Geschichte

Homosexualität und Islam: Zwei Männer in Anzügen, die über ein Feld an einem sonnigen Tag spazieren, während sie Händchen halten

Homosexualität und Islam

Ein Vortrag vom muslimischen Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr:

Islam und Homosexualität – geht das zusammen? | Teil 1: Vortrag
Islam und Homosexualität – geht das zusammen? | Teil 2: Fragerunde

Nun der Artikel zu Islam und Homosexualität:

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen beginnt diese Arbeit. Denn zu Ihm nehmen wir unsere Zuflucht, und in Seinem Namen beginnen wir. Und ich bitte Ihn, mir beizustehen, diese Aufgabe angemessen zu bewältigen und mich dabei nicht irregehen zu lassen, so dass sie zum Nutzen für den Islam und für die Muslime werden kann.

Das hier behandelte Thema ist für viele Muslime weiterhin ein sehr heikles Thema. Sie sind mehrheitlich der festen Meinung, dass Homosexualität und alle homosexuellen Handlungen Harâm (verboten) im Islam seien.

[…]

Der Qur’ân wurde von Allah mit der Wahrheit offenbart. Und es ist in der Hand eines jeden Menschen, sich an dessen Wortlaut zu halten und diese Wahrheit anzunehmen und nicht davon abweichenden Vorstellungen zu folgen:

Wahrlich, Wir haben dir [Muhammad] das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt für die Menschen. Wer sich rechtleiten lässt, der [tut es] für sich; und wer irregeht, der geht irre zu seinem Schaden. Und du [Muhammad] bist nicht Wächter über sie.

Koran 39:41

[…]

In Diskussionen mit Muslimen kann man immer wieder die Erfahrung machen, dass sie ein Verbot von Homosexualität als einen festen Bestandteil des Islams ansehen, der kaum einmal in Frage gestellt wird. Zu demselben Ergebnis kommt man gewöhnlich auch, wenn man von Muslimen verfasste religiöse Literatur daraufhin untersucht.

Sie glauben zu wissen, was für Verhältnisse in Lots Volk herrschten, obwohl sie sich dabei weder auf den Text des Qur’ans, noch auf betraubare Überlieferungen oder gar historische Fakten stützen können – sie glauben fest an etwas, das man ihnen vermittelt hat, aber sie hinterfragen und prüfen es nicht.

Unter Muslimen gab und gibt es ebenso Homosexuelle wie unter anderen Menschen, zum Teil mit eigenen Subkulturen von langer Tradition. In der Regel ist aber Homosexualität in muslimischen Gesellschaften ein Tabu, wenn auch jeweils von unterschiedlicher Intensität, sogar in solchen Ländern, in denen sie nicht strafbar ist. Das Tabu wird auf den Islam zurückgeführt. Ob seine authentischen Quellen tatsächlich hierfür herangezogen werden können oder ob der Islam wie in vielen anderen Fragen nur wieder Vorwand und missbrauchtes Mittel ist, soll der Ansatzpunkt für die folgenden Seiten sein.

Als Grund für die herkömmliche Auffassung werden Qur’ân-Verse und bestimmte Hadîthe angeführt, die als Beleg dafür gehalten werden.

Diese Arbeit soll nicht mehr als ein Versuch sein, diese Textstellen und die Gültigkeit der aus ihnen abgeleiteten Schlussfolgerungen zu überprüfen. Gleichzeitig sollen auf den folgenden Seiten auf der Grundlage des Qur’âns, dessen Wortlaut allein die Basis für eine islamische Antwort sein kann, der Rahmen und die Möglichkeiten für homosexuelle Partnerschaften untersucht werden.

[…]

Das Überwuchertsein des religiösen Denkens mit bestimmten Interpretationen, nicht angezweifelten Annahmen, Spekulationen, Tabus u.a. machten und machen vielfach immer noch eine sachliche Auseinandersetzung mit anderen Muslimen über viele Themen fast unmöglich. Das wird auch bei den zitierten muslimischen Autoren immer dann unübersehbar, wenn sie die von ihnen verkündeten Grundsätze nicht mehr als gültig ansehen, sobald sie sie auf Homosexualität anwenden könnten.

Im Laufe der Untersuchung wird sich zeigen, in welchem Ausmaß die Muslime schon sehr früh unter bestimmten – außerislamischen – Einflüssen die weitgefassten Aussagen des Qur’âns einschränkten, sich damit der in ihm liegenden interpretativen Möglichkeiten begaben und diese zum Teil sogar in deren Gegenteil verkehrten. Das betrifft in Grundzügen auch den Bereich der Sexualität und lässt sich ebenfalls in einer Reihe anderer Fragen aufzeigen.

In vielen Dingen übernahmen sie das Erbe der Christen und Juden. Wo der Qur’ân nur andeutungsweise berichtet, ergänzten sie es manchmal kritiklos um überkommene Mythen und Erzählungen, ohne sie akribisch gegen den Text des Qur’âns zu prüfen. Und sie taten es wohl in guter Absicht, überzeugt von der Richtigkeit ihrer Vorgehensweise. Denn die Muslime der Frühzeit ihrer Geschichte waren ja mehrheitlich Christen oder Juden gewesen, bevor sie zum Islam übertraten, mit einem definierten Welt- und Menschenbild, mit festen Überzeugungen, die sie in das neue Bekenntnis mitnahmen.

Unsere Überzeugung als Muslime jedoch, dass sowohl der Qur’ân, das Wort Gottes, als auch die Schöpfung auf den einen Urheber zurückgehen, lässt es nicht zu, uns auf Ansichten vergangener Jahrhunderte zu beschränken und beim Lesen des Qur’âns verfügbare Erkenntnisse des jeweiligen wissenschaftlichen Standes außer acht zu lassen.

Für jeden Menschen ist Sexualität ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, die ihn in seinem ganzen Wesen beeinflusst, seine Empfindungen, seine Gedanken und seine Vorstellungswelt beherrscht, sein Triebverhalten bestimmt – ein untrennbarer, von Gott so gewollter Teil seiner Persönlichkeitsstruktur. Hierzu gehört auch Homosexualität als ein Teilaspekt des breiten Spektrums menschlicher Sexualität.

[…]

Unter Homosexuellen werden hier Personen verstanden, die sich sexuell von Menschen angezogen fühlen und in ihnen die ihnen gemäßen Partner sehen, die dasselbe Geschlecht wie sie selbst haben. Bestimmte Verhaltensausprägungen spielen auf den folgenden Seiten nur insofern eine Rolle, wie sie vom verwendeten Material her in die Diskussion gebracht werden.

Wo im Text von Homosexuellen die Rede ist, sind Männer und Frauen gemeint, soweit der Zusammenhang dies nicht ausdrücklich ausschließt.

[…]

Es werden detailliert die Belege im Qur’ân angeführt. Sie widersprechen unübersehbar der traditionellen Sicht. Und es wird gezeigt, woher die traditionelle Vorstellung von den Muslimen übernommen wurde.

Der Qur’ân

Was Islam ist, hat Allah in klaren Worten im Qur’ân offenbart:

… Heute habe Ich eure Religion (arab.: dîn) für euch vollendet und Meine Gnade an euch erfüllt und euch den Islam zum Bekenntnis (arab.: dîn) erwählt. …

Koran 5:3

Mit anderen Worten: An jenem Tag hat Allah im Qur’ân den Islam vollendet und für uns zum Bekenntnis erwählt, und Er gab dieser Lehre den Namen Islam. Er hat ihn vollendet, d.h. alle späteren Ergänzungen in den verschiedenen Lehrtraditionen sind nicht Teil der offenbarten Lehre.

Und wer eine andere Glaubenslehre sucht als den Islam (so wie Allah ihn offenbart hat): nimmer soll sie von ihm angenommen werden, und im zukünftigen Leben soll er unter den Verlierenden sein.

Koran 3:85

Und im Qur’ân hat Allah den Propheten (S.) zu einem schönen Vorbild für uns erklärt:

Wahrlich, ihr habt an dem Propheten Allahs ein schönes Vorbild für jeden, der auf Allah und den letzten Tag hofft und Allahs häufig gedenkt.

Koran 33:21

[…]

Der Islam ist gemäß seinen Quellen eine Religion, die die Menschen so akzeptiert, wie Allah sie hat entstehen lassen, erschaffen hat. Allah erschuf den Menschen in der besten Form:

Wahrlich, Wir haben den Menschen in der besten Form erschaffen.

Koran 95:4

In (49:13) sagt Allah, wonach Er die Menschen beurteilen wird:

Wahrlich, der Angesehenste von euch vor Allah ist der Gottesfürchtigste unter euch. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.

Koran 49:13

Allah hat alle Menschen erschaffen, und zwar in „der besten Form“ (95:4), dazu zählen auch alle männlichen und weiblichen Homosexuellen mit ihrer besonderen (فطرة) fiTra – Disposition, Natur. Und Er erschafft die Menschen auf diese Weise immer wieder:

In Allahs Vorgehensweise wirst Du nie eine Änderung finden; und in Allahs Vorgehensweise wirst Du nie einen Wechsel finden.

Koran 35:43

Mit anderen Worten: Ein Teil der Menschen hatte und hat einen auf das gleiche Geschlecht gerichteten Geschlechtstrieb, von Allah so geschaffen und gewollt.

Wie sieht der Qur’ân sexuelle Partnerschaften?

In einem zentralen Vers zu dieser Frage setzt Allah alle zwischenmenschlichen Partnerschaften auf eine und dieselbe Stufe:

Unter Seinen Zeichen ist dies, dass Er (männliche bzw. weibliche) Partner (ازواج) für euch (Männer und Frauen) aus euch selber erschuf, auf dass ihr (Männer und Frauen) Frieden bei ihnen findet, und Er hat Liebe und Zärtlichkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt.

Koran 30:21

Im Qur’ân (30:21) beschreibt Allah folglich alle sexuellen Partnerschaften als gleichwertige, wünschenswerte Verbindungen, wenn man nicht willkürlich einfache Regeln und Möglichkeiten der arabischen Sprache missachtet.

Der verwendete Plural أَزْوَاجً (azwâj) – Partner, Gatten, Gattinnen ist der Plural sowohl von زوج (zauj, m. – Teil eines Paares, Paar, Partner, Partnerin …) und زوجة (zauja, f. – Partnerin, Gattin, ..), er ist somit geschlechtsneutral. Ebenso spricht Allah hier zu allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, da das Arabische die männliche Form verwendet, wenn Frauen und Männer angesprochen werden.

Der Ausdruck إِلَيْهَا – ilay-hâ – (hier wiedergegeben mit: bei ihnen) ist ein Femininum Singular und bezieht sich auf das vorstehende Wort أَزْوَاجًا – azwâjan – (Partner, Partnerinnen), ein arabisches Wort in gebrochener Pluralform. Dazu Carl Brockelmann:

„…Auch die sog. (= so genannten) gebrochene Plurale … sind eigentlich bloß Kollektivformen. Die Sprache betrachtet sie als Singulare generis feminini und konstruiert sie demgemäß …“.

Carl Brockelmann, Arabische Grammatik, S. 94 f.

Somit sind auch alle Regeln für einen نكاح (nikâH = Ehe/Ehevertrag) bzw. زواج (zawâj = Ehe, Partnerschaft) für alle gültig. Denn er macht die Menschen erst zu Partnern (ازواج, azwâj). Zumal es nirgendwo im Qur’ân ein Heiratsverbot gibt zwischen Menschen desselben Geschlechts. Folglich sind unter einem نكاح (nikâH) homosexuelle Verbindungen ebenso legal wie heterosexuelle. الحمد لله – al-Hamdu lillah.

Jeder Homosexuelle, Muslima oder Muslim, sollte von daher die von Allah so gewollte sexuelle Disposition dankbar akzeptieren.

Vorab die Fakten und das Ergebnis der Untersuchung in Kurzform:

Bis hierher beurteilt der Qur’ân alle zwischenmenschlichen sexuellen Partnerschaften als gleichwertig und gleichberechtigt. Eine Ehe zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts wird im Qur’ân nicht untersagt. Der Islam ist somit die einzige (mono-)theistische Lehre, die Homosexuelle und ihre Partnerschaften voll akzeptiert, الحمد لله.

Im Qur’ân untersagt Allah, etwas zu verbieten, was Er nicht verboten hat:

Wer ist ungerechter als der, welcher eine Lüge wider Allah ersinnt?

Koran 6:144

Zusammenfassung: Islam ist allein die offenbarte Lehre im Qur’ân, spätere Ergänzungen (Verbote, Gebote) durch Menschen gehören nicht dazu.

Worauf beruht die homosexualitätsfeindliche Argumentation der traditionellen Lehre?

Die traditionelle Argumentation führt als Beleg für ein Verbot von Homosexualität die Verse über Lot und sein Volk an.

Was aber sagen diese Verse tatsächlich aus?

Kein Wort im Qur’ân deutet an, dass die Passagen von Lot und seinem Volk im sexuellen Sinne zu verstehen seien. Ganz im Gegenteil. Es gibt 4 Passagen (7:80-81; 26:165-166; 27:54-55; 29:28-29), in denen Lot sein Volk tadelt, die alle mit denselben Worten eingeleitet werden.

“wa lûTan id qâla li-qaumi-hi” (و لوطا اذ قال لقومه)
„und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“,

In mehreren Koranversen

Der Leser wird in allen diesen Fällen besonders darauf hingewiesen, dass Lot alle Männer und Frauen seines Volkes, seiner Leute, in seinen Tadel einschliesst.

Ob Lots Worte in seinem Tadel (7:81, 27:56) „Kommt ihr zu den Männern anstatt/und nicht zu den Frauen bei einem Begehren (شهوة)“ eine sexuelle Bedeutung haben, kann man sehr leicht durch Anwendung einfacher Logik prüfen: Sein Tadel richtet sich an القوم (al-qaum), alle Männern und Frauen seines Volkes. Wenn seine Worte auf beide Gruppen im sexuellen Sinne anwendbar sind, können sie eine sexuelle Bedeutung haben, wenn nicht, müssen wir diese Bedeutung vermeiden.

Angewendet auf die Frauen: Glaubt wirklich jemand, dass das beabsichtigte Ergebnis seines Tadels “kommt ihr zu den Männern anstatt zu/neben den Frauen” ist, dass Lot wollte, dass die Frauen sich lesbisch verhalten? Warum sollte er das tun? In den beiden vorgenannten Versen wird das Wort (شهوة – schahwa) verwendet, das in den meisten Qurân-Übersetzungen als sexuelles Begehren (z.B. „Sinnenlust“) verstanden und übersetzt wird.

Das Wort schahwa kommt indes einschließlich der Verbformen an weiteren 11 Stellen im Qur’an vor:

  • schahawât (pl.): 3:14, 4:27 und 19:59
  • als Verbum (VIII. Stamm): 16:57, 21:102, 34:54, 41:31, 43:71, 52:22, 56:21, 77:42

An allen diesen Stellen hat es ganz klar keinen sexuellen Bezug. Dieser entstand und verstärkte sich erst durch die traditionelle Qur’ân-Interpretation der Verse von Lot und seinem Volk.

Es gibt keine historisch verlässlichen Zeugnisse über Lot und sein Volk und das, was in ihrer Stadt geschah. Es gibt nur eine Erwähnung im Alten Testament der Bibel, wo ein einziges Wort in einem der Bücher Mose zu einer verbreiteten Fehlinterpretation führte (die Quelle für bestimmte mawâlî-(موالي) –Überlieferungen).

Die Verse von Lot und seinem Volk

Über den Propheten Lot sagte der Qur’ân:

Und (Wir leiteten) Ismael und Elisa und Jonas und Lot; sie alle zeichneten Wir aus unter den Völkern.

Koran 6:86

Wann lebte Lot?

Die Antwort auf diese Frage hilft bei der Prüfung, ob es vor Lot bereits Homosexualität nachweislich gab. Denn in der traditionellen Interpretation wird anderes behauptet. Direkt auf Lot bezogene Angaben enthielten die befragten Nachschlagewerke nicht, dafür jedoch Zeitangaben über seinen Zeitgenossen und Verwandten Abraham.

Abraham, Stammvater der Israeliten und Araber, aus Ur in Chaldäa; kam um 1800 v. Chr. nach Kanaan; bei Hebron begraben.

Das Herder-Bücherei Lexikon, Band 1, Spalte 3

Abraham, erster der drei at. [= alttestamentlichen] Erzväter, zog zwischen dem 19. und 17. Jh. v. Chr. aus Haran oder Ur nach Kanaan.

rororo lexikon, Duden-Lexikon, Taschenbuchausgabe, Seite 15

Ungefähr um 2000 v. Chr. bauten hier Abraham und sein Sohn Ismael zusammen im Namen Gottes einen Altar, der Ka’ba genannt wurde.

Syed Muzaffar-ud-Din Nadvi, A Geographical History of the Qur’ân, Seite 53

Nach Reclams Bibellexikon, Seite 310, ist Lot (arabisch: lûT) der „Brudersohn Abrahams, der mit ihm nach Kanaan zieht, sich in Sodom niederlässt und dem Gericht über die Stadt entkommt.“ Nach dem Qur’ân ist er zudem ein Gesandter Gottes (26:162) unter dem Volk, bei dem er lebt.

Der folgende Abschnitt soll alle wichtigen Aspekte der Geschichte von Lot und seinem Volk zusammenfassen, so wie der Qur’ân sie schildert. Das kann dabei helfen, die Umstände besser zu verstehen, unter denen Lot lebte. Um einen vollständigen Überblick darüber zu erhalten, sind die einzelnen Teile, die an verschiedenen Stellen des Qur’âns zu finden sind – teils verkürzt, teils ausführlicher -, die einander ergänzen bzw. Wiederholungen darstellen und zum Teil in einander verschachtelt berichtet werden, thematisch zu sichten und zusammenzufassen.

Hierbei ergeben sich folgende Hauptthemen:

  • Lot und Abraham
  • Lot und das Volk
  • Die Gesandten
  • Die Vernichtung des Volkes
  • Lots Geschichte im Vergleich zu der anderer Gesandter

Sie lassen sich wiederum weiter unterteilen. Im Folgenden werden die Verse, die sich auf die Geschichte Lots beziehen, in der angegebenen thematischen Aufteilung wiedergegeben, erforderliche Erklärungen und Zusammenfassungen werden jeweils eingeschoben.

Lot und Abraham

Abraham wurde von einem Anschlag seines Volkes gegen sein Leben errettet und ging mit Lot, der mit ihm auswanderte, in das Land, das Allah segnete.

Sie [das Volk] wollten eine List gegen ihn [Abraham] anwenden. Doch Wir machten sie zu den größten Verlierern. Und Wir erretteten ihn und Lot in das Land, das Wir für die Menschen in aller Welt [wörtlich: für alle Welten] segneten.

Koran 21:70-71

Und Lot glaubte ihm [Abraham], und er sagte: „Ich werde zu meinem Herrn auswandern [wörtlich: hijra machen]. Er ist der Mächtige, der Weise.“

Koran 29:26

Demnach wirkte Lot unter Menschen, zu denen er als Fremder kam, nachdem er seine Heimat verlassen hatte. Mit Bailey, einem anglikanischen Autor, muss man annehmen, dass Lot sich als Fremder in der Stadt, in der er sich danach niederließ und über die der Qur’ân berichtet, nur mit eingeschränkten Rechten leben durfte.

Lot und sein Volk

Lot empfing von Gott Weisheit und Wissen:

Und Lot gaben Wir Weisheit [Hukm] und Wissen [‚ilm], und Wir erretteten ihn aus der Stadt [al-qarya], die Schlechtigkeiten [chabâ’ith] beging. Sie waren ein böses Volk [qaum], Frevler [fâsiqîn]. Und Wir ließen ihn in Unsere Barmherzigkeit eingehen; denn er war einer der Rechtschaffenen.

Koran 21:74-75

Lot war Gesandter Allahs, und Lot rief das Volk zu gottesfürchtigem Leben auf und betonte, dass er für sein Wirken keine Entlohnung erwarte. Lot bezeichnet sich als rasûl amîn, als einen zuverlässigen Gesandten, als jemanden, der zuverlässig, vertrauenswürdig und ehrlich ist, laut E.W. Lane auch faithful, d.h. wahrheits- und wortgetreu und glaubwürdig. Mit anderen Worten: Er wird niemanden einer Tat beschuldigen, die dieser nicht begangen hat.

Und Lots Volk [qaum lûT] zieh die Gesandten der Lüge, da ihr Bruder Lot zu ihnen sprach: „Wollt ihr nicht gottesfürchtig sein? Denn ich bin euch ein zuverlässiger Gesandter. So fürchtet Allah und gehorcht mir. Und ich verlange von euch keinen Lohn dafür [, dass ich euch die Offenbarung übermittle]. Mein Lohn ist allein beim Herrn der Welten.“

Koran 26:160-164

Lot kämpfte gegen etwas Abstoßendes, das es bis dahin noch nicht unter Menschen gab. Daraufhin drohte das Volk ihm mit Vertreibung.

