte, unethische Akt der Tötung eines Menschen. Mord ist also das Beenden einer menschlichen körperlichen und seelischen Verbindung.

Gott beruft die Seelen zur Zeit ihres Todes ab, und auch die, die nicht gestorben sind, während ihres Schlafs. Er hält die eine (Seele), für die Er den Tod beschlossen hat, zurück, und Er entsendet die andere auf eine bestimmte Frist (zurück in ihre Körper). Darin sind Zeichen für Leute, die nachdenken.

39:42

Aus diesem Vers ist erkennbar, dass im Schlaf unsere Seele oder unser Selbst (nafs) temporär an einen anderen Ort geht. Die Seele ist also nicht der Körper selbst, der in der physischen, diesseitigen Dimension verbleibt. Die Seele kostet dabei den Tod (3:185), wenn der Körper stirbt. Aber wenn der Körper noch intakt genug ist, wenn er also nicht tödlich verletzt ist, kann ein Körper auch ohne Seele weiter funktionieren. Von einigen wird hier spekulativ das Beispiel von Jesus angeführt, dessen Seele zumindest nicht mehr im Körper war, als sein Körper gekreuzigt wurde (4:157).

Aus diesem Grund schrieben Wir den Kindern Israels vor: Wenn einer jemanden tötet, jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf der Erde Unheil stiftet, so ist es, als hätte er die Menschen alle getötet. […]

5:32

Eine Person (Nafs) oder Seele ohne irgendeine Rechtsgrundlage, etwa bei Selbstverteidigungskriegen, Notwehr oder Notwehrhilfe, zu töten, ist eine enorme Sünde. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Mensch gläubig ist oder nicht, welcher Nation oder welchem Stamm er angehört und wie alt er ist. Jede Seele ist gleich wertvoll. Wenn das sich entwickelnde Leben in der Gebärmutter als «Seele» gilt, ist auch die Abtreibung als Ermordung einer Seele aufzufassen. Dies ist die wesentliche, relevante koranische Argumentation, was die Abtreibung betrifft. Dies könnte selbst die pränatale Diagnostik tangieren.

Leben beherbergen bedeutet also nicht notwendigerweise eine Seele zu besitzen. Ein Körper ist nicht die Persönlichkeit oder die Seele selbst. Die Empfängnis beim Sex kann demnach so betrachtet werden, dass Leben bereits bei der Befruchtung entsteht. Die nun essenzielle Frage ist, wann dieses Leben und dieser Organismus beseelt werden.

Gott verurteilt das Töten Neugeborener

Und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! Wir versorgen sie und euch (mit Lebensunterhalt). Gewiss, sie zu töten ist eine schwere Verfehlung.

17:31

Der historische Rahmen des angeführten Verses, der ähnlich in 6:151 wiederholt wird, greift der Text wiederum selbst auf. Gewisse Araber töteten damals leider ihre Kinder kurz nach der Geburt aus Scham und Kummer, nachdem sie sahen, dass Mädchen zur Welt kamen (16:58-59). Der Koran verurteilt und verbietet diese Praxis und betont, dass Gott für uns und andere sorgt (6:152).

Einige nehmen diese Verse als Grundlage, dass bereits das Embryo in der Gebärmutter damit gemeint sein müsse. Das sich entwickelnde Leben in der Gebärmutter ist jedoch in dem Sinne noch ein Ungeborenes. Auf Arabisch bedeutet walada gebären oder zur Welt bringen und al-walad (pl. awlād) bedeutet wörtlich der Geborene, was im Vers vorkommt. Es ist demnach unsinnig davon zu sprechen, ein Geborenes in der Gebärmutter zu tragen.

Auf Arabisch wird für Fötus dschanīn (pl. adschinna, vgl. 53:32) mit der sinngemässen Bedeutung umschirmt oder umhüllt verwendet. Ebenfalls werden Wörter wie ʿalaqah (Embryo) oder muḍghah (Klumpen/Fötus) im Koran verwendet (22:5), um den Zustand des Geborenseins von der Entwicklung in der Gebärmutter zu unterscheiden. Ein Fötus ist im allgemeinen Sinne eine körperliche Bürde oder Traglast (ḥaml, vgl. 22:2).

