Gleichnis

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Gott rechnet anders

Wenn wir nach Beispielen wie etwa Geschichten oder Verse in der Lesung suchen, um eine Auslegung zu überprüfen, müssen wir uns an etwas erinnern: Das in der Lesung vorgeschlagene Wertesystem wird nicht in allen Belangen, sei es soziologisch, kulturell, politisch oder auch wissenschaftlich mit der unsrigen jetzigen Zeit und vor allem unseren eigenen Empfindungen übereinstimmen. Die Offenbarung Gottes wurde in einer menschlichen, also beschränkten Sprache verkündet. Insofern ist es also nur naturgemäß, dass eine Kluft entsteht zwischen dem heutigen Empfinden von Moral, Ethik und Recht, und den Ideen in der Art und Weise, wie sie in der Lesung vermittelt wurden. Diese Kluft hat die oder der Gottergebene dadurch zu überbrücken, indem sie oder er nach bestem Gewissen und Wissen die Lesung studiert, in ihr oder sich aufsaugt, am weltlichen Leben teilnimmt und dann die Ideen der Lesung in die jetzige Zeit überträgt auf der Suche nach dem besten Verständnis und dem, was Gott näher ist (39:18). Ein Professor, der die Lesung auswendig kann, aber am alltäglichen Leben kaum teilgenommen hat, nützt uns genauso wenig wie der erfahrenste Mensch, der das Buch nicht kennt und das Verständnis dessen deshalb mit Traditionen und Kultur vermischt, welche sich als seine eigenen Neigungen zusammenfassen lassen. Nach Beispielen in der Lesung zu suchen bedeutet auch, die Weisheit zu erkennen, sie im Leben selbst zu erblicken und auch die Notwendigkeit zu erkennen, aktuelle Zustände nicht als absolut endgültig anzunehmen. Diese Menschen, die sich selbst von jeglichen gedanklichen und äußerlichen Zwängen befreien, indem sie „Keine Gottheit außer dem Gott“ bezeugen, also nichts Absolutes anerkennen außer den einzigen Absoluten, den Schöpfer, werden in der Lesung als Achtsame (muttaqī) beschrieben, die Achtsamkeit (taqwá) gegenüber Gott üben.

Wir Menschen sind soziale Individuen, die ihre Meinungen mit der Zeit ändern. Doch laut der Lesung ändert sich Gottes Vorgehen nie und ist demnach in irgendeiner uns zugänglichen Form universell.87 Einige Meinungen aber bleiben in uns angeblich wie in Stein gemeißelt in der eigenen Geisteshaltung. Der wichtigste Schritt beim Verstehen der Lesung ist es deshalb, die eigene Meinung nicht Gott überzustülpen und stets bereit zu sein, sich selbst erneut vollends Gott hinzugeben. Schließlich handelt es sich hierbei um die Worte Gottes. Dies liest sich leichter, als dass man es sich bewusst sein mag. Eine Stütze kann der folgende Gedanke bieten: Ich weiß ja bereits, wie ich denke, doch sollte ich vielmehr daran interessiert sein in Erfahrung zu bringen, was Gott von mir will, dass ich denke, fühle und lebe. Wenn ich dann einfach auf Teufel komm raus meine eigene Sicht bestätigt sehen will, so werde ich auch fündig werden und in Ermangelung der Ergebung in Gott denken, Gott wolle dies oder jenes, obwohl es nur meine eigene Sicht ist.

Die Lesung Gottes ist wie ein Spiegel: schaut ein Affe rein, so schaut ein Affe zurück, weil Gott höchstpersönlich die Hochmütigen und Achtlosen vom Verstehen der Lesung abhält (17:45–46, 18:57). Hört jemand der Lesung auch wirklich zu und ändert sich und seinen eigenen Zustand nach der Lebensordnung (dīn), die Gott für uns in der Lesung beschrieb, und stellt sicher, dass er in diesem geänderten Zustand bleibt, so erlangt dieser eher die Barmherzigkeit von Gott (7:204, 13:11, 8:53).