Und [Wir entsandten] Lot, da er zu seinem Volk sprach: „Wollt ihr etwas Abstoßendes begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Ihr kommt zu Männern bei einem Begehren, nicht [auch] zu den Frauen. Nein, ihr seid ein das Maß überschreitendes Volk [qaum musrifûn].“

Koran 7:80-81

Kommt ihr unter allen Geschöpfen zu Männern, und lasst unbeachtet, was euch euer Herr an euren Partnern erschaffen hat? Nein, ihr seid ein übertretendes Volk [qaum ‚âdûn].“

Koran 26:165-167

Und [Wir entsandten Lot], da er zu seinem Volk sprach: „Wollt ihr etwas Abstossendes begehen, während ihr seht? Kommt ihr denn zu Männern bei einem Begehren, nicht [auch] zu Frauen? Nein, ihr seid ein unwissendes Volk [qaum tajhalûn].“

Koran 27:54-55

Und [Wir entsandten] Lot, da er zu seinem Volk sprach: „Ihr begeht etwas Abstoßendes, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Kommt ihr denn zu Männern und zerschneidet den Weg? Und in eurer Versammlung [nâdî-kum] begeht ihr Verwerfliches [munkar]?“ Doch die Antwort seines Volkes war nur, dass sie sprachen: „Bring uns Allahs Strafe, wenn du die Wahrheit sagst.“ Er sprach: „Mein Herr, hilf mir gegen das Volk, das Unheil anrichtet [mufsidîn].“

Koran 29:28-30

Über das Wort – nâdin – Versammlung – schreibt G. Lüling:

[…] der Stamm ndw [hat] ganz allgemein eine außergewöhnlich hehre, im profanen wie auch im religiösen Bereich erhabene Bedeutung. Während der IV. und V. Stamm fast ausschließlich eine profane Erhabenheit umschreibt (‚edel, großmütig sein, sich freigiebig zeigen‘), zeigt besonders der Sprachgebrauch des Qur’âns selbst, aber auch die alte arabische Poesie, dass die Stämme I und III ihren bevorzugten Platz in der religiösen Terminologie haben, als die Verben, die in Sonderheit für den feierlichen Aufruf zur Besinnung, zum Glauben stehen, auch für die Anrufung Gottes (z. B. 11,42; 21,83 und oft) […].

G. Lüling, Über den Ur-Qur’ân, Seite 63

Unter der ‚Versammlung‘ ist daher wenigstens eine Ratsversammlung, wenn nicht sogar eine religiöse Versammlung kultischen Inhalts zu verstehen. Die Worte ‚ihr … zerschneidet den Weg‘ können bedeuten, dass die Angesprochenen den Weg, d.h. die Verbindung nach außen, zu anderen Menschen außerhalb der Stadt unterbrechen; darauf weist auch, dass die Leute Lot daran erinnern, dass sie ihm den Kontakt zu anderen Menschen untersagt haben (s. 15:70). Sie können aber auch aussagen, dass das Volk den Handels- und Reiseweg, der an der Stadt vorbeiführt und den es auch später noch gibt (s. 15:76), unterbrochen haben. Zu dem Ausdruck ‚ihr … zerschneidet den Weg‘ schreibt Muhammad Ali:

[…] qaT’us-sabîl ist nach Kf [kassâf von abûl-qâsim maHmûd ibn ‚umar az-zamachscharî] ‚die Arbeit von Räubern, die Menschen töten und sich deren Eigentum aneignen‘. JB [jâmi’ul-bayan fî tafsîril-qur’ân von mu’înud-dîn ibn Sâfiyud-dîn] fügt nach den Wörtern taqta’ûna`s-sabîl als Erklärung hinzu: ‚Denn sie ermordeten gewöhnlich die Vorbeikommenden und beraubten sie ihres Eigentums‘. Andere Kommentatoren geben ähnliche Erklärungen.

Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, Seite 766

Welche Art von Verwerflichem die Leute in ihren Versammlungen begehen, wird im Qur’ân nicht weiter ausgeführt, außer dass Lot dafür die Strafe Gottes angekündigt hat. Der Vorwurf kann sich einerseits auf die gemeinsame Vorbereitung und Planung ihrer schlechten Taten (z. B. Wegelagerei) und ihres Übereinkommens, das Gastrecht für Fremde nicht anzuerkennen, beziehen. Wenn man ‚Versammlung‘ andererseits im kultischen Sinne verstehen will, so kann sich der Vorwurf auf ein frevelhaftes Ritual beziehen, das sich nicht auf den Glauben an den einen Gott gründet.

Und die Antwort seines Volkes war nur, dass sie [die einen zu den anderen] sagten: „Treibt sie hinaus aus eurer Stadt [qarya]. Denn sie sind Leute [unâs], die sich rein halten.“

Koran 7:82

Doch die Antwort seines Volkes war nur, dass sie [die einen zu den anderen] sagten: „Treibt Lots Anhänger [âl lûT] hinaus aus eurer Stadt [qarya]. Denn sie sind Leute [unâs], die sich rein halten.“

Koran 27:56

Die Antwort der Leute ist recht ungewöhnlich. Sie sagen: „Treibt sie aus eurer (nicht aber: treiben wir sie aus unserer) Stadt“. Daraus kann man nur schließen, dass Unruhe entstanden ist und es starke Interessen gibt, Lot und seine Anhänger auszuweisen. Einige befürworten zwar eine solche Aktion, wollen die Verantwortung dafür aber nicht übernehmen, solange formale Handhaben gegen ihn fehlen. Sie fordern daher andere auf, dies zu übernehmen. Seine Anhänger werden von ihnen als Leute beschrieben, die sich rein halten wollen. Das ist sicher spöttisch gemeint, wenn auch offensichtlich unter Verwendung eines Ausdruck, den Lot und seine Anhänger selbst verwenden; denn die Menschen in der Stadt verstehen ihr Tun sicher nicht als unrein. Worauf sich der Ausdruck ’sich rein halten‘ neben der allgemeinen Bedeutung ’sich einer untersagten Sache enthalten‘ beziehen kann, wird ersichtlich, wenn man dessen Gebrauch in der frühen Zeit des Alten Testaments berücksichtigt. Unter dem Stichwort ‚rein und unrein‘ heißt es u. a. in Reclams Bibellexikon:

In frühen alttest. Texten bezieht sich ‘r.’ [= rein] und ‘u.’ [= unrein] auf Hygiene- und Speisevorschriften (Richt 13, 4; 2 Sam 11,4). Bei den Profeten sind ‘r.’ und ‘u.’ umfassende religiöse-sittliche Kategorien. Unrein macht vor allem der Kult fremder Götter (Hos 5, 3; 6, 10; oft bei Ezechiel, z.B. Ez 20, 7).“

Reclams Bibellexikon, Seite 424 f.

Der Zusammenhang der beiden Verse, in denen der Ausdruck ’sich rein halten‘ vorkommt, zeigt, dass es hier nicht um Hygiene- und Speisevorschriften geht, sondern darum, dass sich Lot und seine Anhänger nicht am Tun der anderen Leute beteiligen. Man könnte daher auch davon ausgehen, dass damit der Kult fremder Götter gemeint ist, von dem sie sich fernhalten, wie die Fruchtbarkeitsreligionen jener Zeit in Kanaan.

Sie sprachen: „Wenn du nicht ablässt, Lot, so wirst du zu den Vertriebenen gehören.“ Er sprach: „Gewiss verabscheue ich euer Tun. Mein Herr, rette mich und die Meinen [ahl] vor dem, was sie tun.“

Koran 26:167-169

Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Bewohner der Stadt Lot offensichtlich gewähren lassen. Um sich für die Zukunft eine formale Handhabe gegen ihn zu verschaffen, greifen sie zu der Forderung, seine Aktivitäten einzustellen, und kündigen ihm für den Fall der Zuwiderhandlung die Vertreibung an. Damit machen sie ihm deutlich, dass sein Aufenthalt als Fremder nur unter einschränkenden Bedingungen geduldet wird.

Die Gesandten

Die Gesandten sind zuerst bei Abraham:

[Abraham] sprach: „Was ist euer Auftrag, ihr Gesandten?“

Koran 15:57

[Abraham] sprach: „Was ist euer Auftrag, ihr Gesandten?“ Sie sprachen: „Wir sind entsandt zu einem sündigen [mujrimîn] Volk, auf dass wir Steine aus Ton auf sie niedersenden, bezeichnet von deinem Herrn für die, die das Maß überschreiten.“

Koran 51:31-34

Sie sprachen: „Wir sind entsandt zu einem sündigen Volk, Lots Anhänger [âl lûT] ausgenommen; sie alle sollen wir erretten, bis auf seine Frau. Wir bestimmten es. Sie gehört zu denen, die zurückbleiben.“

Koran 15:58-60

Und da unsere Gesandten Abraham die frohe Botschaft [von der Geburt eines Sohnes] brachten, sprachen sie: „Wir werden die Bewohner dieser Stadt [ahl hâdihî`l-qarya] vernichten; denn ihre Bewohner [ahl] sind Missetäter [Zâlimîn].“ [Abraham] sprach: „Doch Lot ist dort.“ Sie sprachen: „Wir wissen sehr wohl, wer dort ist. Wir werden ihn und die Seinen [ahl] sicherlich retten bis auf seine Frau, die zu denen gehört, die zurückbleiben.“

Koran 29:31-32

Und als die Furcht von Abraham gewichen war und die frohe Botschaft zu ihm kam, da stritt er mit Uns über Lots Volk. Denn Abraham war milde, mitleidig und weichherzig. „O Abraham, steh ab davon. Denn der Befehl deines Herrn ist schon ergangen, und über sie kommt eine unabwendbare Strafe.“

Koran 11:74-76

Die Gesandten kommen zu Lot:

Und als die Gesandten zu Lots Anhängern [âl lûT] kamen, da sprach [Lot]: „Ihr seid Leute, die man [in unserer gefährdeten Lage besser] verleugnet [qaum munkarûn].“

Koran 15:61-62

M. Hamidullah übersetzt, Seite 242: „[…] des gens insolites […]“ – ungewöhnliche Leute; Max Henning, Seite 248, sagt: „[…] fremde Leute.“ Die Antwort der Gesandten aber ist: „Nein, im Gegenteil, […]“ und unterstützt diese Wiedergabe nicht: Die Gesandten sind Lot ja fremd und – wenn sie, wie allgemein angenommen wird – Engel sind – ungewöhnliche Leute.

Rudi Parets Wiedergabe, Seite 184: „[…] verdächtige Leute“, trifft von der Antwort der Gesandten her eher zu („Wir sind mit der Wahrheit gekommen“). Denn verdächtig sind sie in zweifacher Hinsicht:

  • Aus Sicht der Bewohner der Stadt, weil sie sich an Lot, einen Fremden, wenden und seine Gäste sind
  • Aus Lots Sicht, weil er äußerst vorsichtig sein muss und ihre Gegenwart seine Lage weiter verschärfen kann. Denn jeder Kontakt zu Fremden ist ihm untersagt (s. 15:70).

Die hier gewählte Übersetzung berücksichtigt eher die Wortbedeutung und die Antwort der Gesandten: „Nein, im Gegenteil [verleugne uns nicht …]“, und sie betonen, dass sie mit der Wahrheit gekommen sind und um ihn und die Seinen zu retten.

Nach H. Wehr, Seite 1313, bedeutet ankara: „Nicht kennen wollen (hu j-n), nicht wissen wollen (von e-r S.); nicht anerkennen, in Abrede stellen, leugnen; verleugnen (etw.) […] verwerfen, missbilligen […]“.

Sie sprachen: „Nein, im Gegenteil. Wir sind zu dir gekommen mit dem, woran sie zweifelten. Wir sind zu dir gekommen mit der Wahrheit; und gewiss, wir sind wahrhaftig. So mache dich auf mit den Deinen [ahl] in einem Teil der Nacht und folge ihnen [als letzter]. Und niemand von euch wende sich um, sondern geht, wohin euch geboten wird.“

Koran 15:63-65

Und als die Gesandten zu Lot kamen, war er ihretwegen besorgt und fühlte sich um ihretwegen hilflos und sprach: „Das ist ein schlimmer Tag.“

Koran 11:77

Und als Unsere Gesandten zu Lot kamen, war er ihretwegen besorgt und fühlte sich um ihretwegen hilflos. Sie sprachen: „Fürchte dich nicht. Denn wir sind hier, um dich und die Deinen [ahl] zu retten bis auf deine Frau, die zu denen gehört, die zurückbleiben. Denn wir werden über die Bewohner dieser Stadt [ahlu hâdihî`l-qarya] ein Strafgericht vom Himmel niedergehen lassen, weil sie sündigten [yafsuqûna].“

Koran 29:33-34

Das Verhalten des Volkes nach Ankunft der Gesandten:

Und sie suchten, ihn von seinen Gästen abwendig zu machen. Da blendeten Wir ihre Augen [und sprachen]: „Kostet nun Meine Strafe und Meine Warnung.“

Koran 54:37

Die Aussage des Qur’âns, dass die Leute Lot von seinen Gästen abwendig zu machen suchten, und die Betonung Lots, dass die Gesandten seine Gäste sind (15:68), vor denen sie ihn nicht beschämen sollen, stellt ganz klar, worum es dem Volk geht: Es will Lot dazu bringen, seinen Gästen das Gastrecht zu entziehen, und es will ihm damit ‚Schande antun‘ (15:68) und ihn ‚in Schmach stürzen‘ (15:69). Damit tritt es ein in jener Zeit fundamentales Recht des Fremden – besonders in Gebieten mit unsicheren Wegen und feindseligen Gruppierungen – mit den Füßen und folgt blind nur seinen gegen Lot gerichteten Absichten. Ebenso verweist die Stelle (11:79) auf das Gastrecht. Aus diesem Grunde betont auch Muhammad Ali im Zusammenhang mit 15:69 dies:

„[…] Lot war ein Fremder unter den Sodomitern und, wie der Vers zeigt, war es ihm vom Volk verboten worden, Fremde als Gäste aufzunehmen oder ihnen Schutz zu geben.“

Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, S.515

Unter dem Stichwort ‚Gastfreundschaft‘ führt Reclams Bibellexikon über das Gastrecht in der Zeit des Alten Testaments folgendes an:

[…] Der Reisende war in der Antike vielfach auf die G. [Gastfreundschaft] angewiesen, die ihm unentgeltlich Unterkunft und Verpflegung bot. Sie zu verweigern galt als Schande […], sie zu verletzen als Frevel […].

Reclams Bibellexikon, Seite 154 f.

Und die Bewohner der Stadt [ahlu`l-madîna] kamen frohlockend.

Koran 15:67

Offensichtlich, weil sie glauben, Lot selbst habe ihnen einen Anlass geliefert, ihre Absichten ihm gegenüber zu verwirklichen.

Er sprach: „Das sind meine Gäste; so tut mir nicht Schande an. Und fürchtet Allah und stürzt mich nicht in Schmach.“ Sie sprachen: „Haben wir dir nicht ein Verbot hinsichtlich anderer Menschen [wörtlich: der Welten, d.h. außerhalb der Stadt] auferlegt?“

Koran 15:68-70

Auch hier wird wieder deutlich, dass die Absicht der Leute in dem hier geschilderten Fall sich in erster Linie gegen Lot richtet, von denen dieser daher für sich Schmach und Schande befürchtet, und die Anwesenheit der Fremden in seinem Haus lediglich ein wohlfeiler Anlass dazu ist. Die Leute erinnern Lot daran, dass eine der Auflagen, unter denen ihm und seinen Anhängern der Aufenthalt in der Stadt zugestanden worden ist, darin bestehe, dass er zu anderen Menschen von außerhalb der Stadt keine Kontakte haben darf. Dadurch, dass Lot die Gesandten aufgenommen und ihnen das ihnen zustehende Gastrecht gewährt hat, hat er dagegen verstoßen und befürchtet Böses („Das ist ein schlimmer Tag“, 11:78, ein Tag, der schlimme Folgen haben wird). Aber auch angesichts seiner bedrängten Lage bleibt er rechtschaffen und verstößt nicht gegen ein in der damaligen Zeit für Reisende lebenswichtiges Grundrecht, das Gastrecht. Er kann und will sich nicht dem ungesetzlichen Verhalten der anderen anschließen, sondern hat den Gesandten mutig Schutz und Obdach gewährt, um sie vor den Leuten, denen das Gastrecht nichts bedeutet, die es mit Füßen treten und Reisende wohl auch ausrauben (29:29), zu schützen.

Er sprach: „Dies sind meine Töchter [nehmt sie als Garanten für mein und meiner Gäste Wohlverhalten], wenn ihr etwas tun wollt.“ Bei deinem Leben, in ihrer Trunkenheit irren sie hin und her.

Koran 15:71-72

Und sein Volk kam zornbebend zu ihm gelaufen; und schon zuvor hatten sie Böses verübt. Er sprach: „O mein Volk dies hier sind meine Töchter; sie sind reiner für euch. So fürchtet Allah und bringt nicht Schande über mich in Gegenwart meiner Gäste. Ist denn kein vernünftiger Mann unter euch?“ Sie antworteten: „Du weißt recht wohl, dass wir kein Anrecht auf deine Töchter haben, und du weißt auch, was wir wünschen.“

Koran 11:78-79

Zu diesen Versen sagt Muhammad Ali:

„Lot, so zeigt es sich in 1 Mose 19, 9 war in der Stadt ein Fremder: ‚Ist da einer als Fremdling hierhergekommen und will schon den Richter spielen‘, und da die Gesandten [ebenfalls] Fremde waren, wollten die Stadtbewohner ihm nicht erlauben, sie zu beherbergen. Lot bot seine Töchter als Geiseln an, damit es ihm erlaubt würde, seine Gäste bei sich zu behalten; denn nach (15:70) besaß er nicht die Genehmigung, irgendeinen Fremden in sein Haus kommen zu lassen: ‚Haben wir dir nicht ein Verbot hinsichtlich anderer Menschen auferlegt?‘, d. h. ihnen Schutz zu gewähren. Das kann von der ständigen Gefahr von Stammeskämpfen herrühren. […].“

Muhammad Ali, The Holy Qur’ân, Seite 453

Die Aussage, dass Lot auf seine Töchter verweist, verstehen viele Kommentatoren als Argument für ihre Vermutung, dass das Volk (die Männer und Frauen) die Gesandten zur Befriedigung ihrer sexuellen Absichten von Lot fordert. Sie gehen davon aus, dass die Gesandten Engel in der Gestalt von Männern sind. Manche sagen, dass sie junge Männer, andere, dass sie gutaussehende junge Männer seien (z. B. Yusuf Ali, The Holy Quran, Band 1, Seite 649 zu 15:67; ibn kathir, Band 2, Seite 451 zu 11:69-73, Seite 453 zu 11:77-79, Seite 554 zu 15:61-64; Muhammad Asad, Seite 327 zu 11:77, S. 389 zu 15:67). Diese Annahme ist frühestens bei dem jüdischen Schriftsteller Josephus (37 oder 38 – nach 100 n. Chr.) nachweisbar, der damit einer Tendenz folgt, die außerhalb der Schriften des Alten Testaments, des rabbinischen Schrifttums und damit außerhalb der vorherrschenden religiösen Tradition des Judentums liegt und deren Ursprung nicht bekannt ist. Sie hat sich über die christliche Tradition bis zu den Muslimen erhalten.

Der Qur’ân sagt nicht ausdrücklich, dass die Gesandten Engel sind. Doch schließen die klassischen Kommentatoren es aus dem Wort ‚Gesandte‘, das auch für Engel verwendet wird (s. Muhammad Asad, Seite 325). Und nur unter dieser Voraussetzung sind die Verse (51:32-34) verständlich. Über das Aussehen oder das Alter der Gesandten gibt es im Qur’ân keinen Hinweis. Jede dahingehende Äußerung lässt sich nicht aus ihm ableiten und ist reine Spekulation.

Es ist kaum vorstellbar, dass Lot seine Töchter den Leuten überantworten würde, damit sie sie missbrauchten (ebenso wenig wie man es sich in Bezug auf den Propheten Muhammad (S.) und seine Tochter oder einen der anderen Propheten vorstellen kann). Nach dem Wortlaut des Alten Testaments, das von ’seinen Schwiegersöhnen, die seine Töchter heiraten wollten‘ (1 Mose 19, 14) spricht, hat Lot sie diesen schon versprochen.

Ebenso ist die Annahme, dass das Volk die Gesandten für sexuelle Ausschweifungen fordert, nicht aus dem Wortlaut des Qur’âns zu belegen. Zudem ist es unverständlich, warum die Leute nicht auch die anderen Männer unter Lots Anhängern, zumal die jungen und gutaussehenden, oder gar Lot selbst begehren, wenn sie tatsächlich so hemmungslos auf gleichgeschlechtliche Befriedigung den Gesandten gegenüber versessen waren. Weiterhin bleibt unverständlich, welchen Grund ein Teil des Volkes, nämlich die Frauen (qaum = Volk, d.h. die Männer und Frauen des Volkes), gehabt haben soll, sich diesem Ansinnen anzuschließen; dem Wortlaut nach gehören sie zum Volk.

Lots Verweis auf seine Töchter wird damit erklärt, dass

  1. Lot sie dem Volk zur Heirat anbietet, um die Leute von ihrem sexuellen Ansinnen gegenüber den Gästen abzuhalten
  2. Lot damit bedeuten will, dass Frauen die für das Volk angemessenen Geschlechtspartner seien.