Hier könnte eingewandt werden, dass in der Lesung Maria ein Sohn (Jesus) versprochen wird und dabei das Wort walad vorkommt (vgl. 3:47). Dieser Vers prophezeit einen Sohn, der definitiv zur Welt kommen soll. Damit wird sprachlich und rhetorisch der Umstand bestärkt, dass die Geburt nach der Schwangerschaft garantiert wird.

Die Beseelung geschieht nicht mit der Empfängnis

Die Lesung (Koran) kann so gedeutet werden, dass die Beseelung des Lebewesens erst nach einer gewissen Phase in der Gebärmutter geschieht.

Dann schufen Wir den Tropfen (Sperma) zu einem Embryo, und Wir schufen den Embryo zu einem Fötus, und Wir schufen den Fötus zu Knochen. Währenddessen bekleideten wir die Knochen mit Fleisch. Dann liessen Wir ihn als eine weitere Schöpfung entstehen. Gott ist gesegnet, der beste aller Schöpfer!

23:14

Dieser Vers betont die verschiedenen Stufen der Schöpfungsentwicklung im Uterus. Der Koran als ein nicht medizinisch-biologischer Text vereinfacht die Embryologie. Er verpackt komplexeste und detaillierteste Vorgänge in für die Allgemeinheit verständlichen Bildern. Wir haben also vier Phasen der Entwicklung:

  1. Sperma
  2. Embryo
  3. Fötus
    • Entwicklung der Knochen und Umhüllung dieser mit Fleisch
  4. Eine weitere, neue Schöpfung

Daraus ist ableitbar, dass eine neue Schöpfung nicht bereits mit der Empfängnis entsteht. Das Embryo als sich entwickelnder biologischer Organismus ist noch keine Person. Irgendwann in der fötalen Phase erscheint also die Seele.

Der nächste Vers teilt uns mit, dass die gesamte Periode der Schwangerschaft (haml) wie auch des Stillens dreissig Monate andauert.

Und Wir haben dem Menschen aufgetragen, seine Eltern gut zu behandeln. Seine Mutter hat ihn in Angestrengtheit getragen und in Angestrengtheit zur Welt gebracht. Die Zeit von der Schwangerschaft bis zur Entwöhnung beträgt dreissig Monate. […]

46:15

Der nächste Vers beschreibt die maximale Dauer des Stillens als zwei volle Jahre, also 24 Monate.

Und die Mütter stillen ihre Kinder zwei volle Jahre, falls jemand das Stillen vollenden möchte. […]

2:233

In Kombination beider Verse können wir ableiten, dass die Schwangerschaftsdauer für die Seele 30 minus 24 Monate, also sechs Monate dauert. Eine Schwangerschaft nach der Empfängnis dauert gewöhnlich, Ausnahmefälle nicht mitberücksichtigt, etwa 38 Wochen. Je nach Definition in der Literatur können dies 266 bis 268 Tage sein.

Also ist die Dauer der Schwangerschaft, in der noch keine Seele in der Gebärmutter ist, 266 minus 180 Tage (sechs Monate), also 86 Tage. Anders gesagt ist das Ungeborene in der Gebärmutter in den ersten 86 Tagen nach der Empfängnis noch keine Seele.

Diese Zeitspanne ist unseres Erachtens eine Gnade, die Gott uns geschenkt hat. Unser Schöpfer kennt uns, der natürlich um traumatische Erfahrungen wie Vergewaltigungen und Inzest Bescheid weiß. Er gesteht uns so eine gewisse und doch große Autonomie zu im Umgang mit unseren Körpern und im selbstbestimmten Umgang mit traumatischen Erlebnissen.

Sofern das Leben der Mutter während einer Schwangerschaft gefährdet ist, auch nach dem ersten Trimester, gelten dann wieder andere Grundlagen zur Entscheidungsfindung, da diese Situation andere Voraussetzungen liefert als der Verlauf einer gewöhnlichen Schwangerschaft. Die Diskussion dieser und auch anderer Fälle mit anderen Ausgangslagen muss also gesondert zur Abtreibung geführt werden.