Ich möchte die Überschrift dieses Kapitels mit einem relativ einfachen Beispiel aus dem Evangelium erläutern:

 

Matthäus 20:1-16, Die Arbeiter im Weinberg

„Ich möchte euch ein Gleichnis erzählen“, sagte Jesus. „Ein Weinbauer ging früh morgens Arbeiter für seinen Weinberg anwerben. Er einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn und ließ sie in seinem Weinberg arbeiten. Ein paar Stunden später ging er noch einmal über den Marktplatz und sah dort Leute herumstehen, die arbeitslos waren. Auch diese schickte er in seinen Weinberg und versprach ihnen einen angemessenen Lohn. Zur Mittagszeit und gegen drei Uhr nachmittags stellte er noch mehr Arbeiter ein. Als er um fünf Uhr in die Stadt kam, sah er wieder ein paar Leute untätig herumstehen. Er fragte sie: „Warum habt ihr heute nicht gearbeitet?“ „Uns wollte niemand haben“, antworteten sie. „Geht doch und arbeitet auch noch in meinem Weinberg!“ forderte er sie auf.

Am Abend beauftragte er seinen Verwalter: „Ruf die Leute zusammen und zahle ihnen den Lohn aus! Beginne damit beim Letzten und höre beim Ersten auf!“ Zuerst kamen also die zuletzt Eingestellten, und jeder von ihnen bekam den vollen Tageslohn.

Jetzt meinten die anderen Arbeiter, sie würden mehr bekommen. Aber sie bekamen alle nur den vereinbarten Tageslohn. Da fingen sie an zu schimpfen: „Diese Leute haben nur eine Stunde gearbeitet, und du zahlst ihnen dasselbe wie uns. Dabei haben wir uns den ganzen Tag in der brennenden Sonne abgerackert!“ „Mein Freund“, entgegnete der Weinbauer, „dir geschieht doch kein Unrecht! Haben wir uns nicht auf diesen Betrag geeinigt?

Nimm dein Geld und geh! Ich will den anderen genausoviel zahlen wie dir. Schließlich darf ich doch wohl mit meinem Geld machen, was ich will! Oder ärgerst du dich, weil ich großzügig bin?“ Ebenso werden die Letzten einmal die Ersten sein, und die Ersten die Letzten.“88

 

Das finden wir ungerecht! Das ist ungerecht, mag es auch rechtmäßig zugehen – weltlich gesehen.

Gott ergeben zu sein ist wie eine schwere Arbeit. Wir müssen für die Gerechtigkeit, Liebe, Toleranz, Koexistenz und das Wissen kämpfen, wir müssen also für die Liebe Dschihad üben (uns bemühen).

Was nun im Gleichnis angeprangert wird, ist nicht der Umstand, wie viel effektiv gearbeitet wird, sondern ab wann. Hier ist natürlich zu berücksichtigen, dass ein Arbeiter, der zu einem späteren Zeitpunkt beginnt, unter Umständen effizienter arbeiten könnte als ein anderer, der früher begann. Wir haben jedoch immer die Chance zu Gott zu finden, und dann spielt es keine Rolle, ob wir bei den Ersten oder bei den Letzten sind. Es spielt für Gott keine Rolle, wann wir den Glauben annehmen, solange wir direkt Seinem Ruf, Seiner Einladung folgen. Gott rechnet anders als wir, was den Glauben angeht. Wenn wir also die Möglichkeit haben, sollten wir sie ergreifen und der Lohn steht uns zu, ganz gleich, in welchem Alter wir sind. Im Gleichnis die Arbeitswelt als Metapher zu verwenden ist wirklich trefflich.