Die erste Annahme würde zu keinem befriedigendem Ergebnis führen, weil nur wenige Männer (entsprechend der Zahl der Töchter) eine Ehe eingehen könnten. Vor allem aber verweist die Antwort der Leute (11:79) diese Ansicht in den Bereich der Spekulation; sie sagen: „Du weißt doch, dass wir kein Recht [= mâ la-nâ fî banâti-ka min Haqq, nicht: sexuelles Interesse] auf deine Töchter haben, und du weißt auch, was wir wollen.“

Hans Wehr gibt für das Wort Haqq in Verbindung mit der Präposition fî auf Seite 276 die folgenden Bedeutungen an: „Recht, Anrecht, Anspruch, Rechtsanspruch (fî auf).“

Soweit Lots Töchter unverheiratet sind, haben die Leute grundsätzlich ein Recht darauf, sie zu ehelichen. Nur in dem Fall, dass diese bereits verheiratet sind, haben sie es nicht und gibt ihre Antwort einen Sinn. Doch muss wohl ausgeschlossen werden, dass Lot ihnen seine verheirateten oder verlobten Töchter zur Ehe anbietet, weil er damit gegen Gebote Gottes verstoßen würde und seiner Aufgabe, die Menschen auf den rechten Weg zu führen, nicht gerecht werden würde.

Wir wissen nichts Näheres über die sozialen Verhältnisse und die Auswirkungen des Gastrechts zur Zeit Lots. Doch könnte man aus den Versen schließen, dass die Leute nach ihrem Rechtsverständnis Lots Töchter nicht ehelichen konnten, weil Lot bei ihnen das Gastrecht in Anspruch nahm und er und seine Anhänger damit nicht die vollen Bürgerrechte besaßen, was gegebenenfalls einen solchen Kontrakt ausschließen würde, oder dass die Leute einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten als die von Lot vertretene, was eine eheliche Verbindung unter Umständen ebenfalls nicht zulassen würde.

Einige Kommentatoren (Hinweise gibt es dazu bei Muhammad Asad, Seite 327 zu 11:78; Muhammad Ali, Seite 453, u. a.) beziehen den Ausdruck ‚Töchter‘ auf die Frauen im Volk, da Lot als Gesandter im übertragenen Sinne deren Vater sei. Auch dadurch wird die Antwort des Volkes nicht verständlicher: Denn die Männer in ihm haben ein Recht – sicherlich auch nach Ansicht Lots -, Frauen zu ehelichen. Muhammad Ali zu dieser Frage zu 11:77:

[…] Eine andere Ansicht ist, dass Lot seine Töchter zur Heirat anbot, da er dadurch kein Fremder mehr unter ihnen sein würde, sondern einer von ihnen. Einige Kommentatoren haben vorgeschlagen, dass Lot nicht auf seine eigenen Töchter verwies, sondern auf die Frauen des Stammes, weil ein Prophet von den Frauen seines Stammes als von seinen Töchtern sprechen würde (Rz [= at-tafsîrul-kabîr von fachrud-dîn râzî], JB [= jâmi’ul-bayân fî tafsîril-qur’ân von mu’înud-dîn ibn Sâfiyud-dîn]), und in diesem Falle nur auf die natürliche Beziehung von Mann und Frau verwiesen hätte. Die Antwort seines Volkes scheint sich jedoch auf seine Töchter zu beziehen.

Muhammad Ali, Seite 453 f.

Ganz generell spricht gegen die Annahme, dass das Volk gegenüber Lots Gästen sexuelle Absichten hege, der Wortlaut des Qur’âns, der eine solche Aussage nicht macht. Damit entfällt auch die zweite oben angeführte Annahme. Zudem ist die Antwort der Gesandten an Lot (11:81): „Sie sollen dich [= Lot] nicht erreichen [mit ihren bösen Absichten]“, d. h. das Volk verfolgt gegenüber Lot bestimmte Absichten, nicht aber gegenüber den Gesandten. Wenn Lot vertrieben wird, kann er als Folge allerdings das Gastrecht gegenüber seinen Besuchern nicht ausüben. Deshalb fühlt er sich ihretwegen besorgt und hilflos (11:77).

Die naheliegendste Erklärung auf Grund des Wortlautes des Qur’âns ist sicherlich, dass Lot versucht, sein Wohlverhalten und das seiner Gäste mit dieser Geste zu bekräftigen und das Recht der Fremden auf Gastfreundschaft zu betonen, und er dabei an die Einsicht vernünftiger Menschen appelliert (11:78). Außerdem betont er mit dem Hinweis auf seine Töchter die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern auch als Garanten.

Denn, wenn die Leute sagen, dass sie auf die Töchter Lots keinen Rechtsanspruch haben, als Lot sie ihnen als Austausch für die Sicherheit seiner Gäste anbietet, bedeutet das auch, dass die Frauen in ihren Augen nicht rechtsfähig sind, nicht als Garanten akzeptiert werden können, Frauen bei ihnen rechtlos, wenigstens von minderem Rechtsstatus sind.

Mit anderen Worten: Dass das Volk die Töchter nicht als Garanten akzeptiert, kann von daher nur bedeuten, dass der Status der Frauen in dem sozialen Verbund der Stadt außergewöhnlich gering ist. Mit ihnen kann Lot daher ihrem Rechtsanspruch auf Garanten oder Geiseln nicht genügen. Für diese Deutung spricht auch, dass die Leute bei Verfolgung ihrer materiellen Bestrebungen (= ‚Begehren‘) sie unbeachtet lassen und diese Geschäfte nur von Männern abwickeln lassen, obwohl Gott sie für sie als Gefährten und Partner erschaffen hat (26:165-166).

Es ist auch eine andere Erklärung möglich: Lot ist nur unter eingeschränkten Rechten ein Aufenthalt in der Stadt zugestanden worden. So ist es ihm untersagt, Kontakt mit Fremden außerhalb der Stadt aufzunehmen (15:70). Für die Bewohner der Stadt bedeutet das offensichtlich, dass er Fremden gegenüber auch nicht das Gastrecht ausüben darf. Aus ihrer Sicht kann er daher seine Zuwiderhandlung nicht dadurch folgenlos für sich machen, dass er auf seine Töchter als Garanten verweist, und sie lehnen es ab, auf seinen Vorschlag einzugehen, weil sie unter diesem Aspekt keinen Rechtsanspruch auf sie für sich ableiten können und wollen.

Und sein Volk kam zu ihm gelaufen; und schon zuvor hatten sie böse Taten [sayyi’ât] verübt. Er sprach: „Mein Volk, dies sind meine Töchter; sie sind reiner für euch. So fürchtet Allah und bringt mich nicht hinsichtlich meiner Gäste in Schande. Ist denn kein vernünftiger Mann unter euch?“

Koran 11:78

Das Volk kommt – wie schon früher – in böser Absicht zu ihm. Um seinen Gästen das Gastrecht zu sichern, bietet er seine Töchter als Garanten für das Wohlverhalten seiner Gäste mit der Begründung an, sie seien reiner als das Vorhaben, das den Fremden zustehende Gastrecht zu verletzen.

Sie sprachen: „Du weißt doch, dass wir kein Recht [ Haqq] auf deine Töchter haben, und du weißt, was wir
wollen.

Koran 11:79

Schon einmal haben sie ihm angedroht, ihn zu vertreiben, wenn er nicht von dem ablässt, was sie ihm untersagt haben.

Er sprach: „Hätte ich doch die Macht euch gegenüber, oder könnte ich mich nach einer starken Stütze wenden!“

Koran 11:80

Lot ist sich seiner gefährdeten Lage bewusst, als sein Versuch misslingt, die Leute zu besänftigen und die Einhaltung des Gastrechts für die Gesandten sicherzustellen. Selbst der Verweis auf seine Kinder, seine Töchter, und der Appell an vernünftige Männer im Volk führen zu nichts. In ihrer Blindheit wollen sie nicht auf Lots Angebot eingehen. Sie erinnern ihn daran, dass auch er wisse, was sie eigentlich von ihm wollen. Lot seinerseits weiß um seine schwache Position. Seine Äußerung: „Hätte ich doch die Macht euch gegenüber, oder könnte ich mich nach einer starken Stütze wenden!“ zeigt seine Hilflosigkeit ganz deutlich und führt den Leuten noch einmal vor Augen, dass er alleinsteht und daher der Auflage nachgekommen ist, von sich aus keine Kontakte zu Menschen außerhalb der Stadt aufzunehmen. Denn Unterstützung für sich und seine Mission kann er – wie die Situation sich darstellt – nicht in der Stadt finden, sondern nur außerhalb.

Und Wir ließen die Gläubigen, die dort waren, fortgehen. Allein, Wir fanden dort nur ein Haus von Muslimen. Und Wir hinterließen darin ein Zeichen für jene, die die qualvolle Strafe fürchten.

Koran 51:35-37

Lot und seine Anhänger, die Gläubigen bzw. Muslime, lebten in einem Haus zusammen. Vielleicht geschah es, weil die anderen sie dazu veranlassten und sie besser unter Kontrolle behalten wollten, sie gleichsam ghettoisieren wollten, vielleicht weil die Anhänger Lots selbst nur diesen Weg sahen, um einander besser zu beschützen und sich von dem Tun der anderen fernzuhalten. Und es zeigt, dass sie nur wenige Leute waren.

Sie sprachen: „Lot, wir sind Gesandte deines Herrn. Sie sollen dich nicht erreichen [mit ihren bösen Absichten]. So mache dich auf mit den Deinen [ahl] in einem Teil der Nacht, und niemand von euch wende sich um als deine Frau. Denn, was jene dort treffen wird, das wird sie [ebenfalls] treffen. Siehe, der Morgen ist ihre festgesetzte Frist. Ist der Morgen nicht nahe?“

Koran 11:81

Um Lot vor weiteren Bedrängnissen durch die Bewohner zu bewahren und ihn und die Seinen vor der Vernichtung zu retten, sollen sie die Stadt verlassen.

So mache dich auf mit den Deinen [ahl] in einem Teil der Nacht und folge ihnen [als letzter]. Und niemand von euch wende sich um, sondern geht, wohin euch geboten wird.

Koran 15:65

Die Vernichtung des Volkes

Und Wir verkündeten ihm diesen Ratschluss, dass die Wurzel jener abgeschnitten werden sollte am Morgen.

Koran 15:66

Und Lot war gewiss ein Gesandter, da Wir ihn und die Seinen [ahl] alle erretteten, bis auf eine alte Frau unter denen, die zurückblieben. Dann vernichteten Wir die anderen.

Koran 37:133-136

So erretteten Wir ihn und die Seinen [ahl] alle, bis auf eine alte Frau unter denen, die zurückblieben. Dann vernichteten Wir die anderen.

Koran 26:170-172

So erretteten Wir ihn und die Seinen [ahl] bis auf seine Frau; sie gehörte zu denen, die zurückblieben. Und Wir ließen einen gewaltigen Regen über sie niedergehen. Nun sieh, wie das Ende der Sünder war!

Koran 7:83-84

So erretteten Wir ihn und die Seinen [ahl] bis auf seine Frau; sie ließen Wir unter denen, die zurückblieben. Und Wir ließen Regen über sie niedergehen; und schlimm war der Regen den Gewarnten.

Koran 27:57-58

Alle Anhänger Lots folgen der Aufforderung, die Stadt zu verlassen. Nur seine Frau/eine alte Frau bleibt mit den anderen zurück. Die Erwähnung dieser Frau und die Tatsache, dass Frauen zu dem Volk gehören, zeigt zudem, dass der Grund für die Bestrafung des Volkes nicht in irgendwelchen homosexuellen Aktivitäten der Männer zu suchen ist, sondern in anderen Taten, denen sich diese Frau auch verbunden fühlt, so dass sie nicht mit Lot geht.

Das Volk Lots erklärte die Warnungen als Lüge. Da sandten Wir einen Sandsturm über sie außer über die Anhänger Lots [âl lûT], die Wir im Morgengrauen erretteten als eine Gnade von Uns. So belohnen Wir den, der dankbar ist. Und er hatte sie vor Unserer Strafe gewarnt, sie aber bezweifelten die Warnungen.

Koran 54:33-36

Als Unser Befehl eintraf, da kehrten Wir in dieser [Stadt] das Oberste zuunterst [ja’al-nâ ‚âliya-hâ sâfila-hâ] und ließen auf sie Steine aus Ton niederregnen Schicht auf Schicht. Gezeichnet [für sie] bei deinem Herrn. Und das ist nicht fern von den Frevlern [Zâlimîn].

Koran 11:82-83

Da erfasste sie der Schrei bei Sonnenaufgang. Und Wir kehrten das Oberste zuunterst [ja’al-nâ ‚âliya-hâ sâfila-hâ] und ließen auf sie Steine aus Ton niederregnen.

Koran 15:73-74

Und in der Morgenfrühe ereilte sie eine dauernde Strafe. „So kostet Meine Strafe und Meine Warnung.“

Koran 54:38-39

Und Wir haben davon ein klares Zeichen zurückgelassen für Leute, die verstehen.

Koran 29:35

Über die religiösen Verhältnisse in der Stadt wird wenig mitgeteilt. Jedoch zwei Verse im Anschluss an die Geschichte Lots in Sura 27 sind aufschlussreich:

Sprich [Muhammad]: „Aller Preis gebührt Allah, und Frieden sei über jenen seiner Diener, die Er auserwählt hat. Ist Allah besser oder die Götter, die sie [Ihm] an die Seite stellen? Wer hat denn Himmel und Erde erschaffen, und wer sendet Wasser für euch vom Himmel nieder, durch das Wir prachtvolle Gärten sprießen lassen? Ihr vermögt nicht, ihre Bäume sprießen zu lassen. Gibt es einen Gott neben Allah? Nein, sondern sie sind ein Volk, das [Ihm Götter] gleichsetzt [oder: das (vom rechten Weg) abweicht].“

27:59-60

Wenn man diese Verse in enger Verbindung zu der Geschichte Lots liest, weisen sie darauf hin, dass das Volk Götzendienst ausübte oder wenigstens von ihm im religiösen Leben stark beeinflusst war. Die Tatsache, dass der Qur’ân die Anhänger Lots als Gläubige und Muslime bezeichnet (51:35-36), nicht aber das übrige Volk, weist in die gleiche Richtung.

Lots Geschichte im Vergleich zu der anderer Gesandter

Die Zerstörung der Stadt, in der Lot eine Zeitlang lebte, war in der Menschheitsgeschichte kein einmaliges Geschehen und muss nicht die Folge irgendwelcher sexueller Missetaten gewesen sein wie andere Berichte im Qur’ân zeigen. Andere Städte und Völker wurden nach dem Qur’ân ebenfalls und aus anderen Gründen vernichtet und die Propheten und ihre Anhänger zuvor gerettet. In der 7. Sura, in der auch über Lot und sein Volk berichtet wird, heißt es z. B. über

  • Noah und sein Volk (7:64):
    Doch sie leugneten ihn, dann erretteten Wir ihn und die bei ihm waren in der Arche, und ließen jene ertrinken, die Unsere Zeichen verwarfen. Sie waren gewiss ein blindes Volk.
  • hûd und das Volk ‚âd (7:72):
    Sodann erretteten Wir ihn und die mit ihm waren durch Unsere Barmherzigkeit, und Wir schnitten den letzten Zweig derer ab, die Unsere Zeichen leugneten und nicht Gläubige waren.
  • SâliH und das Volk thamûd (7:76-78):
    Da sprachen die Hoffärtigen: „Wir glauben nicht an das, woran ihr glaubt.“ Dann erfasste sie das Erdbeben, und am Morgen lagen sie in ihren Wohnungen auf dem Boden hingestreckt.
  • schu’aib in madyân (7:91-92):
    Dann erfasste sie das Erdbeben, und am Morgen lagen sie in ihren Wohnungen hingestreckt. Jene, die schu’aib der Lüge beschuldigt hatten, wurden, als hätten sie nie darin gewohnt – sie waren die Verlorenen.

Dann heißt es über diese Städte:

Nie sandten Wir einen Propheten in eine Stadt, ohne dass Wir ihre Bewohner mit Not und Drangsal heimsuchten, auf dass sie sich demütigen mögen. Darauf verwandelten Wir den üblen Zustand in einen guten, bis sie anwuchsen und sprachen: „Auch unsere Väter erfuhren Leid und Freude.“ Dann erfassten Wir sie unversehens, ohne dass sie es merkten. Hätte aber das Volk der Städte geglaubt und wären sie rechtschaffen gewesen, so hätten Wir ihnen ganz gewiss vom Himmel und von der Erde Segnungen eröffnet. Doch sie bezeichneten [die Gesandten] als Lügner; so erfassten Wir sie um dessentwillen, was sie sich erwarben. Sind die Bewohner der Städte sicher, dass Unsere Strafe nicht über sie kommt zur Nachtzeit, während sie schlafen? Oder sind die Bewohner der Städte sicher, dass Unsere Strafe nicht über sie kommt zur Mittagszeit, während sie beim Spiel sind?

Koran 7:94-98

Dies sind die Städte, deren Kunde Wir dir gegeben haben. Ihre Gesandten waren zu ihnen gekommen mit deutlichen Zeichen. Allein sie mochten nicht an das glauben, was sie zuvor als Lüge bezeichnet hatten. Also versiegelte Allah die Herzen der Ungläubigen. Und bei den meisten von ihnen fanden Wir kein Worthalten, sondern fanden die meisten von ihnen als Frevler [fâsiqîn].

Koran 7:101-102

Ähnliches finden wir in der 11. Sura. Abschließend heißt:

Das ist von der Kunde der [bestraften] Städte, die Wir dir erzählen. Manche von ihnen stehen noch aufrecht da, und [manche] sind niedergemäht worden. Nicht Wir taten ihnen Unrecht, sondern sie taten sich selber Unrecht an; und ihre Götter, die sie statt/neben Allah anriefen, nützten ihnen ganz und gar nichts, als deines Herrn Befehl eintraf; sie mehrten nur ihr Verderben. Also ist der Griff deines Herrn, wenn Er die Städte erfasst, weil sie freveln [Zâlima]. Wahrlich, Sein Griff ist schmerzhaft und streng.

Koran 11:100-102

Zusammenfassung

Eine Reihe von Fragen, die der Bericht des Qur’ân aufwirft, müssen unbeantwortet bleiben. Es ist u.a. nicht klar,

  • warum Lot sich von Abraham trennt und gerade in diese Stadt geht,
  • warum er der ‚Bruder‘ (26:161) seines Volkes genannt wird, obwohl er ein Fremder unter ihnen ist
  • was mit ihm und seinen Anhängern nach der Vernichtung der Stadt und ihrer Bewohner geschieht.

Das Volk bzw. die Leute, bei denen Lot und seine wenigen Anhänger leben, sind die Bewohner einer Stadt, die im Qur’ân ungenannt bleibt und unter der man sich eine Art Stadtstaat mit einer Ratsversammlung vorzustellen hat. Der religiöse Hintergrund dieser Menschen wird aus den Aussagen Lots nicht deutlich. Lots Betonung, dass er für sich keinen Lohn – außer bei Allah – erwarte, lässt die Annahme zu, dass er dort bezahlte, für den sakralen Bereich zuständige Leute vorfindet. Darüber hinaus weisen die Verse im Anschluss an seine Geschichte auf eine Form des Götzendienstes.

Im Unterschied zum Alten Testament, das nur von den Männern spricht, verwendet der Qur’ân zur Bezeichnung von Lots Volk das Wort qaum, das im Zusammenhang mit Propheten jeweils die Männer und Frauen eines Volkes umfasst. Damit wird einer einseitig homosexuellen Interpretation der Geschichte von Lot weiterer Boden zu entzogen (es hat aber nicht verhindern können, dass Muslime sich des alten Interpretationsmusters bedienten). Auch wird dadurch der eigentliche Grund für Lots Verweis auf seine Töchter deutlicher hervorgehoben: Er bietet sie als gleichwertige Garanten für seine Gäste an.

Lot erklärt sich den Leuten als zuverlässigen Gesandten Gottes und ruft sie zur taqwa, Gottesfurcht, Rechtschaffenheit, auf und zum Gehorsam sich gegenüber. Er wendet sich gegen etwas Abstoßendes, das vor diesen Leuten noch niemand begangen habe, und er tadelt, dass sie alle bei einem ‚Begehren‘ zu den Männern kommen, nicht jedoch zu den Frauen. Außerdem sollen sie Vorüberziehende, d.h. Reisende überfallen und ausrauben, statt ihnen das Gastrecht zu gewähren. Verwerfliches begehen sie auch in ihren Versammlungen, indem sie dort Aktionen beschließen, die den damals akzeptierten Grundrechten zuwiderlaufen. Sie sind ein unwissendes, übertretendes, jedes Maß überschreitendes und Unheil anrichtendes Volk.

Lot wird von den Stadtbewohnern zum Lügner erklärt, was seine Mission betrifft. Er und seine Anhänger werden als ‚Leute, die sich reinhalten‘ wollen, bezeichnet. Das ist sicherlich spöttisch gemeint, gibt andererseits wohl auch das Selbstverständnis von Lot und den Seinen – den Muslimen bzw. Gläubigen – wieder und verdeutlicht, dass sie sich von den anderen in bestimmten Bereichen fernhalten.

Die Bewohner der Stadt bilden offenbar eine Gemeinschaft, die nicht tolerieren kann, dass es Widerstand gegen bestimmte Aspekte ihrer Lebensform gibt, so dass Lot mit seinen Anhängern nur die Möglichkeit bleibt, in einem Haus zusammenzuleben, wenn sie sich davon fernhalten wollen. Zur Aufrechterhaltung ihrer besonderen sozialen und/oder kultischen Verhältnisse beschuldigen die Leute Lot der Lüge.