Zusammengefasst erhalten wir:

  • Der Koran verurteilt Infantizide (6:151, 16:58-59, 17:31) und ebenso ist die Tötung einer Seele eine grosse Sünde (5:32).
  • Die Seele ist nicht mit einer körperlichen Form gleichzusetzen (39:42).
  • Erst ab einem gewissen Zeitpunkt innerhalb der fötalen Phase erscheint die Seele und eine neue Person wird erschaffen (22:5, 23:14).
  • Die Leibesfrucht in der Gebärmutter ist in den ersten 12 Wochen noch keine «Person» oder «Seele», in dem Sinne noch kein «Mensch».
  • Die Selbstbestimmung steht im Vordergrund (2:256).

Es ist besser, das Kind auszutragen, aber …

Somit ist die Abtreibung erst dann ein Mord, wenn sie nach dem ersten Trimester stattfindet. Wir empfehlen oder schlagen Abtreibung generell nicht vor. Abtreibung soll als eine Option für schwere Fälle verbleiben, besonders für Opfer traumatischer Verhältnisse wie etwa Vergewaltigung oder Zwangsbefruchtung. Gott kennt und versorgt uns, ist uns näher als unsere Halsschlagader (50:16). Er weiß, dass das Vertrauen in Ihn die Voraussetzung dafür ist, auch in schwierigen Situationen der gottergebenen Lebensweise (dīn) zu entsprechen. Für die Schwangerschaft oder ihre Unterbrechung bedeutet dies: Es ist besser, das Kind auszutragen, aber das setzt besonders in schwierigen Situationen Gottesvertrauen (tawakkul) und Sicherheit im Herzen (ʾīmān) voraus.

Kein Mensch hat das Recht, andere dafür zu verurteilen, wenn dieses Vertrauen noch nicht entstehen konnte. Wir sind keine Maschinen im Glauben. Gott liebt und vergibt uns mit all unseren Fehlern. Umgekehrt ist die Gesellschaft verpflichtet, Situationen zu schaffen, die das Vertrauen zumindest auf juristischer, materieller, psychisch-sozialer Ebene herstellen. Das heißt: keine Verurteilung, Herabsetzung, Verspottung der Schwangeren, die es nicht geschafft hätten zu verhüten und nur auf ihren eigenen Spass aus gewesen seien und ähnliche Argumentationsmuster. Ebenso wenig dürfen wir Bildungschancen sowie finanzielle Sicherung versperren.

Letztlich ist die Entscheidung aber eine Sache zwischen der betroffenen Frau und Gott. Dem Partner bleibt nichts anderes übrig als sich beratend liebevoll zur Seite zu stellen und bei einer Uneinigkeit die Trennung bzw. Scheidung als letzte Konsequenz zu nehmen, wenn die Differenzen unüberbrückbar sind.

Und Gott weiß es besser.

Hinweis: Dieser Artikel verwendet Elemente angelehnt an eine damals im Austausch unveröffentlichte Textfassung einer werten Schwester, die nun als eigener Artikel zu lesen ist: Schwangerschaftsabbruch

Supernova N49 (NASA, Chandra, 11/29/2006)

Der Lichtvers (24:35)

Bismillah al Rahman al Raheem

Wie eine Umarmung und mit der Strahlkraft einer Supernova steht diese Aya Kraft spendend, tröstend und erhellend, neben den anderen Ayat herausstechend, in dieser Sure – zutiefst ästhetisch, mystisch und wortgewaltig.

Allah allein ist es, der das dunkle Nichts durch Licht und Sinn belebt.

Der Vers dringt in die Tiefe des Islams ein – Allah, der die Dunkelheit von uns nimmt und Geist und Seele der nach Ihm Suchenden mit dem Licht der Einsicht und Erkenntnis füllt, der den auf dunklem Weg Suchenden oder vom Weg Abgeirrten immer ein Licht zur Leitung aufstellt, aber auch der, der es vermag, das Verschlossenste in uns ans Licht zu bringen.

Seiner Leitung können wir uns anvertrauen, und Seinem Licht bleibt nichts verborgen.

Aber Licht erhellt nicht nur – es wärmt auch. So ist das Licht auch als Allahs unendliche, wärmende Liebe zu deuten, in die Er uns in Seiner unbegrenzten Gnade und Barmherzigkeit hüllt – den Trauernden und Verzweifelten ein Trost.

Ist Allah nicht der beste Beschützer? Und ist Allah nicht der beste Versorger?

Dann können wir vermuten, dass das einem funkelnden Stern gleichende Glas, von welchem das Licht geschützt wird, Sinnbild für den Schutz des nie endenden Lichtes, der Liebe zu Seiner Schöpfung ist.