Es ist von entscheidender Bedeutung, im richtigen Moment ein Gottergebener zu werden, falls Gott und Seine Botschaft erkannt wurden, und ebenso als einer zu sterben. Denn, wie kann Gott die Menschen bestrafen, die zuvor noch keinen wahrhaftigen Zeichen Gottes begegnet sind? Nein, Gott vergibt denjenigen, die sich im entscheidenden Moment, auch wenn kurz vor dem Tod, Gott ergeben. Dies finden wir auch in der Lesung bestätigt bei den Illusionisten aus der Zeit Pharaos, die erst kurz vor ihrem Tod Gottergebene wurden und als solche dann starben, weil Pharao sie hinrichten ließ für ihre Untreue an ihm:

 

7:118-126 Bewiesen war die Wahrheit, und ihr Trugwerk war entlarvt. So wurden sie dort besiegt und kehrten danach erniedrigt um. Und die Zauberer trieb es, in Anbetung niederzufallen. Sie sprachen: „Wir glauben an Gott, den Herrn der Welten, den Herrn von Moses und Aaron…“ Pharao sprach: „Glaubt ihr wirklich an Ihn, bevor ich es euch erlaube? Das ist eine Verschwörung, die ihr in der Stadt geschmiedet habt, um ihre Bewohner zu vertreiben. Ihr werdet bald wissen, wie ich eure Untat bestrafen werde. Ich werde eure Hände und Füße wechselseitig abhacken und euch alle zusammen kreuzigen.“ Sie sagten: „Wir werden (sowieso) zu unserem Herrn zurückkehren. Du nimmst uns nur übel, dass wir an die Zeichen Gottes, unseres Herrn, glaubten, als sie uns erreichten. Gott, unser Herr, gewähre uns viel Geduld und nimm uns als Gottergebene zu Dir!“

 

"In Gott vertraue ich und handle treu" (König Wilhelm I. von Württemberg)

Foto: Michael Molthagen , CC BY-NC-SA 2.0

Einige der LeserInnen mögen an dieser Stelle einwenden, dass sie ja dann tun und lassen können, was sie wollen, über die Schnur hauen, jeglicher Moral keines Blickes würdigen und allen Menschen im Umfeld Unrecht tun – und wenn sie dann alt seien, würden sie fromm und tiefgläubig werden. Wenn ich sage: Morgen ändere ich mein Leben – dann habe ich heute schon verloren. Woher weiß ich, ob es mich morgen noch gibt? Was, wenn ich morgen die Steine nicht mehr aus dem Weg räumen kann?

Wir erhalten mindestens das, was wir verdienen, doch im Grunde gewinnen wir mehr, als es unser Verdienst uns erlauben würde. Gott lässt Gnade vor Recht ergehen – bei uns allen. Denn würde Gott Recht vor Gnade walten lassen, würde Folgendes geschehen:

 

16:61 Und wenn Gott die Menschen wegen ihrer Frevelhaftigkeit belangen würde, würde er auf der Erde kein Lebewesen übriglassen. Aber er gewährt ihnen auf eine bestimmte Frist Aufschub. Kommt das festgesetzte Ende, kann niemand es weder vorverlegen noch aufschieben.

35:45 Und wollte Gott die Menschen strafen für alles, was sie tun, Er würde nicht ein Lebewesen auf der Oberfläche (der Erde) übrig lassen. Doch Er gewährt ihnen Aufschub bis zu einer bestimmten Frist. Und wenn ihre Frist eingetroffen ist, so ist Gott doch immer Seinen Dienern gegenüber sehend.

 

Insofern sehen wir ein, dass unser Empfinden nicht der Moral der Lesung entspricht und Gott eben anders rechnet als wir.89 Sind wir also geistig faul und träge und denken, die Wahrheit würde sich uns anpassen, statt dass wir uns der Wahrheit anzupassen haben, so werden wir aufgrund der selbstverschuldeten Achtlosigkeit die Rechtleitung verpassen und können uns zu den Verlierern zählen, die lediglich meinten, sie seien rechtgeleitet (18:103–104). Als Gottergebene müssen wir gegenüber uns selbst ständig Ehrlichkeit üben, um nicht anders zu rechnen als Gott es tut; wir haben stets an etwas zu knabbern – kurz gesagt: Es gibt immer einen Dschihad, also eine Anstrengung.