Lots Wirken offenbart die unduldsame Haltung der Bevölkerung und führt dazu, dass die Leute einander anstacheln, ihn aus der Stadt zu vertreiben. Niemand will zunächst dafür die Verantwortung übernehmen, da der Anlass anscheinend nicht ausreichend für eine solche Maßnahme ist. Doch wird ihm – wohl um für die Zukunft nicht ohne formale Handhabe ihm gegenüber zu sein – jede weitere Aktivität unter Androhung der Vertreibung untersagt. Außerdem darf er keinen Kontakt zu Außenstehenden aufnehmen. Damit soll offensichtlich verhindert werden, dass er Unterstützung und Schutz außerhalb der Stadt sucht. Als Folge dieser Maßnahmen macht sich jeder Fremde verdächtig, der sich an ihn wendet oder gar als Gast zu ihm kommt. Diese Situation legt Lot äußerste Umsicht und Vorsicht im Umgang mit Fremden auf; denn jeder Besucher kann seine Lage unhaltbar machen.

Er befindet sich in einer schier ausweglosen Lage: Verhält er sich ruhig entsprechend den Auflagen der Stadt, so wird er seiner Aufgabe als Gesandter Gottes nicht gerecht, die Menschen zum rechten Weg aufzurufen. Setzt er hingegen seine Arbeit offen fort, so gefährdet er seine Sicherheit und die seiner Anhänger; und wird er infolgedessen vertrieben, so kann er ebenfalls seine Aufgabe bei diesen Menschen nicht mehr erfüllen. Unter diesen schwierigen Gegebenheiten kommen die Gesandten zu ihm. Er kann und will ihnen das ihnen zustehende Gastrecht nicht vorenthalten und nimmt sie auf. Ihm sind die Folgen bewusst, sagt dies auch seinen Gästen und erklärt ihnen seine Hilflosigkeit in dieser gefährdeten Lage.

Froh über diesen ‚Verstoß‘ gegen ihre Auflagen kommen die Bewohner der Stadt zu ihm geeilt und wollen ihre Absichten ihm gegenüber verwirklichen. Zunächst suchen sie ihn zu veranlassen, sich von seinen Gästen abzuwenden und ihnen das Gastrecht zu entziehen, und wollen ihn auf diese Weise bloßstellen und in Schande stürzen. Denn gibt Lot nach, so setzt er sich vor seinen Gästen ins Unrecht, straft vor allen Leuten seinen Anspruch Lügen, ein zuverlässiger, vertrauenswürdiger Gesandter zu sein, und bestätigt damit den Vorwurf, ein Lügner gegenüber seiner Mission zu sein. Weigert er sich, muss er mit den angekündigten Gegenmaßnahmen rechnen. In dieser ausweglosen Situation versucht er, die Leute zum Einlenken zu bewegen, zumindestens die vernünftigen unter ihnen, verweist auf seine Töchter und bietet sie als Garanten für sein und seiner Gäste Wohlverhalten an. Doch die Leute sind blind und trunken angesichts dieser günstigen Gelegenheit, sich seiner zu entledigen. Sie sehen nur die formalen Aspekte von Lots Verstoß, nicht aber die Unrechtmäßigkeit ihres eigenen Verhaltens. Sie lehnen folglich seinen Vorschlag ab und verweisen darauf, dass sie keinen Anlass sehen, aus seinem Verstoß gegen ihr Verbot ein Recht auf seine Töchter abzuleiten.

Die Gesandten hingegen versichern Lot, dass die Bewohner der Stadt ihn mit ihren Absichten nicht erreichen werden, sondern er sich zuvor von sich aus mit den Seinen aus der Stadt entfernen soll. Dann wird sie mit allen verbliebenen Bewohnern vernichtet.

Die Verse über Lot und sein Volk und der Sodom-Mythos

Unter dem Sodom-Mythos wird hier die unter Christen und Muslimen gängige Vermutung verstanden, dass Lot bei einem Volk lebte, in dem die Männer durchweg homosexuell gewesen seien, eine Annahme, die unter Berücksichtigung von Evolution und Biologie absurd ist. Diese Situation könnte daher nur durch ein „Wunder“ entstanden sein, ein Begriff, den der Qur’ân nicht kennt. Und ein „Wunder“ könnte ja nur von Allah veranlasst worden sein, und damit wären die Männer für ihr Verhalten nicht verantwortlich.

Wie ist es möglich, dass – wie die Sodom-Mythos-Anhänger annehmen – der männliche Teil der Bevölkerung homosexuell gewesen sei? Homosexualität ist nach allem, was wir wissen, keine Krankheit, die vielleicht durch Viren, Pilze, Bakterien oder andere Erreger übertragen werden könnte. Die Antwort darauf ist für Muslime, die der traditionellen Interpretation folgen, besonders schwierig: Sie gehen gemäß ihrer Qur’ân-Interpretationen davon aus, dass es zuvor keine Homosexualität gegeben habe. Wie entstand diese Homosexualität? Über veränderte Erbeigenschaften bei einem Individuum, vielleicht sogar dominante? Es würde selbst dann eine Unzahl Generationen dauern, bis sie sich durchgesetzt hätte, zumal zudem homosexuelle Männer andere Männer als Geschlechtspartner vorziehen, so dass eine Weitergabe dieser Eigenschaft sehr spärlich sein würde. Und woher kamen die Frauen, von denen der Qur’ân spricht? Und wie konnte die Bevölkerung eine Stadt füllen – sie müsste eigentlich allmählich ausgestorben sein? Und Homosexualität müsste zudem mit der Vernichtung dieser Stadt beendet sein.

Über die Lage oder Überreste der Stadt Sodom gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Im Archäologisches Bibel-Lexikon heißt es dazu:

Die Versuche S. [= Sodom] zu lokalisieren, blieben bislang ohne Erfolg. Es wurde am Süd- oder Nordende des Toten Meeres vermutet und sogar auf seinem Boden. Der Name „S.“ hat sich in dem arabischen Gebel Usdum, einem Bergrücken aus Salz nahe dem Südwestufer des Toten Meeres erhalten.

Archäologisches Bibel-Lexikon, Hrsg. Avraham Negev, S. 412

Mit anderen Worten: Wir wissen nichts über die Stadt, und da selbst ihre Lage unbekannt ist, gibt es auch keine Schrift- oder sonstigen Funde, die über das soziale Leben Auskunft geben könnten. Was über sie und ihre Bewohner später erzählt wurde, ist damit nichts als bloße Spekulation. Die älteste Bezugnahme auf Lot und seine Stadt ist im Alten Testament der Bibel zu finden. Im Neuen Testament spricht Jesus nur von der fehlenden Rücksichtnahme auf das Gastrecht dort (Matthäus 10,11–15, Matthäus 11,23–24, Lukas 10,10–12).

Die Vorstellung, dass die Bevölkerung in Lots Stadt homosexuelle Wünsche an Lots Besucher richtete, erwies sich als eine sehr phantasievolle, aber falsche Interpretation eines einzigen Wortes in nur einem Vers im 1. Buch Mose (1 Mose 19, 5, = Gen. xix. 5, siehe Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and Western Christian Tradition, 1955, auf Seite 1-8). Bailey (1910 – 1984) war ein Anglikanischer Theologe mit überzeugenden und klaren linguistischen und kontextuellen Argumenten. Er erwähnt auch, dass alle Bezugnahmen auf Lots Stadt in den anderen Büchern des Alten Testaments nie von einem sexuellen Fehlverhalten der Menschen in Lots Stadt sprechen. In der englisch-sprachigen Wikipedia heißt es u.a. über Bailey:

… Anerkannt als führender Experte der Kirche für Sexualethik, … halfen Baileys Schriften der Church of England, auf die theologische Frage der Homosexualität, auf die Homosexuellen selbst sowie auf die Gesetze Englands zu reagieren. Diese Periode von 1954 bis 1955 im Moral Welfare Council lieferte wichtige konzeptionelle Leitlinien für spätere Diskussionen über Homosexualität, nicht nur in der Church of England, sondern im gesamten Christentum.

Wikipedia

Zu diesem Vers sagt Bailey:

Der Vers, der bisher oft als Hinweis auf homosexuelles Ansinnen verstanden wurde, ist 1 Mose, 5: 5 Sie riefen Lot und sagten: ‚Wo sind die Männer, die heute abend zu dir gekommen sind? Bringe sie zu uns heraus, damit wir sie erkennen!‘

Die herkömmliche Auffassung von der Sünde Sodoms […] rührt von der Tatsache her, dass das Wort, das hier mit ‚erkennen‘ (yâdha‘) übersetzt ist, ‚geschlechtlich verkehren‘ bedeuten kann. Ist das in diesem Passus gemeint?

Das [hebräische] Verb yâdha‘ kommt sehr häufig im Alten Testament vor [in der Fußnote: Nach F. Brown, S. R. Driver und C. A. Briggs, A Hebrew and English Lexikon of the Old Testament (Oxford, 1952), 943 mal], doch mit Ausnahme dieses Textes und seiner unzweifelhaften Ableitung in Richter 19,22 wird es nur zehnmal (ohne Einschränkung) gebraucht, um Geschlechtsverkehr zu bezeichnen [in der Fußnote: 1 Mose 4, 1, 17, 25; 19, 8; 24, 16; 38, 26; Richter 11, 39; 19, 25; 1 Samuel 1, 19; 1 Könige 1, 4.]. In Verbindung mit mishkâbh, das in diesem Zusammenhang den Vorgang des Liegens bezeichnet, kommt yâdha‘ an fünf weiteren Stellen vor [in der Fußnote: 4 Mose 31, 17, 18, 35; Richter 21, 11 […], 12 […] ]. Auf der anderen Seite findet man shâkhabh (von dem mishkâbh herkommt) etwa fünfzigmal in der Bedeutung ‚liegen‘ im geschlechtlichen Sinne. Während yâdha‘ sich immer auf heterosexuellen Geschlechtsverkehr bezieht (wenn man zunächst die kontroversen Stellen 1 Mose 19, 5 und Richter 19, 22 außer Betracht lässt), wird shâkhabh überdies sowohl für homosexuellen Geschlechtsverkehr als auch den mit Tieren verwendet zusätzlich zu dem zwischen Mann und Frau.

So findet man yâdha‘ also nur ausnahmsweise im geschlechtlichen Sinne gebraucht […]. Linguistische Betrachtungen allein unterstützen daher [… die Ansicht], dass es hier nichts weiter als ‘kennenlernen’ bedeuten kann. Warum wurde dann aber eine anscheinend vernünftige Forderung auf so heftige Art und Weise vorgebracht? Was für eine Schlechtigkeit war es, die Lot erwartete und von der er die Sodomiter abbringen wollte? […] Unsere Unkenntnis der lokalen Gegebenheiten und sozialen Verhältnisse lässt uns keine andere Möglichkeit als die Motive zu erraten, die dem Verhalten der Sodomiter zugrunde liegen; da aber yâdha‘ meistens ‘kennenlernen’ bedeutet, kann die Forderung, die Besucher, die Lot bewirtete, ‘zu erkennen’, gut einen ernsthaften Bruch der Regeln des Gastrechts [wörtlich: hospitality = Gastfreundschaft] eingeschlossen haben. […]

Derrick Sherwin Bailey, Homosexuality and the Western Christian Tradition, S. 2

Spricht der Text des Qur’âns für oder gegen den Sodom-Mythos?

In keinem Vers über Lot und sein Volk wird gesagt, dass das sexuelle Interesse der Männer im Volk homosexuell ist oder sich auf Lots Gäste richtet. Jedoch ergänzen die muslimischen Anhänger des Sodom-Mythos beim Lesen einiger Verse des Qur’âns diese entsprechende Vorstellungen ziemlich willkürlich. Im Gegenteil, an allen vier Stellen, in denen Lot sein Volk tadelt, stehen als Einleitung zum Zitat von Lot dieselben Worten: „und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“,

“wa lûTan id qâla li-qaumi-hi” (و لوطا اذ قال لقومه)

„und (gedenke) Lots, als er zu seinem Volk (allen Männern und Frauen) sprach“,

In mehreren Koranversen

Es wird in diesem Vers unübersehbar gesagt, dass Lot zu „seinem Volk“ sprach, den Männern und Frauen unter ihnen. Somit werden beide Gruppen mit denselben Worten Lots getadelt werden. Welchen Sinn macht der Vorwurf, dass die Frauen zu den Männern kommen und nicht zu den Frauen? Sollen sie statt zu den Männern zu den Frauen kommen? Hieraus wird deutlich, dass hier kein sexuelles Verhalten gemeint sein kann. Denn das wichtigste Prinzip bei der Interpretation des Qur’âns ist, dass die Bedeutung aus dem Qur’ân heraus gesucht werden sollte und niemals eine Passage so interpretiert werden sollte, dass sie im Widerspruch zu anderen steht.

Der Einfluss der mawâlî (konvertierte Christen und Juden) auf die Muslime

In der Literatur finden wir einige eindrucksvolle Beschreibungen über deren zahlreichen Aktivitäten in der Frühzeit der muslimischen Geschichte.

„Die Clienten [= mawâlî] verstanden es in der That, die Araber zu überholen, denn sie waren die ersten, welche die gelehrten Studien pflegten und sich hiedurch ein immer zunehmendes Ansehen errangen. Sie aktivirten mit besonderer Vorliebe die theologischen und juridischen Studien und vermittelten den Import fremder Ideen in den Islam. So kam durch jüdische Proselyten die so sehr an den Talmud erinnernde Gewohnheit des Commentirens des heiligen Buches, die Vorliebe für die Tradition und deren Sammlung, der spitzfindige in Kleinigkeiten so gerne sich breit machende und wichtig thuende Ton der Schulmeisterei in die arabische Literatur.“

Alfred von Kremer, Kulturgeschichte des Orients, Band 2, Seite 158 f.

„Seit langem ist bekannt, wie kräftig die Entwicklung hebräischer Philologie unter den Juden im Mittelalter durch das Vorbild arabischer Grammatiker stimuliert wurde, und wie tief die muslimische Theologie und Philosophie das jüdische Denken jener Periode beeinflußte. Dass der Prozeß, der weit davon entfernt war, einseitig zu sein, wechselseitig war, dass der Mohammedanismus vom Judentum wenigstens ebenso viel erhielt wie er ihm gab – und wir sprechen hier nicht vom biblischen Judentum, sondern in erster Linie von seiner rabbinischen Erweiterung jenes unermeßlichen Überbaus von Gesetz und Legende, der auf den hebräischen Schriften beruhte, der in der Literatur des Talmud [religionsgesetzliches Sammelwerk] und Midrasch [erbauliche Auslegungen alttest. Bücher durch jüdische Schriftgelehrte vom 2. bis 6. Jh. n. Chr.] eingeschlossen ist. […] Einiges wenigstens hat eine deutliche christliche Färbung und muß in den Gesichtskreis der Muslime durch die Schriften des Klerus der Syrischen Kirche gekommen sein, der es seinerseits von den Juden übernahm. Es bleibt jedoch genug, das man nur als das Ergebnis persönlichen Kontakts mit Juden erklären kann, von denen es während des neunten und zehnten Jahrhunderts der üblichen Zeitrechnung, dem goldenen Zeitalter der arabischen Kultur, eine breite, fest gegründete und gut informierte arabisch sprechende Gemeinschaft im Zentrum der mohammedanische Zivilisation gab, nämlich im Irak und insbesondere in seiner Hauptstadt, dem Sitz des Kalifats Bagdad, wo man leicht von den maßgeblichen Vertretern und Interpreten des Judentums die erforderlichen Informationen über seine Überlieferungen erhalten konnte. […] Die mohammedanischen Legenden über biblische Gestalten können daher nicht als das Resultat eines unabhängigen Studiums des Alten Testaments seitens der Muslime entstanden sein, sondern sie müssen körperlich von rabbinischer Überlieferung übernommen worden sein. Dass die Autorität der Juden im Hinblick auf diese Überlieferungen den Muslimen uneingeschränkt akzeptabel war, wird ausdrücklich in fast allen Werken mohammedanischen Hadîths festgestellt, und dass jüdische Gelehrte zu diesem Zweck konsultiert wurden, wird durch Tabari und andere bezeugt. […].“

Samuel Rosenblatt, Rabbinic Legends in Hadîth, The Moslem World 35 (1945), Seite 237-252, auf Seite 251-252

[…] Von Anfang an waren Juden, die in den Schriften bewandert waren (‚Habr‘ [Pl. ‚aHbâr‘] = hebräisch ‚Haber‘), von großer Bedeutung, für solche Details zu sorgen; […].

Diese aHbâr nehmen eine wichtige Position auch als Quelle für Informationen in Bezug auf den Islam ein. Es soll hier genügen, auf die vielen Lehren in den ersten beiden Jahrhunderten hinzuweisen, die unter den Namen ka’b al-aHbâr (st. 654) und WAHB IBN MUNABBIH (st. circa 731) aufgezeichnet sind. An erster Stelle verdankt der Islam diesen Quellen seine Ausarbeitung biblischer Legenden; viele dieser Ausarbeitungen sind in den kanonischen Hadîth-Werken enthalten. […]

Der Islam entlieh im Laufe seiner Entwicklung auch eine große Zahl gesetzlicher Vorschriften aus der jüdischen Halacha [religionsgesetzliche Vorschriften für Lebenswandel, Kultus und Ritus]. Die Bedeutung, die der ’niyya‘ (= ‚intentio‘) beigelegt wird bei der Ausübung der gesetzlichen Vorschriften, ruft auf den ersten Blick die Erinnerung an die rabbinische Lehre über ‚kawwanah‘ wach, auch wenn nicht alle Einzelheiten übereinstimmen. Die mohammedanischen Vorschriften, die das Schlachten betreffen, jene, die sich auf die persönlichen Qualifikationen des ‚Sohet‘ (arabisch: ‚DâbiH‘) beziehen, ebenso wie jene in Bezug auf die Einzelheiten des Schlachtens, zeigen klar den Einfluß der jüdischen Halacha, wie ein Blick in Gesetzbücher selbst beweist […]

The Jewish Encyclopedia, Band VI, Seite 656, unter dem Stichwort ‚Islam‘

[…] Die isrâ’îliyyât, d.h. Traditionen, in denen jüdischer Einfluß erkennbar ist. Der allgemeine orthodoxe Standpunkt ist, so lange wie die isnâde als gesund erklärt werden, dass Muhammad diese Äußerungen getan haben muss. Stets wird an diesem Punkt die Toleranz des Islams gegenüber den anderen monotheistischen Religionen betont. Andererseits haben Gelehrte, die den Hadîth einer erneuten Kritik unterziehen wollen, darauf hingewiesen, dass die zwei wichtigsten Übermittler von isrâ’îliyyât, ka’b al-aHbâr und wahb b. munabbih, auf subversive Weise versuchten, den Islam zu unterminieren, indem sie jüdische Elemente in seine Glaubensanschauungen einführten.“

G.H.A. Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature, Discussions in Modern Egypt, Seite 14

[…]

Die Verse über Lot und sein Volk ohne Berücksichtigung des Sodom-Mythos

Der Sodom-Mythos ist nichts weiter als eine Art Fabel, phantasievolle Erfindung, auf die sich die Generation der mawâlî als ehemalige Christen und Juden stützte. Diese Worte sind eine zu schwache Basis als Argument in einer Interpretation. So können wir uns nur an die Worte des Qur’âns halten. Die mawâlî, frühere Christen und Juden, die viele Jahrhunderte nach Lot lebten, bildeten sehr schnell die Mehrheit unter den frühen Muslimen. Sie wussten von den Zuständen in Lots Stadt genau so wenig, wie wir heute, da alle historischen Belege darüber fehlen.

Ein weiterer Hinweis, dass die Geschichte von Lot und seinem Volk nicht von Homosexualität handelt, sind die Worte im Qur’ân:

Und (gedenke) Lots, da er zu seinem Volk [qaum] (, den Männern und Frauen), sprach: Wollt ihr etwas Abstoßendes [al-fâHischa] begehen, worin keiner in aller Welt euch vorangegangen ist. Ihr kommt zu den Männern und zerschneidet den Weg? Und in euren Versammlungen begeht ihr Verwerfliches [al-munkar]?

Koran 29:28

Generell nimmt man die Lebenszeit Abrahams – und damit Lots – zwischen 2000 v. Chr. und dem 14./15. Jahrhundert vor Chr. an. Wir haben historische Beweise, Texte, über Menschen vor Lot, die homosexuelle Beziehungen miteinander hatten (Encyclopedia of Homosexuality, Stichwort “Egypt, Ancient”). Auch diese Offenbarung Allahs spricht vor dem Hintergrund der historischen Belege gegen eine sexuelle Deutung.

Worum geht es im Tadel von Lot seinem Volk gegenüber?

Das Abstoßende, das Lot bei dem Verhalten der Männer und Frauen rügt, ist ein historisches Faktum, das es bei anderen Menschen vor Lots Volk noch nicht gab. Es ist ein historisch erstmaliges, sozial einzustufendes Phänomen, das nichts mit sexuellem Verhalten zu tun hat, sondern mit der Rechtlosigkeit und der untergeordneten Rolle der Frauen, die von allen Männern und Frauen als gegeben akzeptiert wird, so dass von beiden Gruppen nur Männer bei wichtigen Angelegenheiten (schahwa) konsultiert werden.

So bot Lot seine Töchter dem Volk an als Garanten für das Wohlverhalten seiner Gäste. Aber das Volk (die Männer und Frauen) wies sie zurück mit den Worten, dass es keinen Haqq (حق = Recht, Anspruch) auf sie hätte (11:79), sie sagen nicht: Kein sexuelles Begehren/Verlangen. Das bedeutet, dass es hier um eine Frage von rechtlicher Bedeutung geht, nicht um sexuelle Wünsche. Lot zeigte durch sein Angebot, dass Frauen den Männern gleichwertig sind, sogar in dieser speziellen Situation.