Das Öl könnte als Symbol für Allah als eine unerschöpfliche Quelle der Versorgung stehen. Eine unerschöpfliche Quelle der Liebe, aus welcher das Licht sich speist.

Und wofür steht dieser „Ölbaum, nicht östlich, nicht westlich“?

Dürfen wir Gläubige hoffen, dass auch wir damit gemeint sein könnten, die wir Allahs Liebe und Licht erfahren und es so gut wir es vermögen durch Hingabe im Gebet an Gott und durch Aufmerksamkeit unseren Geschwistern und der Schöpfung insgesamt gegenüber Ihm Sein Licht reflektieren – und vielleicht helfen dürfen, das Licht zu entzünden?

Auch im Juden- und Christentum kommt dem Licht eine große Bedeutung zu … „nicht östlich, nicht westlich“ … vielleicht die größte Interaktion zwischen Gott und denen, die an Ihn glauben und Ihm dienen … Gottergebene aller Religionen.

Lasst uns Allahs Licht und Leitung wertschätzen und genießen, Ihm dafür danken, und lasst Sein Licht durch jeden Einzelnen von uns hell strahlen!

Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine Lampe ist. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist, als wäre es ein funkelnder Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet, auch ohne daß das Feuer es berührt hätte. Licht über Licht. Gott führt zu seinem Licht, wen Er will, und Gott führt den Menschen die Gleichnisse an. Und Gott weiß über alle Dinge Bescheid.

Koran 24:35 – Übersetzung nach Khoury
photo of person praying indoors

Bismillah: Wieso sagen wir IM Namen Gottes?

Vielleicht hast Du Dir diese Frage schon mal gestellt, ob wir mit der Basmalah, bismillah, nicht übergriffig sind in unserer Haltung? Ich glaube, dass diese Sorge eine generell wichtige Eigenschaft ist in der Suche nach Gottes Liebe und Licht. Tatsächlich, wie können wir IM Namen Gottes überhaupt etwas beginnen, selbst wenn die Tat selbst rein sein sollte? Stellvertretend für Gott handeln wollen? All diese Gedanken mögen aufkommen. Die Basmalah, in der Nennung des einen Souveränen, ist somit sprachlich genauer zu verstehen, denn die Präposition bi hat auf Arabisch je nach Kontext viele verschiedene Bedeutungen. Bi kann in, mit, durch, bei, zu bedeuten, deshalb übersetze ich lā ḥawla wa lā quwwata illa billāh in meinem Gebet auch mit: Kein Wandel und keine Kraft außer mit, durch, bei und in Gott. Dadurch werde ich dieser sprachlichen Ambivalenz und diesem seelischen Reichtum gerecht im Gebet.

Andere Möglichkeiten bismillah zu verstehen?

Auch bei der Basmalah könnten wir sagen: In, mit, bei dem Namen Gottes – oder gar durch den Namen Gottes. Jede Variante kann theologisch oder auch symbolisch korrekt im Sinne des Korans gedeutet werden. Aber wir müssen die sprachlichen Regeln beachten. Wenn man sich auf jemanden berufen will und dabei das Wort „Name“ benutzen möchte, und zwar auch im Sinne im Auftrag, dann lautet die semantisch richtige Wortverbindung im Namen, also etwa im Namen Gottes oder im Namen des Volkes. Das hat jedoch nicht zwingend etwas mit einer Stellvertretung oder Amtsanmassung zu tun. Damit ist immer noch möglich, dass der Auftrag falsch verstanden und ausgeführt wurde.

So bedeutet Bismillah in etwa: Ich beginne eine Handlung begleitet von Gott oder ich fange an und bitte um Unterstützung und Segen von Gott, wobei zusätzlich anzumerken ist, dass ich Unterstützung von Gott erbitten kann, aber nicht von Seinem Namen. Deshalb kann die Basmalah sprachlich nicht mit mit/bei/… dem Namen Gottes übersetzt werden. Sage ich also auf Arabisch bismillah, dann übersetzen wir das mit im Namen Gottes, meinen auf Deutsch etwas ähnliches wie im Bewusstsein der helfenden Gegenwart Gottes. So hoffe ich dabei, dass Gott mein Gebet erhört und bei mir ist.