 

Römer 9:18-21 So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will. Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?

Koran 6:88 Dies ist die Rechtleitung Gottes, damit leitet ER recht, wen ER will von Seinen Dienern.

2. Thessalonicher 2:11-12 Darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, so dass sie der Lüge glauben, damit gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit.

Koran 6:112-113 Wir haben den Feinden – die Satane (aus den Reihen) der Menschen und der Djinn – von jedem Propheten erlaubt, zum Trug eingebildete Wörter zu gebrauchen. Und hätte dein HERR es gewollt, hätten sie es nicht getan. Also lass ab von ihnen und ihren Erfindungen. Und das Herz derer, die nicht ans Jenseits glauben, sollen solchen Erfindungen zuhören und sie akzeptieren, damit ihre wahren Überzeugungen aufgedeckt werden.

Jeremia 18:3-6 Und ich ging hinab in des Töpfers Haus, und siehe, er arbeitete eben auf der Scheibe. Und der Topf, den er aus dem Ton machte, missriet ihm unter den Händen. Da machte er einen andern Topf daraus, wie es ihm gefiel. Da geschah des HERRN Wort zu mir: „Kann ich nicht ebenso mit euch umgehen, ihr vom Hause Israel, wie dieser Töpfer?“ spricht der HERR. Siehe, wie der Ton in des Töpfers Hand, so seid auch ihr vom Hause Israel in meiner Hand.

Koran 45:23 Hast du den gesehen, der sich seine eigene Neigung zum Gott nimmt und den Gott auf Grund (Seines) Wissens zum Irrenden erklärt und dem Er Ohren und Herz versiegelt und auf dessen Augen Er einen Schleier gelegt hat? Wer sollte ihn außer Gott wohl richtig führen? Wollt ihr euch da nicht ermahnen lassen?

Koran 18:57 Und wer ist ungerechter als der, der an die Zeichen seines Herrn gemahnt wurde, er wandte sich aber ab von ihnen und vergaß, was seine Hände vorausgeschickt hatten? Wahrlich, Wir haben Schleier über ihre Herzen gelegt, so daß sie es nicht begreifen, und Taubheit in ihre Ohren. Und selbst wenn du sie zum rechten Weg rufst, werden sie nie den rechten Weg einschlagen.

Jesaja 29:16 Wie kehrt ihr alles um! Als ob der Ton dem Töpfer gleich wäre, dass das Werk spräche von seinem Meister: Er hat mich nicht gemacht! und ein Bildwerk spräche von seinem Bildner: Er versteht nichts!

Jesaja 45:9-12 Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht denn der Ton zu seinem Töpfer: Was machst du? und sein Werk: Du hast keine Hände! Weh dem, der zum Vater sagt: Warum zeugst du? und zum Weibe: Warum gebierst du? So spricht der HERR, der Heilige Israels und sein Schöpfer: Wollt ihr mich zur Rede stellen wegen meiner Söhne? Und wollt ihr mir Befehl geben wegen des Werkes meiner Hände? Ich habe die Erde gemacht und den Menschen auf ihr geschaffen. Ich bin’s, dessen Hände den Himmel ausgebreitet haben und der seinem ganzen Heer geboten hat.

Hiob 40:2 Mit mir dem Mächtigen willst du dich streiten? Willst du mich tadeln oder gibst du auf?

Koran 6:39 Die aber Unsere Zeichen leugnen, sind taub und stumm in Finsternissen. Gott führt, wen Er will, in die Irre, und wen Er will, den führt Er auf einen geraden Weg.

Koran 6:110 Wir lassen ihre Herzen und ihren Verstand hin und her schwanken, weil sie schon beim ersten Mal nicht glauben wollten. So verharren sie in der Ableugnung, und schlagen sich so weiter im Irrtum herum.

2. Mose 33:19 Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.