Auszug (S. 1-27) aus der Kurzversion zu Islam und Homosexualität gemäß dem Qur’ân und den authentischen Hadîthen (الاحاديث الصحيحة)

Foto von Katajun Amirpur

Wie der Islam neu gedacht werden kann

Foto von Katajun Amirpur

Katajun Amirpur. (Bild: Georg Lukas)

Die vielfältig interpretierte Religion des «Islam» ist in den Medien ein politisches Dauerthema. Das 2013 erschienene Buch Den Islam neu denken von Katajun Amirpur, die als erste Professorin für Islamische Theologie an der Universität Hamburg tätig war und nun in Köln arbeitet, versucht der ganzen Debatte zu mehr theologischer Tiefe aus der «Reformsicht» zu verhelfen und zeigt auf, dass die Politisierung des Koran von vielen Intellektuellen mit «neuen Ansätzen einer muslimischen Theologie» ersetzt worden sind.

Dies erreicht Amirpur, indem sie sunnitische wie auch schiitische zeitgenössische Reformdenker spannend porträtiert und ihre wichtigsten theologischen Positionen pointiert zusammenfasst. Für Nichtmuslime wird wahrscheinlich erst nach der Lektüre des Buches gänzlich verständlich, was der Untertitel des Buches meint, wenn vom «Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte» die Rede ist. Die Reformdenker meinen mit dem «Dschihad» das Bemühen, sich auf den aktiven Weg zu Gott zu machen und dass Demokratie, Freiheit und Frauenrechte islamisch motivierte Voraussetzungen dafür sein können.

Und Gott weiss es besser

Die Autorin zeigt gleich zu Beginn auf, dass es das Anliegen der modernen Reformtheorien ist, nicht nur eine einzige Lesart als gültig zu erklären. Dies lässt sich nicht besser darstellen als am islamischen Ausspruch «allāhu ʾaʿlam», Arabisch für «Gott weiss es besser». Denn «letztlich weiss doch nur Gott» ganz genau, was mit seinen Worten gemeint ist. Menschen versuchen lediglich aus verschiedenen Blickwinkeln der Bedeutung näher zu kommen.

Amirpur beginnt damit, dass ihrer Meinung nach der Reformislam seinen Ursprung bei al-Afghani und Raschid Rida hat, die glaubten, «der ‹reine› und ‹unverfälschte› Islam» habe «alle Antworten auf die Fragen der Moderne». Diese Haltung wurde später von Salafisten wieder aufgegriffen und politisiert.

Das Buch schwächelt zu Beginn leicht, wenn eine Persönlichkeit wie ʿAbd ar-Rāziq, der ebenso wie Rida ein Schüler Muhammad Abduhs war, als geistiger Vater des islamischen Säkularismus betrachtet werden kann und das Kalifat als schädlich ansah, im Kapitel Säkularismus und Islamismus zu kurz erwähnt wird. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass Ridas Ideen politisch breitere Wirkung entfalteten, insbesondere beim Gründer der Muslimbrüder Hasan al-Bannā.

Sechs menschliche Blickwinkel

Nachdem wichtige Begriffe wie «Reformislam» oder «islamischer Feminismus» erläutert werden, durchleuchtet Amirpur sechs Persönlichkeiten näher. Sie beginnt mit Nasr Hamid Abu Zaid, der von einer «dialektischen Beziehung zwischen dem Korantext und seinen Adressaten» ausgeht. Des Öfteren wird der historische Kontext betont, den es zu berücksichtigen gelte. Dieser erhält beim anschliessenden Portrait von Fazlur Rahman am meisten Gewicht. Hier entsteht der Eindruck, dass die Autorin besonders um eine möglichst deskriptive Vorgehensweise bemüht ist und selten bis gar nicht eigene Gedanken einfliessen lässt.

Auch scheint der Ansatz des historisch-kritischen Kontexts unkritisch wiedergegeben zu werden. Denn dieser ist mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, die meistens qualitativ schwach sind, schwer zu rekonstruieren. Deshalb bleibt die Frage offen, wie denn dieser Kontext ermittelt werden soll, wenn man sich beispielsweise auf den Gelehrten al-Wāhidī (st. 1075) beruft und höchstens zehn Prozent des Korans mit Offenbarungsanlässen (asbāb an-nuzūl), die uns den vermutlichen historischen Grund für die Verkündung eines Koranverses erklären sollen, beschrieben werden können. Solcherart Fragen bleiben glücklicherweise nur vereinzelt offen am Ende des Buches.

Zwei kluge Frauen werden näher betrachtet, Amina Wadud und Asma Barlas, die beide mit ihren theologischen Arbeiten teilweise neue Lesarten entwickelten. Zum Beispiel gelangt Asma Barlas mit ihrem «Foundationalism» zur Ansicht, dass Geschlechtergerechtigkeit im Koran verwurzelt ist. Besonders dieser Teil des Buches ist spannend, werden hier doch konkrete, theologische Ansätze für eine feminin motivierte Befreiungstheologie geliefert, wodurch Musliminnen aus patriarchalischen Strukturen vor allem koranisch begründet ausbrechen können.

Buchdeckel Den Islam neu DenkenEine Gemeinsamkeit aller sunnitischen Denkerinnen und Denker ist die kritische Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Überlieferungen, den «Hadithen», die nachträglich dem Propheten als Aussprüche zugeschrieben wurden. Hier ist man sich einig, dass man vor allem zuerst koranisch argumentieren müsse. Besonders Asma Barlas formuliert dies deutlich, da es «mehr Probleme für Frauen schafft, als dass es welche löst, wenn man die Sunna und die Hadithe heranzieht, um den Koran zu interpretieren.»

Ein Buch für Muslime wie Nichtmuslime

Nicht-arabische Menschen haben es in dieser Diskussion nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Auch Abu Zaid ist sich dessen bewusst, betont aber, dass neue Ansätze gerade von Nicht-Arabern kämen. Amirpur zitiert ihn wie folgt: «Das Neue kommt von der Peripherie». Insofern sind die schiitisch-iranisch geprägten Fragestellungen, mit denen sich Abdolkarim Soroush und Mohammad Mojtahed Shabestari beschäftigten, auch allgemein bedeutsam für die muslimische Theologie. Dabei wirkt es zunächst überraschend, dass protestantische deutsche Denker wie Karl Barth oder Paul Tillich den Schiiten Shabestari in seiner Lehre, die für einen spirituellen und gegen einen «Rechtsislam» steht, beeinflussten.

Es ist Amirpur als grosses Verdienst anzurechnen, dass man durch ihr Buch die prägnant zusammengefassten Ansichten von weit mehr als sechs Denkerinnen und Denkern kennenlernen kann. Die darin vorgestellten Ideen verbreiten sich immer weiter in der islamischen Welt, weshalb es wichtig ist, diese Entwicklungen zu kennen und zu verfolgen. Denn wenn auch die Verbreitung voranzuschreiten scheint, so müssen die muslimischen wie nicht-muslimischen Gebildeten hierzulande wissen, wer unter ihnen besonders auf unsere Solidarität und Unterstützung angewiesen ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf saiten.ch.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 4 – Buch und Weisheit: Eine Einheit

3:81 Und als Gott den Bund der Propheten annahm für das, was ich euch an Schrift und Weisheit brachte, kam darauf zu euch ein Gesandter, das bestätigend, was mit euch ist. So glaubt an ihn und helft ihm. Er sagte: Habt ihr zugestimmt und diesbezüglich meine Bürde angenommen? Sie sagten: Wir haben zugestimmt. Er sagte: So bezeugt und ich bin mit euch unter den Bezeugenden

 

Es ist leider so, dass ein erheblicher Großteil der Sunniten und Schiiten glaubt, dass einerseits mit „Schrift“ das Buch, also die Lesung selbst gemeint sei, andererseits die Weisheit etwas anderes sei, was wir erst durch die Aussprüche in den Ḥadīṯ-Büchern erfahren könnten. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn hier begründet sich die theologische Argumentation vieler klassisch-orthodoxer Sunniten oder Schiiten und ihren Anhängern, die damit der Tradition Gewicht verleihen möchten. Diese Tradition beinhaltet unter anderem auch die Steinigung, die Apostasie-Strafe für Abfällige von der Religion, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frau und viele weitere Abscheulichkeiten. Deshalb müssen wir diesem Missbrauch der Verse aus der Lesung Einhalt gebieten.

Dass diese Idee, die Weisheit sei in der traditionellen Sunna, auf einem Fehlverständnis der Lesung beruht, werde ich im Anschluss gleich zeigen. Leider hat dies alles damit angefangen, dass ein mittelalterlicher Gelehrter, nämlich Asch-Schāfiʿī meinte, er müsse die auf Vermutungen, Lügen und Hörensagen begründeten Überlieferungen zu einer Offenbarung (waḥiy) erheben, um so der angeblich prophetischen Sunna Legitimität zuschreiben zu können. Diese Leute des Hadīṯ (ahlu-l-ḥadīṯ) waren dermaßen überzeugt von ihrer eigenen Ansicht und sehr aggressiv, dass sie diese Überlieferungen, welche dem Propheten angedichtet wurden, faktisch höher ansahen als die Lesung selbst. Zumindest wurde die Lesung nicht als kategorisch epistemologisch erhabener als ihrer Meinung nach zuverlässige Aussprüche angesehen. Es wird von ihnen auch folgender Spruch überliefert:

 

جاءت السنة قاضية على الكتاب وليس الكتاب قاضياً على السنة

dschā’at as-sunnatu qāḍiyatan ʿalá al-kitābi wa laysa al-kitābu qādiyan ʿalá as-sunnah

Die Sunna kam als Richtende über das Buch (die Lesung) und nicht das Buch als Richtender über die Sunna.118

 

Natürlich werden die heutigen Gelehrten diesen Satz relativieren und sagen, dass damit gemeint sei, die angeblich prophetische Sunna sei dazu da, um eine Erklärung für die in der Lesung „nicht erklärten“ Verse anzubieten. Den ersten Fehler, den sie hierbei begehen: Sie nehmen an, das Buch Gottes hätte nicht bereits die Erklärung in sich für diese Verse (siehe 25:33). Den zweiten Fehler, den sie begehen: Die meisten Aussprüche, selbst wenn sie in der Überliefererkette (Isnad) und im Inhalt oder Text (Matn) beide als authentisch (ṣaḥīḥ) gelten, sind und bleiben immer eine Vermutung und Gottes Lebensordnung kann nicht auf Vermutungen begründet werden. Die Lesung wird nicht durch Vermutungen begründet, sondern durch sich selbst, indem wir Verse im Lichte anderer Verse betrachten.

Die Wurzel ḥā-kāf-mīm (ح ك م), von welcher das arabische Wort für Weisheit abgeleitet ist, beherbergt als Grundbedeutung die Idee der „Weisheit“. Sie kommt in der Lesung in 189 Versen insgesamt 210 Mal vor.119 Aus diesem Grunde werden für Wörter wie „Richter“ oder „Urteil“ Ableitungen dieser Wurzel verwendet, da beispielsweise eine ausgebildete Richterin ohne die eigenen Gefühle ins Zentrum zu stellen bedacht, vernünftig und gerecht Urteile fällen muss. In anderen Worten muss sie weise handeln. Die in der Lesung verwendeten Wortformen sind:

  • 45 Mal als ersten Verbstamm ḥakama (حَكَمَ): urteilen/richten
  • 30 Mal als das Verbalnomen des ersten Verbstammes ḥukm (حُكْم): Urteil
  • Fünfmal als aktives Partizip des ersten Verbstammes ḥākimīn (حَٰكِمِين): Urteilende/Richtende
  • Zweimal als zweiten Verbstamm yuḥakkimu (يُحَكِّمُ): Jemanden zum Richter ernennen
  • Einmal als das aktive Partizip des dritten Verbstammes ḥukkām (حُكَّام): (strafrechtlich) Verfolgender / die rechtlich Zuständigen / Richter
  • Zweimal als vierten Verbstamm uḥkimat (أُحْكِمَتْ): stärken, etwas klar machen
  • Zweimal als passives Partizip des vierten Verbstammes muḥkamāt (مُّحْكَمَٰت) und muḥkamah (مُّحْكَمَة): klar gemacht
  • Einmal als sechsten Verbstamm yataḥākamu (يتََحَاكَمُ): sich gegenseitig vor den Richter bringen, Urteil verlangen
  • Zweimal als die Steigerungsform oder als Elativ aḥkam (أَحْكَم): weiser als / weisest. In der Lesung nominal verwendet als „der Weiseste“ (95:8)
  • Dreimal als das Nomen ḥakam (حَكَم): Schiedsrichter/Vermittler
  • 20 Mal als das Nomen ḥikma (حِكْمَة): Weisheit
  • 97 Mal als das Adjektiv bzw. das Nominal ḥakīm (حَكِيم): weise / der Weise

Wir werden in den nächsten Abschnitten sehen, dass in Tat und Wahrheit die Weisheit und das Buch eine Einheit bilden, die Weisheit also der Lesung innewohnt.

Es gibt viele Arten, wie diese Wurzel in der Lesung verwendet wird. Eins ist aber immer klar: Die Weisheit ist stets Gott und Seiner Offenbarung zu verdanken und die einzige Quelle der Weisheit ist Gott mit Seinem Wort und Wirken.

Wenn wir uns mit der Frage befassen, wie der Prophet urteilte und warum man in der Gottergebenheit nur mit der Offenbarung urteilen darf, so lesen wir:

 

5:48 Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So urteile (uḥkum) zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist.

 

Hier ist es eindeutig, dass nur nach der Offenbarung zu urteilen erlaubt ist, dass es demnach nur eine Sunna geben kann, nämlich Gottes Sunna. Der Prophet urteilte also nach der Lesung (vgl. auch 7:203) und zwar nur nach dieser. Daraus können wir schließen, dass auch alle vorherigen abrahamitischen Religionen nach ihren jeweiligen Büchern zu urteilen hatten, denn laut der Lesung ist die Gottergebenheit keine neue Religion, sondern die Bestätigung der vorangegangenen Bücher. Bereits Abraham nannte sich und seine Mitgläubigen Gottergebene (22:78).

 

3:79–80 Nicht gebührt es einem Menschen, dass Gott ihm die Schrift, die Weisung (al-ḥukm) und die Prophetie zukommen lässt, und der danach zu den Leuten sagt: Seid mir Diener anstelle Gottes. Sondern: Seid ein Vorbild dabei, wie ihr die Schrift zu lehren und wie ihr zu studieren pflegtet. Und nicht befiehlt er euch, dass ihr die Engel und die Propheten als Herren nehmt. Befiehlt er euch etwa das Ableugnen, nachdem ihr Ergebene seid

 

Wir erinnern uns daran, dass ein „und“ in der Lesung nicht zwangsläufig bedeutet, dass hierbei unterschiedliche Einheiten in einer Aufzählung gemeint wären. Vielmehr sehen wir in diesem Vers auf deutliche Art und Weise, dass sie miteinander eng verbunden sind. Die Prophetie besteht darin, das Buch Gottes als Offenbarung zu erhalten und die darin innewohnende Weisheit den Menschen zu verkünden.

Die Verse 3:79–80 sind auch eine eindeutige Ansage, sich die Propheten nicht zu Herren zu nehmen und sich ganz auf Gott und Sein Wort zu konzentrieren – geradeaus direkt mit Gott die Verbindung aufzubauen, ohne Nebenwege einzuschlagen in religiösen Belangen! Sollten andere ins Zentrum gestellt werden, wo Gott doch die Quelle allen Heils ist? Würde Gott uns die Beigesellung und Ableugnung anordnen? Die einzige Autorität ist und bleibt Gott:

 

42:10 Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil (al-ḥukm) darüber steht Gott zu. Dies ist doch Gott, mein Herr. Auf Ihn verlasse ich mich, und Ihm wende ich mich reuig zu.

 

Auch hier sehen wir wie eben dargelegt, dass das Urteil bei Uneinigkeiten in religiösen Dingen Gott allein obliegt, dass sich der Prophet nur auf Gott verlässt und sich Ihm in Reue zuwendet – sich also ganz auf Ihn einstellt. Ist nicht dies der Monotheismus in seiner schönsten Weise, von unseren Propheten vorgelebt? So folgen wir seinem prophetischen Beispiel und verlassen uns allein auf Gott.

 

4:105 Gewiss, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest (litaḥkuma) auf Grund dessen, was Gott dir gezeigt hat. Sei kein Verfechter für die Verräter!

 

Gott gibt also dem Propheten das Buch, damit er zwischen den Menschen richte. Der Satzteil „was Gott dir gezeigt hat“ bezieht sich auf die in der Lesung vorhandenen moralischen, ethischen wie auch sozialen Prinzipien, die gemäß der Wahrheit offenbart wurden. Dies wird in der Betonung der Wahrheit im Vers sichtbar, die dem Buch innewohnt. Hier wird nochmals die Einheit Gottes ersichtlich, nämlich dass Gott in religiösen Angelegenheiten die einzige Autorität (6:114) und unser einziger Lehrer ist (55:1–2).

Die Lesung liegt uns heute vollständig vor und Gott hat uns dort  alle Urteile, die religiöse Belange betreffen, zu seiner Vollkommenheit mitgeteilt. Gott will im vorangegangenen Vers 4:105 dem Propheten nahelegen, nicht seinen Neigungen gemäß zu handeln. Denn das Buch und ihre Urteile sind eine Sache, die Durchführung und die damit verbundene Konsequenz eine andere. Der Prophet war nämlich nur ein Mensch (18:110) mit allen damit verbundenen Stärken und Schwächen. Denn der Vers 4:105 betont diese Haltung im letzten Satz: „Sei kein Verfechter für die Verräter!“

Und als nächstes muss man sich fragen, wie soll sich eine menschliche Sunna mit den oben behandelten Versen verstehen lassen, die nur der Offenbarung Platz einräumen? Und wieso wird in der Lesung nur Gottes Sunna erwähnt? Darüber hinaus muss die Quelle für die Religion rein und ohne Makel sein und wir finden in der Lesung selbst gleich mehrere Beispiele, die die Sünden des Propheten behandeln (47:19, 48:2). Die Offenbarung selbst wird hingegen als rein bezeichnet:

 

98:2 Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorliest

 

Wir sehen, eine Offenbarung muss ohne Makel sein und die traditionell gelehrte Sunna ist es nicht. Die traditionelle Sunna ist menschlichen Ursprungs, da bisher niemand behauptet hat, Buchārī oder Konsorten seien ebenso Gesandte Gottes, die in Seinem Namen gehandelt hätten. Allein diese Umstände verunmöglichen es, der traditionellen Sunna irgendeine religiöse Autorität zu verleihen.

Wir fassen das Bisherige zusammen:

  • Gott lehrte den Propheten die Lesung (55:2) und nur die Lesung.
  • Der Prophet wie auch alle Gläubigen dürfen nur dem Herabgesandten, also der Lesung folgen (7:3, 7:203).
  • Der Prophet selbst ist keine weitere Quelle, kein weiterer Herr, wie es 3:80 und 6:19 und auch weitere Verse klar machen.
  • Gott allein steht das Urteil zu (6:114, 5:44 usw.).

Es ist also sehr deutlich, dass der Prophet nur nach dem offenbarten Buch urteilte und keine andere Quelle benutzen durfte und dass nur Gott urteilen darf in religiösen Angelegenheiten. Der Vers 6:114 wird tiefgreifend mit dem Monotheismus verknüpft, denn der Vers sieht nur einen Schiedsrichter vor – Gott allein. Seine Gesetze sind im Buch, die ohne Sekundärquellen auskommen. Die Lesung wurde hier als „ausführlich dargelegt“ beschrieben, somit erübrigt sich die Frage, ob die Lesung Einzelheiten ausgelassen habe, die durch die traditionelle Sunna ergänzt werden müssten. Durch die rhetorische Frage des Verses wird jegliche Quelle außer Gott für überflüssig und auch ungültig erklärt.

 

6:114 Soll ich denn einen anderen Schiedsrichter (ḥakam) als Gott begehren, wo Er es doch ist, der das Buch, ausführlich dargelegt, zu euch herabgesandt hat?

 

Außerdem sagt Gott von der Lesung:

 

11:1 Alif-Lam-Ra. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Weisen und Kundigen.

41:3 Ein Buch, dessen Zeichen ausführlich dargelegt sind, als eine arabische Lesung, für Leute, die Bescheid wissen

 

Es lässt sich aber die Frage stellen, ob Gott denn Seine Befehlsgewalt weiter delegiert und sie in dem Sinne dann indirekt wirken lässt? Gibt es also noch andere Verse, die die Einheit und alleinige Autorität Gottes untermauern und somit die vorige Frage verneinen? Es folgen Verse, die besonders die alleinige Autorität Gottes hervorheben, indem gerade betont wird, dass Er seine Befehlsgewalt nicht aufteilt:

 

18:26 Sag: Gott weiß am besten, wie (lange) sie verweilten. Sein ist das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie vorzüglich ist Er als Allsehender, und wie vorzüglich ist Er als Allhörender! Sie haben außer Ihm keinen Schutzherrn, und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden.120

11:12 Vielleicht möchtest du einen Teil von dem, was dir offenbart wird, verlassen und deine Brust ist dadurch beklommen. Dies, weil sie sagen: „Wäre doch ein Schatz auf ihn herabgesandt worden oder ein Engel mit ihm gekommen!“ Du bist aber nur ein Warner. Und Gott ist Sachwalter über alles.