Andere Präpositionen könnten genauso wie in weitere Fragen aufwerfen, weil die Sprache an sich niemals wie etwa die Mathematik eindeutig und präzise ist, sondern stets eine Unschärfe mitträgt. Diese Unschärfe ist meines Erachtens auch wesentlich für eine transzendentale Erfahrung. Wenn wir z.B. mit nehmen, also mit dem Namen Gottes, ist dann natürlich beim Gebet auch nicht gemeint, dass man mit Gott (zusammen) betet, denn wir beten zu Ihm.

Wie kommt die Basmalah im Koran vor?

  • Die eröffnende Sure – Al-Fatiha / Am Anfang jeder Sura (ohne Sura 9)
    1:1 Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Gnädigen
  • Gott begleitet die Fahrt der Arche Noahs:
    11:41 Und er sprach: «Steiget hinein! Im Namen Gottes ist ihre Ausfahrt und ihre Landung. Mein Herr ist wahrlich allverzeihend, barmherzig.»
  • Salomos Brief:
    27:30 Er ist von Salomo, und er ist: „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.
  • Gott lobpreisen:
    fa-sabbiḥ bismi rabbika al-adhīm 56:74, 56:96, 69:52 (genau identisch in der Wortwahl)
    So preise den Namen deines gewaltigen Herrn
    Zaidan übersetzt wie folgt: So lobpreise mit dem allerhabenen Namen deines HERRN!
    Oder auch möglich, wenn richtig verstanden: So preise im Namen deines gewaltigen Herrn.
  • Lesen, studieren, begreifen, reflektieren, Wissen aneignen:
    96:1 Lies, im Namen deines Herrn, der erschuf!

Also nicht nur Briefe/Mails schreiben, den Koran lesen oder Gebete zelebrieren mit der Basmalah am Anfang, sondern überhaupt alles mit Bismillah lesen, beginnen und verinnerlichen.

Die Gegenwart Gottes begleitet uns immer und mit der Basmalah werden wir uns dessen mit einer sehr einfachen Formel wieder bewusst.

Eine nahe Aufnahme einer pinken Lotusblüte auf grünen Blättern.
Kerem A. und Adis U.

Im Einsatz für ein aufgeklärtes Verständnis des Islams

Muslime kennen ihre Religion zu wenig und folgen oft unkritisch religiösen Autoritäten, finden Kerem Adıgüzel und Adis Ugljanin. Mit ihrem Verein «Al-Rahman – mit Vernunft und Hingabe» wollen sie das ändern. Zweimal pro Monat treffen sich Männer und Frauen in Schlieren ZH zur Korandiskussion. Alle sind willkommen, auch Andersgläubige.

Zuerst ein Gebet. Die kleine Gruppe kniet nebeneinander auf Gebetsteppichen Richtung Mekka und ruft Allah an, drei Frauen und zwei Männer, nebeneinander. Danach setzen sie sich im Kreis auf den Boden, jeder mit einem aufgeschlagenen Koran in der Hand und einer Tasse Tee vor sich. Kerem Adıgüzel bittet eine der Frauen vorzulesen, wo sie vorangegangenes Mal aufgehört hatten, bei der Sure 37, Vers 112. Es geht um Abraham und Isaak, die auch im Koran eine Rolle spielen.

Lesen auf:
https://www.migrosmagazin.ch/im-einsatz-fuer-einen-aufgekl%C3%A4rten-islam

Foto von Katajun Amirpur

Wie der Islam neu gedacht werden kann

Foto von Katajun Amirpur

Katajun Amirpur. (Bild: Georg Lukas)

Die vielfältig interpretierte Religion des «Islam» ist in den Medien ein politisches Dauerthema. Das 2013 erschienene Buch Den Islam neu denken von Katajun Amirpur, die als erste Professorin für Islamische Theologie an der Universität Hamburg tätig war und nun in Köln arbeitet, versucht der ganzen Debatte zu mehr theologischer Tiefe aus der «Reformsicht» zu verhelfen und zeigt auf, dass die Politisierung des Koran von vielen Intellektuellen mit «neuen Ansätzen einer muslimischen Theologie» ersetzt worden sind.

Dies erreicht Amirpur, indem sie sunnitische wie auch schiitische zeitgenössische Reformdenker spannend porträtiert und ihre wichtigsten theologischen Positionen pointiert zusammenfasst. Für Nichtmuslime wird wahrscheinlich erst nach der Lektüre des Buches gänzlich verständlich, was der Untertitel des Buches meint, wenn vom «Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte» die Rede ist. Die Reformdenker meinen mit dem «Dschihad» das Bemühen, sich auf den aktiven Weg zu Gott zu machen und dass Demokratie, Freiheit und Frauenrechte islamisch motivierte Voraussetzungen dafür sein können.

Und Gott weiss es besser

Die Autorin zeigt gleich zu Beginn auf, dass es das Anliegen der modernen Reformtheorien ist, nicht nur eine einzige Lesart als gültig zu erklären. Dies lässt sich nicht besser darstellen als am islamischen Ausspruch «allāhu ʾaʿlam», Arabisch für «Gott weiss es besser». Denn «letztlich weiss doch nur Gott» ganz genau, was mit seinen Worten gemeint ist. Menschen versuchen lediglich aus verschiedenen Blickwinkeln der Bedeutung näher zu kommen.

Amirpur beginnt damit, dass ihrer Meinung nach der Reformislam seinen Ursprung bei al-Afghani und Raschid Rida hat, die glaubten, «der ‹reine› und ‹unverfälschte› Islam» habe «alle Antworten auf die Fragen der Moderne». Diese Haltung wurde später von Salafisten wieder aufgegriffen und politisiert.

Das Buch schwächelt zu Beginn leicht, wenn eine Persönlichkeit wie ʿAbd ar-Rāziq, der ebenso wie Rida ein Schüler Muhammad Abduhs war, als geistiger Vater des islamischen Säkularismus betrachtet werden kann und das Kalifat als schädlich ansah, im Kapitel Säkularismus und Islamismus zu kurz erwähnt wird. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Ridas Ideen politisch breitere Wirkung entfalteten, insbesondere beim Gründer der Muslimbrüder Hasan al-Bannā.

Sechs menschliche Blickwinkel

Nachdem wichtige Begriffe wie «Reformislam» oder «islamischer Feminismus» erläutert werden, durchleuchtet Amirpur sechs Persönlichkeiten näher. Sie beginnt mit Nasr Hamid Abu Zaid, der von einer «dialektischen Beziehung zwischen dem Korantext und seinen Adressaten» ausgeht. Des Öfteren wird der historische Kontext betont, den es zu berücksichtigen gelte. Dieser erhält beim anschliessenden Portrait von Fazlur Rahman am meisten Gewicht. Hier entsteht der Eindruck, dass die Autorin besonders um eine möglichst deskriptive Vorgehensweise bemüht ist und selten bis gar nicht eigene Gedanken einfliessen lässt.

Auch scheint der Ansatz des historisch-kritischen Kontexts unkritisch wiedergegeben zu werden. Denn dieser ist mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, die meistens qualitativ schwach sind, schwer zu rekonstruieren. Deshalb bleibt die Frage offen, wie denn dieser Kontext ermittelt werden soll, wenn man sich beispielsweise auf den Gelehrten al-Wāhidī (st. 1075) beruft und höchstens zehn Prozent des Korans mit Offenbarungsanlässen (asbāb an-nuzūl), die uns den vermutlichen historischen Grund für die Verkündung eines Koranverses erklären sollen, beschrieben werden können. Solcherart Fragen bleiben glücklicherweise nur vereinzelt offen am Ende des Buches.

Zwei kluge Frauen werden näher betrachtet, Amina Wadud und Asma Barlas, die beide mit ihren theologischen Arbeiten teilweise neue Lesarten entwickelten. Zum Beispiel gelangt Asma Barlas mit ihrem «Foundationalism» zur Ansicht, dass Geschlechtergerechtigkeit im Koran verwurzelt ist. Besonders dieser Teil des Buches ist spannend, werden hier doch konkrete, theologische Ansätze für eine feminin motivierte Befreiungstheologie geliefert, wodurch Musliminnen aus patriarchalischen Strukturen vor allem koranisch begründet ausbrechen können.

Buchdeckel Den Islam neu DenkenEine Gemeinsamkeit aller sunnitischen Denkerinnen und Denker ist die kritische Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Überlieferungen, den «Hadithen», die nachträglich dem Propheten als Aussprüche zugeschrieben wurden. Hier ist man sich einig, dass man vor allem zuerst koranisch argumentieren müsse. Besonders Asma Barlas formuliert dies deutlich, da es «mehr Probleme für Frauen schafft, als dass es welche löst, wenn man die Sunna und die Hadithe heranzieht, um den Koran zu interpretieren.»