12:40 Anstelle seiner dient ihr nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet. Dafür ließ Gott keine Ermächtigung herabsenden. Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Er befahl, dass ihr keinem außer ihm dient. Dies ist die wertvolle Lebensordnung, doch die meisten Menschen wissen nicht

6:57 Sag: Ich halte mich an einen klaren Beweis von meinem Herrn, während ihr Ihn der Lüge bezichtigt. Ich verfüge nicht über das, was ihr zu beschleunigen wünscht. Das Urteil gehört allein Gott. Er berichtet die Wahrheit, und Er ist der Beste derer, die entscheiden.121

 

Die vier oben genannten Verse machen mit Aussagen wie „Das Urteil (al-ḥukm) ist allein Gottes“, „Und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden“ oder „Und Gott ist Sachwalter über alles“ klar, dass weitere Quellen neben Gottes Worten keine Autorität haben können. Sie unterstreichen die alleinige Autorität Gottes und zeigen auf, dass es nur die Sunna Gottes gibt. Wenn wir uns die Frage stellen, welche Befugnisse der Gesandte durch Gottes Worte, also durch die Lesung erhält, so finden wir unter anderem folgende Verse dazu:

  • Dem Gesandten obliegt nur die Verkündigung. (5:92, 64:12)
  • Der Gesandte ist nur ein Warner. (88:21, 79:45, 13:7, 11:12)
  • Der Gesandte hat die Botschaft klar zu übermitteln. (16:44)

Es gibt noch viele weitere Verse, die die alleinige Autorität Gottes hervorheben, ich will hier nur mit drei Versen diese Angelegenheit ein letztes Mal verdeutlichen:

 

12:67 … Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Auf Ihn vertraue ich und auf Ihn sollen sich die Vertrauensvollen verlassen.

25:2 Er, Dem das Königreich der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind nahm und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hatte und alles erschuf und ihm sein Maß wohlbemessen gegeben hat.

28:70 Und Er ist Gott. Es gibt keine Gottheit außer Ihm. Ihm gehört das Lob im Ersten und im Letzten. Ihm gehört das Urteil, und zu Ihm werdet ihr zurückgebracht.

 

Nach diesen und anderen Versen ist es schwer eine Gewaltenteilung vorzunehmen, dass auf der einen Seite die Lesung stünde und auf der anderen Seite die menschliche Sunna (entgegen der göttlichen Sunna). Gott, „der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat“, und von sich aus sagt, dass das Urteil (ḥukm) allein Seines ist und Ihm das Richten gehört, reicht den Gläubigen aus.

 

12:80 Als sie es bei ihm aufgegeben haben, gingen sie gerettet davon. Der Älteste von ihnen sagte: Wisst ihr nicht, dass euer Vater von euch, auch bevor ihr euch von Josef entledigt habt ein verbindliches Versprechen vor Gott entgegengenommen hat. Ich werde das Land nicht verlassen, bis mein Vater es mir erlaubt oder Gott richtet (yaḥkum Allāh), und er ist der beste der Richtenden (al-ḥākimīn).

95:8 Ist Gott nicht der Weiseste der Richtenden (bi-aḥkami al-ḥākimīn)?

5:50 Erstreben sie etwa das Urteil (al-ḥukm) der Ignoranz? Wer ist ein besserer Richter (ḥukm) als Gott für ein Volk, das überzeugt ist?

 

Wir sehen also überaus deutlich, dass die Weisheit und die daraus abgeleiteten Urteilssprüche Gott allein gehören. Es gibt auch klare Aussagen in der Lesung, dass die Lesung selbst die Weisheit darstellt. Wie etwa in Kapitel 17, in welchem beginnend ab Vers 22 ethische Prinzipien und Gesetze erklärt werden, welche ein Gläubiger umzusetzen hat. Dies geht weiter bis Vers 38 und im darauffolgenden Vers lesen wir:

 

17:39 Diese sind von dem, was dein Herr dir von der Weisheit offenbarte. Und setze zu Gott keine andere Gottheit, sonst wirst du in die Hölle geworfen, verschmäht und verstoßen sein

 

Die vorhergehenden Verse werden also direkt als Teil der Weisheit des Herrn beschrieben. Insofern sehen wir in diesem Beispiel, dass die Verse ein Teil der Weisheit Gottes sind. Im nächsten Schritt werde ich aufzeigen, dass diese laut der Lesung eine Einheit sein müssen. Das Prinzip der Einheit von Buch und Weisheit wird also auch von der anderen Richtung her aufgezeigt.

 

2:231 … So nehmt euch Gottes Zeichen nicht zum Spott und gedenkt Gottes Gunst an euch und dessen, was Er aus der Schrift und der Weisheit (al-ḥikmah) auf euch herabsandte, euch damit zu belehren. Und seid Gottes achtsam und wisst, dass Gott in allen Dingen wissend ist.

 

Auf Arabisch heißt es:

 

ولا تتخذوا ءايت الله هزوا واذكروا نعمت الله عليكم وما أنزل عليكم من الكتب والحكمة يعظكم به واتقوا الله واعلموا أن الله بكل شىء عليم

Transliteration:
wa lā tattachiḏū ʾāyāti-llāhi huzuwān waḏkurū niʿmāta-llāhi ʿalaykum wa mā ʾanzala ʿalaykum min al-kitābi wal-ḥikmati yaʿiẓukum bihi wa-ttaqū-llāha wa ʾaʿlamū ʾanna-llāha bikulli schayʾin ʿalīmun

 

Das große fette Wort im Arabischen wird in der Übersetzung als „damit“ wiedergeben und transliteriert „bihi“ ausgesprochen. Wären nun die Schrift und die Weisheit zwei verschiedene Dinge, müsste für den Bezug auf diese beiden verschiedenen Dinge die Dualform benutzt werden, nämlich bihimā (بهما) oder zumindest der Plural bihim (بهم). Der im Vers verwendete Bezug ist aber singular! Somit sind die Schrift und die Weisheit eine Sache, oder anders gesagt: Die Weisheit wird als der Schrift innewohnend angenommen.

Alles in allem kann bekräftigt werden, dass die traditionelle Aufteilung in Buch als die Lesung und Weisheit als die angebliche prophetische Sunna auf einem missglückten, geradezu peinlichem Fehlverständnis des Begriffs „Weisheit“ und der Wurzel selbst beruht, wobei ich hier etliche Verse zitierte, die Gott allein Autorität zusprechen und die Gott allein als Quelle der Weisheit klarstellen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Traditionelle Barrikaden, die es zu überwinden gilt

In diesem Kapitel will ich mich relativ kurz der Tatsache widmen, dass die Tradition noch weitere Barrikaden mit sich bringt, auf die wir Acht geben müssen.

 

Autorität der Gelehrten oder: Der Kaiser ist nackt

In der arabischen Literatur wie auch in der traditionellen Unterrichtsart im Religionsunterricht ist die Idee der Autorität nahezu omnipräsent. Die meisten der Gottergebenen wuchsen als Kinder auf im volkstümlichen Irrglauben, dass nur jemand, der „50 Jahre seines Lebens mit dem Studium des Islām verbracht habe“, autorisiert sei über die Religion Auskunft zu erteilen. Uns wurden hierzu spezielle Begrifflichkeiten beigebracht, die wir in den Moscheen hörten, wie zum Beispiel, dass man nur mit einer Lizenz oder Erlaubnis (idschāzah – إجازة) rechtsgültig über die Religion reden könne. Nur wenn man zu den sogenannten Wissenden (ʿulamāʾ) mit dieser ominösen Lizenz gehörte, konnte man ernst genommen werden. Oft wird dabei der Vergleich mit dem Medizinstudium herangezogen, dass Ärzte ja auch nicht ohne Lizenz arbeiten dürfen. ABER, und das ist ein extrem großes aber, das nicht ins Konzept der Traditionsbewahrung passt: Ärzte sind rechtlich anklagbar, religiöse Muftis jedoch nicht. Sie können leider nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie Unsinn verbreitet haben. Uns wäre bestimmt vieles erspart gewesen, hätte man sie anzeigen können.

Man musste im Endeffekt irgendeiner Autorität folgen und war „frei“ für sich eine der folgenden Rechtsschulen auszuwählen, die man als „Autorität“ akzeptieren sollte, sofern man denn Sunnit ist: die ḥanafītische, mālikītische, ḥanbalītische oder schāfiʿītische Rechtsschule. Diese Rechtsschulen und ihre ausgebildeten Gelehrten waren zu lange Autoritäten über uns, obwohl die Lesung unzählige Male davon spricht, dass es nur eine Autorität geben kann, nämlich den Schöpfer selbst. Dass ich hierbei die sunnitische Art und Weise der Autoritätserrichtung anführe, heißt nicht, dass die schiitische gutzuheißen wäre. Dort gelten dieselben Regeln und in dieser Sache unterscheiden sich die Schiiten und Sunniten nicht.

Zu Beginn war die Absicht natürlich nicht böser Natur, das Ziel war das Verhindern von Rechtsauskünften (fatāwá, plural von fatwá) der ignoranten (dschāhil) Menschen. Mit der Zeit hat es aber das blinde Akzeptieren eines Gelehrten, Scheichs, Mufti (derjenige, der Rechtsauskünfte erteilt)91, „Mawlánā“, Imām oder Hodscha gefördert. Ebenso stieg damit auch der religiöse Analphabetismus, was das grundsätzliche Problem unserer Zeit darstellt, nämlich dass ein Großteil der „Gottergebenen“ nicht zu unterscheiden weiß zwischen dem, was in der Lesung steht und dem, was außerhalb der Lesung ist. Dies begründet auch die oft verdutzte Reaktion vieler Menschen, wenn man ihnen in einer Angelegenheit sagt, dass sie nicht in der Lesung zu finden ist. Hierzu ein Kommentar des pensionierten Arabisten und Orientalisten Wim Raven:

 

Es ist manchmal unerwartet schwierig, muslimischen Studenten den Unterschied beizubringen zwischen dem, was im Koran steht und dem, was Korankommentare dazu sagen. Oft ist es nur ein Kommentar, den sie zu Hause im Schrank haben oder den der Imam zitiert hatte; nicht selten ist es das Werk des dummen Ibn Kathīr (± 1300 – 73) — als hätten vierzehn Jahrhunderte Islam nichts besseres gebracht!

Obwohl es doch so einfach ist und eigentlich gar nichts mit Glauben zu tun hat. Eine Aussage steht entweder in Buch A (das grüne Buch hier rechts, mit „Koran“ auf dem Umschlag), oder zum Beispiel in Buch B (dort links, mehrbändig, mit braunen Umschlägen, auf denen „Kommentar“ oder „Tafsīr“ steht). Die beiden Textsorten sind sogar physisch leicht auseinander zu halten. […]

Wenn der Koran für jemanden ein heiliger Text ist, muss dann der Kommentar eines späteren Muslims, der schon seit mehr als tausend Jahren tot ist, das auch sein? […]

Soll doch jeder glauben was er will; aber es wäre schön, wenn man zumindest die Textgattungen auseinander halten könnte: Koran, Auslegung (tafsīr) und Hadith.92

 

Die Lösung ist natürlich nicht die komplette Aufhebung dieses Gedankens, dass Wissende fachkundig Auskunft erteilen sollen. Jedoch müssen wir uns eingestehen, dass die Autoritäten keine Autoritäten sind. So wie der Kaiser in der berühmten Kindergeschichte „Des Kaisers neue Kleider“ nackt ist, müssen wir uns auch eingestehen, dass wir uns selbst etwas vorgemacht haben, wenn wir irgendeiner Person unseres Vertrauens blind gefolgt sind.

Fragen sind durchaus an „Wissende“ zu stellen, jedoch sollten wir die religiöse Belesenheit fördern mit kritischem Hinterfragen der gegebenen Antworten von Menschen mit Wissen („Gelehrten“). Selbst zu denken ist die unabdingbare Voraussetzung, um ein Gottergebener zu sein, denn wir lesen:

 

17:36 Und geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Gesicht und Verstand – für all das wird (dereinst) Rechenschaft verlangt.93

 

Und wenn wir nach Antworten suchen, so haben wir die beste Antwort als eine zeitlich eingeschränkte Lösung anzunehmen, denn wir dürfen nie aufhören, nach besseren Antworten zu suchen:

 

39:18 Diejenigen, die auf das Wort hören und dann dem Besten davon folgen, das sind diejenigen, die Gott rechtleitete, und das sind diejenigen, die Verstand besitzen.

 

Aḥādīṯ als Quelle der Irreführung

Es ist leider in vielerlei Fragen zu einer Quelle der Irreführung geworden, wenn wir den traditionell überlieferten Aussprüchen (aḥādīṯ) religiöse Gewichtung schenken. Denn sie wurden in vielen religiösen und politischen Angelegenheiten missbraucht. Natürlich gibt es eine breite Palette an Meinungen hierzu und nicht jeder Sunnit hätte gleich gehandelt wie die Usurpatoren. Dennoch haben wir die Pflicht, es unmissverständlich auszudrücken, dass diese Aussprüche selbst die Quelle dieser Problematik sind und nicht erst ihre Auslegungen.

Es ist nicht wegzureden: Steinigung, Kopftuch, Sklaverei, Köpfe abhacken, sexuelle Versklavung oder Perversion, Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostasie; ḥaddu-r-riddah – حد الردة), Aberglaube, Unterdrückungsgesetze der Frau und vieles mehr sind direkt in diesen dem Propheten angedichteten Aussprüchen zu finden. Wieso wir den Aussprüchen gegenüber, die dem Propheten zugeschoben werden und eigentlich eine Beleidigung des Propheten darstellen, äußerst kritisch zu stehen haben, lässt sich dadurch erklären, dass sie verwendet wurden:

  • um die Lehre einer Abspaltung (Rechtsschule, maḏhab) gegenüber einer anderen in Kleinigkeiten zu verteidigen, die nicht in der Lesung vorkommen, wie etwa, was die Waschung vor dem Gebet (wuḍūʾ) ungültig mache, welche Tierarten aus dem Meer gegessen werden dürfen und was nicht.
  • um die Autorität und Vorgehensweise eines bestimmten Königs oder Herrschers zu rechtfertigen oder ihm zu schmeicheln, indem Geschichten wie etwa über den Mahdī oder Daddschāl verwendet und ausgeschmückt werden, die mit der Lesung rein gar nichts zu tun haben.94
  • um die Interessen eines bestimmten Stammes oder einer Familie zu fördern. Berühmtestes Beispiel ist der Ausspruch (Ḥadīṯ), nach welchem Führungspersonen nur vom Stamme der Quraisch oder der Familie Muhammads (und sämtlichen Nachfolgern, selbst denen der 50. Generation nach ihm!) ausgewählt werden dürfen.
  • um sexuellen Missbrauch und Misogynie zu rechtfertigen, indem ʿAīschas Alter bis auf neun Jahre herabgesetzt wurde. Oder auch um Frauen davon abzuhalten, als Vorbeterin Gebete anführen zu dürfen.
  • um Gewalt, Unterdrückung und Tyrannei durch die Aussprüche zu rechtfertigen, in denen Angehörige der Stämme Uraina und Uqaila gefoltert oder Juden in Medina massakriert wurden und man eine Poetin für ihre kritische Poesie ermorden ließ.
  • um die Gemeinschaft der Gläubigen durch zusätzliche Rituale (wie etwa die sogenannten nawafil Gebete) zu beschäftigen, im Irrglauben, man erlange dadurch mehr Rechtschaffenheit. Hierbei ist Religion das sprichwörtliche Opium der Massen geworden.
  • um Aberglaube zu bestätigen und zu verbreiten wie etwa die Illusion der Wirkung von Magie, die Ritualisierung des Küssens des schwarzen Steines und der Kaʿba selbst. Dies geschieht meistens, um wirtschaftliche Interessen zu befriedigen, wie etwa die Werbung für Datteln aus der Adschwa-Region, die laut einem Ausspruch besonders gegenüber Gift und Magie wirksam und schützend seien.
  • um neue Verbote und Gebote im Namen Gottes einführen zu können wie etwa das Bilderverbot, das Musikverbot oder das Verbot von Schach, Gold und Seide.
  • um die damals verbreitete lokale, jüdische oder christliche Praxis in die Religion Gottes einzugliedern wie die Steinigung, die Beschneidung, das Kopftuch und das Einsiedleroder Mönchstum.
  • um vor-islamische Glaubensinhalte und Praktiken aufrechtzuerhalten. Beispiele: Fürsprache, Sklaverei, Stammestum und Misogynie.
  • um die Massen durch erfundene Geschichten voller irrsinniger Fantasien zufriedenzustellen, die man den Kindern erzählen kann, wie etwa die Himmelfahrts-Geschichte (Mirādsch) des Propheten Mohammed.
  • um Mohammed und seine Gefährten zu idolisieren und zu erhöhen und um den Gesandten Mohammed über andere Gesandten zu erheben, indem Geschichten in den Aussprüchen erfunden wurden, in denen er zahlreiche „Wunder“ vollbracht haben soll (wie etwa die Mondspaltung allein durch seinen Fingerzeig). Auch dass er in der Bezeugung (schahādah) als einziger Gesandte erwähnt wird, gehört in diese Kategorie.

Dies hat wieder einmal nichts mit der Lesung zu tun, ja es widerspricht ihr sogar diametral. Jede einzelne dieser Aussagen können mit den angeblichen Aussprüchen, die dem Propheten untergejubelt wurden, belegt werden und Kenner der Aussprüche wissen das auch. Ich habe die Quellen zu den hier verwendeten Aḥādīṯ bereits anderswo ausführlich analysiert. Deshalb verzichte ich hier auf eine Quellenangabe und fordere die Leserinnen und Leser auf, meine Aussagen als „Behauptungen“ aufzufassen, die sie erst noch überprüfen müssen (17:36).

Dieses Kapitel wird für viele Gottergebene, die sich als Sunnit oder Schiit bekennen, sehr schwierig zu verdauen sein, da ihr Weltbild in ihren Grundmauern angegriffen und kritisiert wird. Wir alle mussten an einem Zeitpunkt in unserem Leben die eine oder andere liebgewonnene Tradition verlassen, weil es nichts mit der Religion und Offenbarung Gottes zu tun hat. Die Wahrheit kann sowieso nicht hinterfragt und widerlegt werden, sofern man denn glaubt, dass es solch eine Wahrheit gibt. In der Wahrheitsfindung müssen wir eben stets bereit sein, unser komplettes Weltbild aufzugeben für die Wahrheit Gottes – in religiöser, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht. Dies ist der Inbegriff der Ergebung in Gott. Es geht nicht um mein Weltbild und mein Empfinden, sondern um die Wahrheit, die Millionen von Gesichtern hat und deshalb nicht immer in gewohnter Form zu erkennen ist.

Es wird so Gott will noch mindestens ein bis zwei Generationen dauern, bis sich die Gemeinschaft der Gottergebenen neuen Ideen und Lösungsvorschlägen gegenüber offen zeigt, obwohl diese offene Grundhaltung von Gott in der Lesung selbst verlangt wird (17:36, 39:18, 10:38–39). Der Mensch ist psychologisch so eingestellt, dass er sein Weltbild, koste was es wolle, verteidigen will.

Gott sei Dank gibt es die ersten Anzeichen dafür, dass dieser Umbruch stattfindet – denn nur so werden wir den Jugendlichen, die sich mit der Religion identifizieren möchten, eine vernünftige, starke und authentische Lebenshaltung anbieten können, die der Lesung in allen Aspekten treu bleibt, sie aber problemlos ihre deutsche, schweizerische oder österreichische Identität nicht nur beibehalten, sondern auch stärken können.

Die ersten Anzeichen dieses Umbruches sind zum Beispiel beim Theologen Mouhanad Khorchide zu sehen, der als bekennender Sunnit am 25.10.2014 zum neuen Hidschra-Jahr 1436 folgendes schrieb:

 

[…] Denn Mohammed kam mit einer Botschaft, die den verbreiteten Mainstream kritisch hinterfragt und die mit der herrschenden Tradition abgebrochen hat. Mohammed war für seine Zeit ein Revolutionär, der seine Mitmenschen zu kritischen Geistern erziehen wollte, die nichts einfach so hinnehmen. […] Es waren hauptsächlich die mündigen kritischen Geister, die ihm gefolgt sind und in seiner Botschaft eine Befreiungsbotschaft gesehen haben. Wer heute wissen will, ob er damals möglicherweise dem Propheten gefolgt wäre, möge sich ehrlich fragen, welche geistige Haltung er/sie innehält. Wie geht er/sie mit alten und mit neuen Ideen und Positionen um? Wie bereit ist er/sie sich mit traditionellen Gedanken/Ideen und Positionen kritisch auseinanderzusetzen und diese ständig auf deren Plausibilität zu überprüfen, und wie bereit ist er/sie, sich mit anderen/neuen Gedanken, Ideen und Positionen sachlich auseinanderzusetzen und diese auf deren Bereicherungspotentiale zu überprüfen, auch wenn sie „anders“ sind? Wie bereit ist er/sie etablierte Traditionen, die unplausibel erscheinen, evtl. zu verwerfen und sich neue Traditionen anzueignen? Ich befürchte, dass gerade vieler derer, die heute meinen, die alten Traditionen behüten zu wollen und diese daher zu unantastbaren Wahrheiten erklären, über die man nicht einmal denken darf, genau diejenigen sind, die am anfälligsten sind, eine sture Haltung einzunehmen und jede neue Idee oder Herangehensweise strikt abzulehnen, ohne sich wirklich die Chance zu geben, sich mit deren Inhalt auseinanderzusetzen […]. Genau Menschen mit dieser Haltung lehnten die Befreiungsbotschaft des Propheten ab und bekämpften diese mit allen Mitteln. […]

Gerade das etablierte Establishment, das vom vorhandenen System am meisten profitiert, wehrt sich gegen Veränderungen: „Jedes Mal, wenn wir einen Gesandten vor dir [Muhammad] zu einer Stadt entsandten, sagten die Wohlhabenden, die verschwenderisch lebten: „Wir fanden unsere Väter auf einem Weg und wir treten in ihre Fußstapfen.“ Der Gesandte sagte daraufhin: „Wenn ich nun aber mit einer Botschaft zu euch gekommen bin, die besser für euch ist, als was ihr als Brauch eurer Väter vorgefunden habt?“ Sie sagten: „Wir nehmen eure Botschaft nicht an.““ (43:23)95

 

Herr Khorchide hat hier im Prinzip nichts anderes zu vermitteln versucht, was er aus der Lesung selbst richtig erkannt hat:

 

2:170 Und wenn ihnen gesagt wird: Folgt dem, was Gott herabsandte. Dann sagen sie: Vielmehr folgen wir dem, was wir bei unseren Vätern vorfanden. Auch dann, wenn ihre Väter weder etwas verstanden noch Rechtleitung fanden?