Ein Buch für Muslime wie Nichtmuslime

Nicht-arabische Menschen haben es in dieser Diskussion nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Auch Abu Zaid ist sich dessen bewusst, betont aber, dass neue Ansätze gerade von Nicht-Arabern kämen. Amirpur zitiert ihn wie folgt: «Das Neue kommt von der Peripherie». Insofern sind die schiitisch-iranisch geprägten Fragestellungen, mit denen sich Abdolkarim Soroush und Mohammad Mojtahed Shabestari beschäftigten, auch allgemein bedeutsam für die muslimische Theologie. Dabei wirkt es zunächst überraschend, dass protestantische deutsche Denker wie Karl Barth oder Paul Tillich den Schiiten Shabestari in seiner Lehre, die für einen spirituellen und gegen einen «Rechtsislam» steht, beeinflussten.

Es ist Amirpur als grosses Verdienst anzurechnen, dass man durch ihr Buch die prägnant zusammengefassten Ansichten von weit mehr als sechs Denkerinnen und Denkern kennenlernen kann. Die darin vorgestellten Ideen verbreiten sich immer weiter in der islamischen Welt, weshalb es wichtig ist, diese Entwicklungen zu kennen und zu verfolgen. Denn wenn auch die Verbreitung voranzuschreiten scheint, so müssen die muslimischen wie nicht-muslimischen Gebildeten hierzulande wissen, wer unter ihnen besonders auf unsere Solidarität und Unterstützung angewiesen ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf saiten.ch.

Mein Weg zur Gottergebenheit #8 – „Bei vielem dachte ich mir: ‚Das ist mehr Tradition/Kultur als Religion'“

Diana, 21 Jahre alt

Schon als Kind war ich spirituell angehaucht. Damals noch als Christin, habe ich abends zu Gott gesprochen und gebetet. Mir war das immer sehr wichtig, deshalb wollte ich den serbisch-orthodoxen Religionsunterricht meiner Schule besuchen.

Er machte mir zwar Spaß, aber bei vielem dachte ich mir: „Das ist mehr Tradition/Kultur als Religion!“

Ich verstand nicht, warum wir nie in der Bibel gelesen haben, sondern nur Dinge besprochen haben, die Tradition sind. Nach und nach entfernte ich mich vom Glauben und wurde irgendwann Atheistin.

Religionen haben mich trotzdem immer sehr interessiert. Durch die Vielfalt in Österreich hatte ich die Möglichkeit viele Religionen und durch meine beste Freundin den Islam kennen zu lernen.
Eins muss ich kurz erwähnen: Durch meine kroatisch-bosnisch/serbische Herkunft hatte ich leider nicht den besten Zugang zum Islam.

Da ich einen anti-faschistischen Touch hatte und habe, war mir das immer egal, wer woher kommt und an was wer glaubt. Ich wollte jede brauchbare Information aufsaugen, die ich bekommen konnte.
Und so beschäftigte ich mich intensiv mit dem Islam und beschloss einen Ramadan lang zu fasten und den Koran zu lesen und zwar ohne jegliche Vorurteile, um ihn so gut es geht mit offenem Herzen und offenen Gedanken verstehen zu können.
Während ich las, fühlte ich mich als ob mir eine Last von den Schultern fallen würde, ich weinte fast nach jeder Sure. Ich war froh Atheistin gewesen zu sein, weil mich das im Endeffekt Gott immer näher gebracht hat, ich habe meinen Glauben wieder erlangt und fühlte mich nun vollkommen. Dieses Stück, das mir im Leben immer gefehlt hat, habe ich wieder gefunden.

Jetzt wollte ich als Revertitin natürlich mein möglichst Bestes geben, um Gottes Wohlgefallen zu erlangen, deswegen versuchte ich mein Wissen mit Hadithen zu erweitern. Irgendwie haben diese aber nicht mit meinem Eindruck vom Koran übereingestimmt. Besonders der Hadith, der das Zupfen von Augenbrauen verbietet, war mir nicht ganz geheuer. Was hat Gott gegen gezupfte Augenbrauen? Wieso ist das relevant? Also wollte ich die Quelle von diesem Hadith herausfinden, aber das einzige, was mir aufgefallen war, war dass es diesen Hadith in etwa hundert verschiedenen Ausführungen gibt. Warum sollte ich etwas befolgen, was nicht im Koran steht und zudem irgendwie suspekt klingt?
Also machte ich mich auf die Suche nach Antworten. Dass Hadithe schlichtweg keine Quelle der Gottergebenheit (Islam) sind, ist mir nie in den Sinn gekommen – bis ich auf alrahman.de gestoßen bin. Ich war froh, dass ich nicht die Einzige war, die so dachte!

Alle Antworten, die man braucht, findet man im Koran. Durch den Koran habe ich den Glauben zu Gott wiedergefunden und der Koran ist die einzige Quelle des Islams.

6:125 Wen Gott aber rechtleiten will, dem weitet Er die Brust für die Gottergebenheit; und wen Er in die Irre gehen lassen will, dem macht Er die Brust eng und bedrückt, wie wenn er in den Himmel emporsteigen würde.

Mein Weg zur Gottergebenheit #7 – „Vielleicht bin ich im Herzen Muslimin?“

Kerstin, 54 Jahre alt – „Vielleicht bin ich im Herzen Muslimin?“

Ich bin getauft unter der katholischen Kirche, also Christin. Leider, oder Gott sei Dank, wurde ich nie wirklich in die katholische Religion eingeführt, da meine Mutter Atheistin ist.

Im Religionsunterricht war ich immer leicht irritiert durch die Lehren, obwohl es ein wirklich liberaler Lehrer war, der damals schon erklärte, dass Jesus nicht der Sohn Gottes im herkömmlichen Sinn ist. Alles andere, was ich sonst von den Katholiken hörte, war mir zu fern von dem, was mein Hirn erfassen konnte. Ich dachte, ich wäre zu blöd, um das zu verstehen, weil sich mein Verstand keinerlei Mühe gab, es verstehen zu wollen.

Einige Jahre lang war Gott kein Gegenstand meines Bewusstseins. Dann gab es eine sehr schlechte Zeit in meinem Leben, von Hunger bis Mittellosigkeit war da alles dabei. Ich wandte mich an die katholische Kirche und bat um Hilfe, sie wurde mir aber verwehrt. Da fing ich an mich mit dem Glauben auseinanderzusetzen und fand heraus, dass der katholische Glaube absolut gegen meine Überzeugung geht. Schließlich bin ich aus der Kirche ausgetreten und spendete einen Teil meiner ehemaligen Kirchensteuer an den Tierschutz.

Dass es Gott gibt, war aber nie eine Frage. Durch meine regelmäßigen Besuche in Ägypten und die freundliche, herzliche Art der Einwohner fing ich an mich mit dem Koran zu befassen. Nun werfen auch Koranübersetzungen mehr Fragen als Antworten auf und ich fragte Muslime, zu den mir unverständlichen Absätzen. Hadithe waren nie ein Thema bei meiner Suche und ich war immer schon verwundert, dass ich diese nirgendwo im Koran fand, bis mir einer mal erklärte was Hadithe sind. Wenig begeistert fragte ich, warum es die überhaupt gibt, wenn doch der Koran alles beinhaltet? Die Antworten waren noch verwunderlicher, also schmiss ich das Thema Hadithe gleich wieder über Bord.

Gott hatte schon immer einen festen Bestand in meinem Leben, da ich viele Erfahrungen machen durfte, die es mir beweisen. Heute gehöre ich keiner Buchreligion an, aber sehe den Koran als Unterstützung. Mir wurde bei meiner Suche bewusst, dass Gott in mir und um mich herum existiert. Das wenn mein Inneres mich warnt, es Gott ist, der mich warnt.

Ich spüre ihn im Herzen und er beantwortet mir sehr oft meine Fragen, nicht alle, aber doch sehr viele. Was mich abhält mich einer Buchreligion voll und ganz hin zu geben, sind die Menschen, die sie schlecht machen.

Dank alrahman.de bin ich aber näher an einer Buchreligion als bisher. Das kann ich verstehen, das öffnet mir das Herz und das ergibt für mich Sinn. Vielleicht bin ich im Herzen mehr Muslimin, als ich mir selbst eingestehen will?