 

Propheten sind revolutionäre Reformisten, die mit ihren Ideen äußerst erfolgreich waren, weil sie Gottes Unterstützung hatten – gerade weil sie nur die Offenbarung Gottes und nur sie allein aufrecht erhielten und ihre eigenen Ideen zur Seite schoben. Die Ableugner beschuldigen den Propheten des Verrats und der Untreue gegenüber den Ahnentraditionen und weisen jegliche Vernunft und jegliche Logik ab, weil es ihrem Weltbild widerspricht. Die sofortige, geistige, innere Reaktion „Wir haben sowas noch nie von unseren Vorvätern gehört!“ (sinngemäß auch: sowas wurde uns noch nie beigebracht!) ist mitunter einer der Reflexe, auf die wir Acht geben müssen, weil sie in der Lesung an unzähligen Stellen kritisiert wird. Wenn Sie die Lesung aufmerksam studieren, dann werden Sie sehen können, dass jeder Prophet mit derselben Problematik konfrontiert wurde, zum Beispiel die Propheten Hūd, Ṣāliḥ, Schuʿayb, Abraham, Moses und Mohammed: 23:24, 7:70, 11:62, 11:87, 26:74, 28:36, 34:43.

 

31:20–21 … Und doch debattiert manch einer ohne Wissen, Rechtleitung oder klares Buch über Gott. Wenn ihnen gesagt wird: “Folgt dem, was Gott herabgesandt hat!”, sagen sie: “Wir folgen den Wegen, auf denen wir unsere Väter fanden.” Auch dann, wenn der Satan sie zur Qual der Feuerglut einlädt?

 

Es ist nur zu einfach, Ausreden zu erfinden, dass doch die Mehrheit der Gelehrten (unsere Vorväter) dies oder jenes sagen und wir deshalb nicht anders denken dürften. Diese Vorväter wurden in ihrer Gesamtheit zu Autoritäten erhoben, als ob sie eine Ermächtigung hätten, uns und unsere Denkweise im Namen Gottes bestimmen zu dürfen! Die Verwirrung ist besonders dann groß, wenn die Aussagen der Gelehrten den Inhalten der Lesung widersprechen, wie im Falle der Steinigung oder der Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostate) oder noch schlimmer: die Katastrophe der Nāsich-Mansūch-Geschichte (Abrogation), in der ganze Passagen aus der Lesung für null und nichtig erklärt werden, weil sie irgendwelchen Aussprüchen (aḥādīṯ) widersprechen oder weil gar behauptet wird, die Lesung habe in sich selbst Widersprüche! Und dies trotz des Verses 4:82, in dem uns Gott zu verstehen gibt, dass wenn die Lesung Widersprüche hätte, sie auch nicht von Gott sein könne!

Eine der typischen Reaktionen wird auch sein, dass Gott doch niemals zulassen würde, dass so viele Menschen für über 1400 Jahre dem falschen Weg gefolgt sein sollen? Woher will man denn wissen, was Gott wie tut? Wir können doch nicht einfach unser eigenes Empfinden Gott überstülpen, als ob sich Gott uns anzupassen habe! Darüber hinaus ist diese Frage nach den früheren Generationen gleichwertig zur Frage des Pharao, dem Tyrannen und Despoten:

 

20:51 Er (Pharao) sagte: „Was ist denn mit den vorherigen Generationen?“

 

Gott hat sie nicht vergessen (20:52) und so verstehen wir, dass die Frage nach den früheren Generationen hinderlich ist in der Suche nach der Wahrheit und eher einem ignoranten Verhalten wie bei Pharao entspricht.

Natürlich ist Gott der Barmherzige und mag es nicht, wenn Seine Diener ableugnen (39:7), doch Er wird Seine eigene Vorgehensweise (sunna) nicht ändern, weil es einem Menschen nicht passt. Denn Gott sagt uns klar und deutlich:

 

6:116 Wenn du den meisten derer auf Erden gehorchst, werden sie dich abirren lassen von Gottes Weg. Sie gehen gewiss nur Vermutungen nach und raten nur.

12:106 Und die meisten glauben nicht an Gott, ohne Ihm beizugesellen.

 

Es ist leicht einzusehen, dass die gesamte Ḥadīṯ-Wissenschaft auf Vermutungen gegründet ist. So zum Beispiel auf den Vermutungen darüber, dass der Gewährsmann XY historisch gesehen eine gute Persönlichkeit war und die Ḥadīṯ-Experten ihn deshalb als berechtigt ansehen, überhaupt erst Aussprüche im Namen des Propheten zu überliefern. Jedoch werden hierbei die ersten Generationen in der Überliefererkette (isnād) gar nicht überprüft, was auch damals schon nicht mehr möglich war. Deshalb hat man diese ersten Generationen weitgehend pauschal als glaubwürdig betrachtet – ohne sie zu kennen!

Unzählige Definitionsunterschiede der sogenannten Muḥaddiṯūn (Ḥadīṯ-Gelehrte), was beispielsweise Gewährsmänner oder auch „Ṣaḥāba“ (Prophetengefährten) konkret bedeuten, zeigen dies offen und klar, dass die gesamte Ḥadīṯ-Wissenschaft mittels einer komplexen, meist auf die Überliefererkette beschränkten Systematik der Vermutungen und Schätzungen gegründet ist. Und in der Lesung wird diese Haltung klar abgelehnt und kritisiert (6:116,148, 10:36,66, 53:23,28).

Wieso wurde dies alles überhaupt in erster Linie von Gott zugelassen, wo Er doch verspricht, dass Er Sein Wort schützen wird (15:9)? Sein Schutz betrifft die Offenbarung, nicht aber all die Interpretationen, welche die Menschen in ihren Kommentarbüchern (tafāsīr, plural von tafsīr) zur Lesung anführten. Es gibt eine Passage in der Lesung, welche uns über diese Erfindungen über die Religion und den theologischen Gesamtsinn all dessen aufklärt:

 

6:112–113 Und auf diese Weise machten wir für jeden Propheten Feinde: Die Satane der Menschen und der Dschinn. Sie geben einander geschmückte Aussagen ein als Täuschung. Und hätte dein Herr gewollt, hätten sie es nicht getan. So lass sie mit dem, was sie erfinden. Dies, damit die Herzen derer, die nicht an das Letzte glauben, ihm zugeneigt sind, und damit sie daran Gefallen haben und begehen, was sie begehen.

 

Mit all diesen Aussprüchen werden also die Ableugner von der Lesung ferngehalten. Diese Menschen interessieren sich gar nicht aufrichtig für die Lesung und Gottesworte. Sie wollen sich gegenseitig das diesseitige Leben schön machen durch schmückende Aussagen. In Wahrheit täuschen sie nur sich selbst und weisen vom Weg Gottes ab und weisen stattdessen zum Weg der Steinigung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Vernunftlosigkeit.

Es ist eine interessante Tatsache, dass mit dem Wort „eingeben“ aus der Übersetzung wörtlich auch offenbaren gemeint ist und dieselbe Wurzel beinhaltet, die auch für das Wort Offenbarung (waḥy) gebraucht wird und im Zusammenhang mit der Lesung steht (zum Beispiel in 6:19). Es ist also nicht nur einfach so zu verstehen, dass diese Wörter erfunden werden und man sich damit die Zeit vertreibt, sondern vielmehr, dass sie als Offenbarungen gehandelt werden und so den Menschen geistig und intellektuell eingeflößt, also „offenbart“ werden. Dass Asch-Schāfiʿī in seinem Buch Ar-Risālah die außerkoranischen Aussprüche, die dem Propheten angedichtet werden, als „Offenbarung“ bezeichnete, fällt besonders in diese Kategorie von 6:112–113. Der Grund, wieso diese Menschen nicht wirklich ans Jenseits glauben, ist die Tatsache, dass diese Menschen die Lesung nicht wirklich ernst genommen haben, weil gleich im darauffolgenden Vers (6:114) betont wird, dass die Gläubigen außer Gott keinen Richter suchen sollten. Solche also, die diesen geschmückten Reden zugeneigt sind, die als „Aḥādīṯ“ bekannt sind, suchen in Tat und Wahrheit weitere Richter neben Gott, obwohl Er unmissverständlich betont, dass Sein Wort vollkommen ist und ausreicht (6:114–115, 7:3, 11:1, 12:1, 44:58).

Es ist deshalb die Zeit gekommen für uns, dass wir uns lossagen von dieser Autoritätsidee und nur die eine und einzige Autorität anerkennen: Es gibt keine Gottheit außer dem einen und einzigen Gott.

 

39:36 Genügt Gott seinem Diener nicht? Und doch möchten sie dich mit jenen außer Ihm in Furcht versetzen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Das Gesicht des eigenen „Ich“ von der Lesung trennen

Kultureller Kontext und psychischer Hintergrund des Lesenden

Es ist von äußerster Bedeutsamkeit, die eigene Seele zu kennen, um die Unterscheidung vornehmen zu können, was von mir oder meinen Neigungen kommt und was ich möglichst objektiv erkannt habe.

Es ist leicht einzusehen, dass gewisse Ausdrucksweisen der Lesung einer Zeit entsprechen, die in den Kontext des siebten Jahrhunderts eingebettet sind. Ein Beispiel:

 

6:141 Und Er ist es, der Gärten mit Spalieren und ohne Spaliere entstehen läßt, sowie die Palmen und das Getreide verschiedener Erntesorten, und die Öl- und Granatapfelbäume, die einander ähnlich und unähnlich sind. Eßt von ihren Früchten, wenn sie Früchte tragen, und entrichtet am Tag ihrer Ernte, was als Rechtspflicht darauf steht, aber seid nicht maßlos — Er liebt ja die Maßlosen nicht.85

 

Die Entrichtung dessen, was als „Rechtspflicht“ übersetzt wurde, betrifft die sogenannte „Läuterung“ (zakāh), die wir abgeben müssen. Wieso hier zakāh als Läuterung verstanden wird, soll nicht das Thema sein, nur so viel: Die entsprechende Wurzel hat in seiner Grundbedeutung die Idee einer Reinigung und Läuterung. Das Wort wurde deshalb verwendet, weil die Abgabe von materiellen Gütern wie auch die Beisteuerung zur Verbesserung sozialer Umstände als die Läuterung der eigenen Seele und des eigenen Zustands wie auch den anderer bedeutet. Das Wort bedeutet nicht, wie traditionell übersetzt, einfach „Almosenabgabe“ oder dergleichen, sondern kann am ehesten als die Aufforderung „steuert zur Reinigung/Läuterung/Verbesserung bei“ verstanden werden.86

Wenn wir also 6:141 betrachten, so sehen wir, dass vom „Tag der Ernte“ die Rede ist und heute werden wohl die wenigsten der Gottergebenen Bauern sein. Aus diesem Grund ist der Vers in seinen historisch-zeitlichen Kontext zu setzen, damit wir eine für uns gültige Ableitung gewinnen können: der Tag der Ernte ist heute der Tag, an dem wir unser Einkommen erhalten. Anders also als die traditionellen Gelehrten uns weismachen wollen, ist die Läuterung (zakāh) nicht einmal im Jahr zu zahlen, sondern jeden Monat, wenn man den Lohn erhält!

Dies ist nun ein einfaches Beispiel dessen, wie die Lesung in einen zeitlichen Kontext gesetzt wird. Was aber viel wichtiger ist, aber gleichsam schwerer, dass wir uns selbst in einen historischen Kontext unserer Zeit stellen, damit wir möglichst differenziert den Text in der Lesung betrachten können.

Dabei ist aber nicht nur wichtig, in welchen politischen oder sozialen Umständen man lebt, sondern auch der emotionale Kontext, die eigene Psyche. Denn unweigerlich werden meine Gefühle eine sehr große Rolle spielen in der Art und Weise, wie man die Welt sieht. Dies alles zu erkennen ist unabdingbar, um einzusehen, wieso einer Person gewisse Ideen oder Gedanken missfallen, ohne dass sie ihnen wirklich Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der Satan steckt bekanntlich im Detail, wenn wir diese Details nicht selber bereits bereinigt und ausgefüllt haben. Ich möchte deshalb mich selbst in den zeitlichen Kontext setzen: Mein historisch-zeitlicher Kontext ist der der Schweiz aus der Übergangszeit vom 20. ins 21. Jahrhundert, in der die technologische Entwicklung rasant voranschreitet dank der mathematischen Wissenschaften wie der Physik, der Mathematik oder den Ingenieurswissenschaften. Meine Eltern sind gebildete Menschen, die in der Türkei und in Kanada studiert haben und wegen der Arbeit in die Schweiz gezogen sind. Da mein Vater einen Doktor in Geophysik innehat, wurde ich in eine mathematische Studienrichtung gedrängt, obwohl ich Tontechnik studieren wollte. Mein Vater aber meinte, ich solle „was Rechtes“ studieren.

Rational gesehen liebe ich es, Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen und sie zu verstehen, was natürlich mit dem technologischen Fortschritt unserer Zeit zu tun hat. Auch mein Mathematikstudium hat einen großen Anteil daran, dass ich fast alles im Leben analytisch betrachten will. Auch mein Beruf als Softwareentwickler hat seinen Beitrag.

Zusammen mit der Tatsache, dass ich meine erste Beziehung mit einer Christin hatte, als ich rückblickend gesehen noch ein „Papiermuslim“ und nicht wirklich praktizierend war, und ich so vom Christentum durch sie und ihre Eltern ein positives Bild gewann, und den ganzen politischen Geschehnissen in der Welt, wie etwa der 11. September, Saddam Hussein, Al Qaeda, Kopftuchdiskussionen, der wissenschaftlich miserablen Lage der sich muslimisch nennenden Bevölkerung in Ländern wie Pakistan, Iran, Afghanistan, Syrien und Türkei wurde ich immer mehr und mehr damit konfrontiert, wieso die „Religion“, in welche ich hineingeboren wurde, so rückschrittlich zu sein schien. Dies, obwohl es muslimische Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen aus dem Mittelalter wie Ibn Sina (Avicenna), Al-Dschazari, Maryam Al-Astrolabī (Maryam Al-Idschliyyah) waren, die die Wissenschaften weiter entwickelten und dann nach Europa brachten. So ist beispielsweise Dank der „camera obscura“ von Ibn Al-Haytham (Alhazen) erst die gesamte Filmindustrie und Filmerei möglich geworden! Wieso sind die heutigen Muslime also nicht wie Al-Haytham? Wenn man sich ihre Geschichten durchliest, so findet man heraus, dass diese Wissenschaftler sehr skeptisch waren, was die sogenannten Aḥādīṯ angeht (bestes Beispiel: Ibn Chaldūn).

Mehr und mehr wurde ich auch mit der sich schleichend ausbreitenden Angst vor dem Islām konfrontiert und fühlte mich darüber hinaus weder in der Türkei noch in der Schweiz wirklich zuhause, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mir selbst sagte: ich bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen und ging hier zur Schule, werde so Gott will hier leben und heiraten, also beantrage ich den schweizer Pass! Selbst bei der Einbürgerung wurden mir von zwei Beamten, einer Frau und einem Mann, Fragen gestellt wie, wie ich mit den „unüberbrückbaren Unterschieden zwischen Christentum und Islām denn klarkommen wolle“, worauf ich antwortete, dass diese menschengemacht sind. Diese ständige Konfrontation mit meiner eigenen Religion, der Rückschrittlichkeit der „muslimischen“ Nationen und des immensen Wissensreichtums der Geschichte wiederum derselben Nationen führte dazu, dass ich nach einer emotional gefestigten Identität suchte, die nicht ständig hinterfragt werden musste.

Alles in allem nahm ich mir deswegen vor meinem Mathematik-Studium ein Jahr Zeit, um meine eigene Religion genauer kennenzulernen und las jeden Tag Bücher und übersetzte dann auch zwei Bücher und ein Büchlein aus dem Englischen und Türkischen ins Deutsche.

Emotional gesehen war die Lesung für mich also ein Zufluchtsort, in der meine intellektuellen und persönlichen Fragen zufriedenstellend beantwortet wurden. Ich fühlte mich bei Gott allein aufgehoben und verstanden. Der behauptete Code 19, ein mathematisches Muster in der Lesung, verhalf mir dann zur Motivation, Mathematik zu studieren, um nach genaueren Antworten zu suchen. Ich gehöre also zur zweiten Generation („Secondos“) mit Migrationshintergrund, die ihre Identität in der eigenen Religion gesucht und auch studiert haben.

Obwohl ich dafür hätte prädestiniert sein können, bin ich aus einem einfachen Grund nicht in salafistischen Kreisen gelandet: Mein gesamtes Umfeld war stark intellektuell geprägt und meine Eltern kannten berühmte Persönlichkeiten aus der Türkei wie Yaşar Nuri Öztürk oder Edip Yüksel persönlich, bei welchen wir auch übernachtet hatten, als wir zu Besuch waren. Meine Eltern studierten in der Schweiz im Kanton Aargau mit Gleichgesinnten die Lesung und jeden Freitag versammelten wir uns und beteten das Freitagsgebet. Ich wurde dabei nie gezwungen, sondern verspürte bereits als Kind den Drang, das Beten zu lernen. Natürlich war das stark religiös geprägte, familiäre Umfeld auch ein ausschlaggebender Punkt, mich mit der Lesung und ihren Inhalten näher zu befassen. So nervte ich ständig meine Mutter, bis sie mir das Beten beibrachte. Wenn ich als Kind Fragen zur Religion hatte, wie etwa „Wenn alles einen Anfang hat, hat Gott auch einen Anfang?“ oder „Wie können wir Gott sehen, wenn unsere Blicke ihn laut Koran nicht erreichen?“ wurden sie zuhause oder in diesem Umfeld Gleichgesinnter nicht unterdrückt. Manche Fragen waren zu schwierig für meine Eltern und sie meinten zeitweise, ich solle meine Frage beispielsweise Şerafettin Durmuş stellen, der ebenso bekannt war für seine scharfsinnigen Artikel, aber relativ gesehen nicht so berühmt wie zum Beispiel Edip Yüksel. Ich wuchs also in einem Umfeld auf, in dem Gottergebene begonnen hatten, ihre eigene Tradition und Religion trotz aller sozialen Widerstände tiefgreifend und weitgehend unabhängig von den Traditionen zu hinterfragen.

Ohne es zu merken wurde ich auf diese Weise intellektuell weiter angeregt, weshalb ich von Beginn an eine Haltung entwickeln konnte, welche relativ frei war von der Tradition, die fälschlicherweise mit der Religion verbunden wurde. Ich betrachte Aberglauben wie Exorzismus, Talismane, Magie und dergleichen eher rational, nüchtern und als Scharlatanerie. Ich bin vielmehr angetrieben durch die Diskrepanz zwischen den Inhalten der Lesung und dem, was die „Muslime“ daraus verstehen, und stehe vor der von mir wahrgenommenen emotionalen und intellektuellen Herausforderung der „Rechtfertigung“ meines Glaubens aufgrund der Tatsache, dass viele „westliche“ Länder in gewissen Aspekten die Lesung besser einhalten als die sogenannten „muslimischen“ Länder.

So bin ich bereits emotional aufgrund meiner Erfahrung eher dazu geneigt, Demokratie als etwas Willkommenes zu akzeptieren, auch wenn die gelebte Demokratie in Europa bei Weitem nicht perfekt ist. Der Umstand, dass ich Gottes Worte dahingehend verstehe, dass wir ein föderalistisch-laizistisches Staatskonzept mit den Prinzipien der Beratung (schurá) und einer staatlichen Vereinbarung (ʿahd) zum Beispiel in Form einer Bundesverfassung umsetzen sollen, liegt sicherlich auch in meinem sozio-politischem Umfeld begründet.

Um den Anschluss an die gottergebene Aufklärungszeit aus dem Mittelalter zu finden, sehe ich es deshalb als meine Pflicht, die Tradition von der Lebensordnung Gottes zu trennen, um einerseits eine humanere Lebensweise anzuwerben und um andererseits die geistigen, psychischen, politischen und sozialen Barrikaden zu entfernen, welche im Weg stehen für eine gesunde Seele – rational wie auch emotional.

Die Aufklärung kann nicht stattfinden, wenn wir in der Tradition stecken bleiben und die Lesung nicht ins heutige Zeitalter übersetzen. Wir stehen vor neuen Herausforderungen, welche in der Tradition nicht oder nicht zufriedenstellend beantwortet wurden.

Wenn wir wissenschaftlich, politisch und sozial vorwärts kommen wollen, müssen wir die Essenz der Lesung verstehen und umsetzen und uns befreien von jeglichen falschen Autoritäten wie etwa Buchārī und den angeblichen Gefährten des Propheten.

Es gibt keine Gottheit außer Gott, dem Schöpfer.

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: 6. Nach Beispielen in der Lesung suchen

Sobald eine Bedeutung abgeleitet wurde, besteht der letzte Fehlerfreiheitstest bzw. die Überprüfung der Genauigkeit solch einer Auslegung darin, einen Vergleich mit den Geschichten anzustellen, die in der Lesung erzählt werden – falls solch eine Geschichte überhaupt gefunden werden kann. Der Grund hierfür ist, dass die Geschichten in der Lesung „lebendige“ Beispiele sind, von denen wir lernen und die Bedeutungen vergleichen können. Die Geschichten wurden nicht umsonst erklärt oder sind nicht nur für unsere Unterhaltung bestimmt (12:111). Die beste Erklärung wird nur dann erlangt, wenn wir wiederum in der Lesung nach der Antwort suchen (25:33).

 

12:3 Wir erklären dir die schönsten der Geschichten, indem Wir dir diese Lesung offenbaren, obwohl du zuvor unter denen warst, die keine Kenntnis besaßen.

25:33 Und sie bringen dir kein Beispiel, ohne daß Wir dir die Wahrheit und eine bessere Erklärung brächten.58

 

Eines der klarsten Beispiele für das Anwenden dieser Methode ist der Umgang mit Dieben laut der Lesung. Es gibt einen Vers, welcher das Gesetz für Diebe angibt und seine Interpretation kann sehr stark variieren, abhängig davon, welche Bedeutung den arabischen Wörtern zugeschrieben wird:

 

5:38 Dem Dieb und der Diebin sollen ihre Hände / Ressourcen (Einnahmen) / Macht / Besitzeigentümer / Güter (aydiyahumā) abgeschnitten / geschnitten / aufgelöst / abgetrennt (faqṭaʿū) werden als Vergeltung für das, was sie begangen haben und als abschreckende Strafe von Gott. Und Gott ist Allmächtig, Allweise.

 

Die sprachliche Untersuchung werde ich später im zweiten Teil des Buches durchführen. Die heutigen Gelehrten und die der Vergangenheit haben sich fast alle für die Bedeutung „Hand abschneiden“ entschieden und so werden wir heutzutage Zeugen von Amputationen in Ländern, wo behauptet wird, der Lesung zu folgen. Hätten sie in der Lesung nach Beispielen gesucht, um die Anwendung dieses Gesetzes zu erlernen, so kämen sie zu einer anderen Schlussfolgerung – fern von jeglichem Abhacken irgendwelcher Hände. Die Geschichte von Josef mit seinen Brüdern liefert uns das klarste und simpelste Beispiel, wie mit Dieben umzugehen ist.

 

12:73–75 Sie sagten: „Gott bewahre. Ihr wisst ja, dass wir weder gekommen sind, um im Land Verderben zu stiften, noch sind wir Diebe!“ Sie sagten: „Was ist dann seine Strafe, wenn ihr lügt?“ Sie sagten: „Derjenige, in dessen Gepäck er gefunden wird, soll selbst die Strafe sein. So bestrafen wir die Ungerechten.“ Mit diesem bildlichen Ausdruck „selbst die Strafe zu sein“ wird also das Abarbeiten oder auch das Abbezahlen im Wert des gestohlenen Guts gemeint. Der Dieb oder die Diebin muss also den Wert der gestohlenen Sache ausgleichen, ob durch Rückzahlung oder Abarbeiten.

 

Demnach wird die Bedeutung des Verses wie folgt übersetzt:

 

5:38 Dem Dieb und der Diebin sollen die Einnahmen geschnitten werden, als Vergeltung für das, was sie begangen haben, und als abschreckende Strafe von Gott. Und Gott ist Allmächtig, Allweise.

 

Solch eine Bedeutung bestätigt auch die allgemeinen Gesetze der koranischen Gerechtigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit: Die Strafe soll nicht die Tat an Maß überschreiten (16:126).

Widerlegung von „Der Koran und die Koraniten“

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Satan,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen,

Die Homepage antikezukunft hat gegen unsere Auffassung, dass der Koran alleine für das religiöse Heil völlig hinreichend ist, mehrere Artikel verfasst. Eines dieser Artikel wurde bereits von uns widerlegt. Nun folgt, wie angekündigt, die Widerlegung des nächsten Artikels. Dieser zweite Artikel auf antikezukunft ist als eine Erweiterung zum vorangegangenen Artikel zu verstehen und überschneidet sich teilweise mit den Argumenten des Vorgängers. Ich gehe in dieser Widerlegung nur auf die Gegenargumente und nicht auf die am Artikelanfang angeführte Beschreibung ein, da die Widerlegung sonst zu umfangreich wird. Im Vergleich zu unserer Richtung schreibt der Autor über seine Strömung:

 

Die zweite Bewegung hält sich nicht nur an der gelebten Tradition (Sunna), sondern auch an dem schriftlich überlieferten Quellenmaterial fest. Ihre Herangehensweise wird im Grunde als die historisch–kritische Kontextualisierung bezeichnet.

 

Die so genannte historisch-kritische Methode versucht, im Unterschied zu den meisten anderen Gruppen, die Sekundärquellen zeitgemäß auszulegen. Ihr großes Manko ist allerdings, dass sie auf dieselben Quellen zurückgreifen wie alle anderen Strömungen. Dies wirft die Frage auf, wie diese Strömung sich im Recht glauben kann, das „richtige“ Verständnis der Ahadith zu repräsentieren im Gegensatz zu den restlichen Gruppen? Ein Beispiel: Alle vier sunnitischen Rechtsschulen ahnden den Abfall vom Glauben mit der Todesstrafe (Apostasie). Dazu beziehen sie sich auf Ahadith, welche dies legitimieren. Wie will diese Strömung dieses Verhalten verbieten, wo sie doch selbst aus den gleichen Quellen schöpft? Fahren wir fort:

 

“Für Islamoglu war das Projekt der Koranitischen Denkweise vor allem in Indien ohne weiteres eine Intention der Orientalisten gewesen, die vornehmlich bei den Muslimen den Gedanken hervorhebten, die Sunna (Lebensweise und Haltungdes Propheten) mitsamt ihrer Orthopraxie im Angesicht der Moderne als weit überholt verwerfen zu müssen.”

 

Wir sind weder Inder noch mit der indischen Kultur aufgewachsen. Einzig und allein ist der Wahrheitsgehalt einer Aussage ausschlaggebend für uns und nicht, woher das Argument abstammen mag (39:18, 10:38-39). Des Weiteren wurde bereits in der ersten Widerlegung die negative Darstellung von Orientalisten behandelt. Weiter schreibt der Autor:

 

Welchen Ansatz verfolgt eine historisch textualisierte Koranexegese?

Mit dem Ansatz der historischen Kontextualisierung sucht die islamische Koranexegese hauptsächlich die Nähe zu den Erstempfängern.

Sie (Anm.: die Sahabis) wurden direkt mit der Offenbarung konfrontiert, so dass dieser ihre Lage wie auch ihre Gesellschaftlichen Begebenheiten in seinem Kontext miteinbezog, wie dies im folgenden Koranvers ihren Ausdruck findet: „O ihr, die ihr glaubt! Fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch enthüllt würden, euch unangenehm wären; und wenn ihr danach zur Zeit fragt, da der Koran nieder gesandt wird, werden sie euch doch klar. Gott hat euch davon entbunden; und Gott ist All-verzeihend, Nachsichtig“ (5:101)

 

Auch alle anderen Gruppen verfahren hierzu gleichermaßen, indem sie die Nähe zu den Erstempfängern suchen, es ist also keine Besonderheit der „historisch textualisierten Koranexegese“. Es trifft zu, dass die Ṣaḥābah laut Koran zu verschiedenen Belangen Fragen gestellt haben. Der Autor will jedoch mit dieser Argumentation darauf hinaus, dass man für die Erschließung der betreffenden Koranverse Ahadith benötigt, was zu vielen Stellen im Koran einen Widerspruch darstellt. Für das religiöse Heil ist der Koran alleine völlig hinreichend (5:44,45,47, 42:10, 6:114). Dementsprechend sind die angeblichen Ahadith der Ṣaḥābah unnötig. Auch wenn manche Verse die damaligen Begebenheiten anschneiden, ist der Koran eine „Klärung aller Dinge“ (16:89, 12:11) in der Religion (5:3 – siehe auch die Diskussion mit dem Autor zu dieser Thematik). Die Ṣaḥābah spielen somit heute weder für uns noch für den Koran selbst eine Rolle. Im weiteren Textverlauf werden Überlieferungen präsentiert, also keine Koranverse, um die “historisch kritische Methode” zu legitimieren. Hierzu zitiert der Autor aus unsicheren Ahadithquellen Abdullah ibn Abbas:

 

Wenn ihr mich über ein ungewöhnliches Wort im Koran befragt, sucht es in der Dichtung wie zum Beispiel im arabischen Diwan.

 

Dazu folgende Koranverse:

 

20:97 Wir haben ihn eigens leicht gemacht in deiner Sprache, damit du durch ihn den Gottesfürchtigen frohe Botschaft verkündest und durch ihn hartnäckige Leute warnst. (Siehe auch: 39:27-28, 16:103, 43:3, 41:44, 26:192-195)

 

Der Koran ist also keinesfalls ein Buch mit sieben Siegeln, wie der Autor uns weismachen will. Es sei folgender Hadith zitiert, welcher der Argumentation des Autors diametral entgegen steht:

 

Wer mit dem Koran auskommt und sich nicht auf die Haltung einstellt, auf etwas weiteres nicht angewiesen zu sein, gehört nicht zu uns. (Bukhari, Tauhid, 44; Abu Dawud, Vitir, 20; Darimi, Salat, 171)

 

Ohnehin haben Ahadith im Koran keine Autorität und es gibt noch viele andere Koranverse, die diesem Hadith direkt widersprechen. Dann zitiert der Autor den Kalifen ʿUmar ibn al-Chattab:

 

O ihr Menschen! Sieht zu, dass ihr die Dschahaliyya Dichtung zusammen trägt, weil in diesem das Tafsir für euer Buch (dem Koran) vorhanden ist.

 

Dieser Hadith widerspricht der eben von mir angeführten Quelle. Denn er stellt klar, dass der Koran alleine für das religiöse Heil Sorge trägt. Der angeführte Hadith ist ein klarer Widerspruch zu 5:3, 6:114 und vielen anderen Versen. Schließlich könnte der Autor keine hinreichende Argumentation aufbringen, wonach sein Hadith richtig und meiner falsch wäre. Er will mit seiner selektiven Herangehensweise darauf hinaus, dass der Koran nicht “zur Ermahnung leicht” (54:17,22,32,40) und auch nicht in der “Sprache leicht” gemacht ist (20:97, 44:58), wie dies uns im Koran klar mitgeteilt wird. Somit steht dieses Zitat gegen die von Gott offenbarten Koranverse. Man muss den Autor auch dahingehend fragen, warum Gott etwas so Fundamentales wie die Erklärung des Korans, in unserem Falle die „Dschāhiliyya Dichtung“, an keiner Stelle im Koran erwähnt. Dieses außerkoranische Argument ist letztendlich uninteressant, da man aus Ahadith alles ableiten kann, wie zum Beispiel ihre Vernichtung laut ʿUmar ibn al-Chattab:

 

Omar schrieb den Gefährten des Propheten, die in anderen Städten lebten, Briefe, mit der Aufforderung, all die Kopien der Ahadith, die sie hatten, zu zerstören. (Ibn Abdil Berr, Camiul Bayanil Ilm ve Fazluhu 1/64-65.)

Es gab einen beachtlichen Anstieg der Anzahl an Ahadith während des Kalifats von Omar. Omar wünschte, dass alle Seiten, auf denen die Ahadith geschrieben wurden, die in der Hand der Öffentlichkeit waren, zu ihm gebracht werden. Dann ordnete er ihre Zerstörung an, indem er sagte: “Sie sind wie die Mischnah der jüdischen Leute.” (Ibn Sad, Tabakat 5/140)

Ibn Abbas erzählte: Als die Zeit des Todes des Propheten sich näherte, waren einige Männer im Haus und unter ihnen war ‚Umar Ibn al-Khattab. Der Prophet sagte: „Kommt näher und lasst mich ein Schreiben für euch schreiben, nach dem ihr nie vom rechten Weg abgehen werdet.“ ‚Umar sagte: „Der Prophet ist ernsthaft krank, und ihr habt den Quran. Gottes Buch genügt uns.“ … (Sahih al-Bukhari: 9.468 und 7.573)

 

Der Autor zitiert danach ʿAli ibn Abu Talib:

 

Fragt mich nach dem Buche Gottes. Es gibt keinen Koranvers, weder in der Dunkelheit noch am Tageslicht, wo ich nicht wüsste, weshalb und unter welchen Umständen es offenbart wurde.

 

Dazu gibt es einen zu dieser Haltung direkt widersprechenden Hadith von ʿAli ibn Abu Talib selbst:

 

Ali Ibn Abu Talib, der vierte Kalif, sagte in einer seiner Reden: „Ich ermahne alle, die Niederschriften vom Propheten haben, nach Hause zu gehen und diese zu vernichten. Die Leute vor euch haben sich selber fehlgeleitet, weil sie Ahadith folgten, die von ihren Gelehrten kamen [Anm.: Juden mit ihrer eigenen Hadith-Kollektion, beispielsweise Talmud]. Auf diese Weise verließen sie das Buch Gottes.“ (Sunan Al-Daramy)

 

Es wird bei diesen Argumentationen schließlich selektiv mit Ahadith umgegangen. Die Einstellung der vier Kalifen gegenüber den Ahadith ist eindeutig und deswegen existiert aus ihrer Zeit auch kein einziger Hadith. Weiter geht es folgendermaßen im Text:

 

Nach Abu Zaid hat der Koran eine spezielle sprachliche Kodierungsdynamiken angewendet, um seine Botschaft den Erstadressaten einwandfrei zu übermitteln: „Wir haben es als einen arabischen Koran hinabgesandt, auf dass ihr begreifen möget“ (12:1). Denn in einer Sprache ist zweifelsohne viel mehr als nur das gesprochene Wort enthalten.

 

Der Einwand:

 

6:19 Sag: Welches ist das größte Zeugnis? Sag: Gott (, Er) ist Zeuge zwischen mir und euch. Und dieser Koran ist mir eingegeben worden, damit ich euch und (jeden), den er erreicht, mit ihm warne.

 

Es ist also klar ersichtlich, dass der Koran nicht nur für das Umfeld des Propheten gesandt ist, sondern auch für andere Menschen erschließbar sein muss. Dazu nun folgender Vers:

 

41:44 Hätten Wir ihn zu einem fremdsprachigen Koran gemacht, hätten sie sicherlich gesagt: „Wären doch seine Zeichen ausführlich dargelegt worden!” Ob fremdsprachig oder arabisch, sage: “Er ist für diejenigen, die glauben, eine Rechtleitung und eine Heilung.” Und diejenigen, die nicht glauben, haben Schwerhörigkeit in ihren Ohren, und er ist für sie (wie) Blindheit. Diese sind, als würde ihnen von einem fernen Ort aus zugerufen.

 

Von nun an will uns der Autor anhand eines Beispiels davon überzeugen, dass der Koran nicht so einfach zu verstehen sei und man die Sprachgepflogenheiten der Ṣaḥābah beherrschen müsse:

 

Es gibt unzählige Beispiele im Koran, die diese Annahme bestätigen, wie z. B: „Er hat eure Ehefrauen, zu denen ihr sagt: “Ihr seid mir verwehrt wie der Rücken meiner Mutter, nicht zu euren Müttern gemacht“ (33:4).

 

Diese unzähligen Beispiele soll der Autor bitte anführen. Zum Beispiel mit dem Rücken: Die Redewendung ist hier selbst erklärend, denn es steht in seiner eigenen Erläuterung: Er hat eure Ehefrauen, zu denen ihr sagt: „Ihr seid mir verwehrt wie der Rücken meiner Mutter, nicht zu euren Müttern gemacht.“ Er hat zudem den koranischen Gesamtkontext nicht beachtet, nämlich dass es verboten ist, die eigene Mutter zu heiraten (4:23). Man muss hier also nicht wissen, was der Rückenschwur nun genau ist. Der Koran erklärt es hier selber. Die Verse 58:1-4 erklären den „Rückenschwur“ ausführlich genug. Weiter führt der Autor an, dass die klassischen Korangelehrten die „Offenbarungsanlässe“ (asbab an-nuzul) für eine der grundlegendsten Instrumente bei der Auslegung der Schrift hielten. Gott erachtete diese als nicht grundlegend, denn sonst würden sie in den Koran gehören und nicht in massiv verderbte Quellen. Dem Leser sei auch nicht vorenthalten, wie prekär es um die Offenbarungsanlässe denn selbst steht. Dazu folgendes Video eines Befürworters dieser Strömung. Die Offenbarungsanlässe werden im Koran nirgendwo erwähnt, schon gar nicht, dass diese die Koranverse erklären sollen. Gott allein erklärt den Koran laut 25:33, 55:1-2, 75:19, 11:1 und 6:114. Der Autor muss selber eingestehen:

 

Die Kritiker der „Offenbarungsanlässe“ bemängeln jedoch die zur Verfügung stehenden Materialien, weil nur ein Bruchteil der historischen Quellen schriftlich aufgezeichnet und bis in unsere Tage tradiert wurden. In al-Bukhari findet sich hierfür im 60. Buch der Titel mit der folgenden Überschrift „Buch der Kommentare“. Dort werden nur 358 Erläuterungen des Propheten zu fast ebenso vielen Koranversen aufgeführt, dass macht sage und schreibe 5,7 Prozent aller Koranverse aus.(29) Auch in den klassischen Korankommentaren wie z.B. die von al-Tabari (gest. 923), gehen nicht alle Überlieferungen bei der Erläuterung des Koran, anhaltend auf den Propheten selbst zurück. In seinem monumentalen Werk „Dschami al-Bayan´an ta´wil ay al-Quran“ werden geradewegs 3000 Überlieferungen, die freilich bis auf den Propheten zurück gehen sollen aufgezeichnet. Das macht bei den gesamt Überlieferungen in diesem Werk gerade mal 7,8 Prozent aus. Aus diesem Grund, können die Offenbarungsanlässe bei dem überwiegend größten teil der Koranverse keine Auskunft über die Hintergründe und deren Anlässe geben.

 

Festzuhalten ist dementsprechend, dass die Offenbarungsanlässe nur minimal bedingt helfen können, noch bevor man den Koran zu Rate gezogen hat. Solche Quellen werden im Buche Gottes nicht geduldet. Weiter lesen wir:

 

Die Methodik der Offenbarungsanlässe wird auch dahingehend kritisch betrachtet, weil es die Gefahr mit sich bringt, als sei die Offenbarung nur spezifisch und ursächlich für das siebte Jahrhundert relevant. Dazu Kommentiert Dr. Murad Wilfried Hofmann den folgenden Satz: „Es wäre allerdings eine Übertreibung, den Koran nur im Lichte der Offenbarungsanlässe auslegen zu wollen, als seien sie für die Offenbarung ursächlich gewesen oder schränkten ihre Bedeutung auf den konkreten Anlass ein“.”

 

Anfangs brauche man Offenbarungsanlässe, welche laut dem Autor von den klassischen Koranexegeten „für eine der grundlegendsten Instrumente bei der Auslegung der Schrift“ gesehen werden, jedoch nur einen sehr geringen Teil des Koran erklären. Dann soll man die Erklärung des Koran durch die Erstadressaten nicht ganz so ernst nehmen, um nicht ins siebte Jahrhundert zu verfallen? Damit sind die Offenbarungsanlässe der subjektiven Relativierung des Interpretierenden ausgeliefert! Wessen Ansicht soll hier dann der Maßstab sein? Die Erklärung für den Koran ist somit selbst erklärungsbedürftig und hat keine größere Relevanz? Wenn es also „passt“, benutzt man sie und wenn nicht, dann lässt man sie weg? Wie soll man mit Offenbarungsanlässen umgehen, die nicht mal ansatzweise vollständig und dazu noch voller Ungereimtheiten sind? Beispielsweise, dass es zu manchen Versen gleich mehrere unterschiedliche Offenbarungsanlässe gibt oder auch viele politisch motivierte, wie dies Mouhanad Khorchide selber zugeben muss im eben erwähnten Videobeitrag? Und nun versucht der Autor die Haltung, dass Gott für die Religion alleine ausreicht, direkt einer Widerlegung zu unterziehen. Dazu schreibt er:

 

Warum kann allein der Koran nicht für die kontextuelle Lesart ausreichen? Weil dadurch grundsätzliche Bestandteile und Informationen der Religion verloren gehen. Im Koran wird darauf hingewiesen, dass, bevor die Kaaba als Gebetsrichtung obligatorisch vorgeschrieben wurde, die Muslime ihre Gebete in eine andere Gebetsrichtung ausführten, wie dies aus den folgenden Versen ersichtlich wird. […] Ohne die tradierten Überlieferungen, würde die Information über die damalige und erste Qibla in Jerusalem vollkommen untergehen.

 

Quellen gehen nicht verloren, wenn man der Offenbarung alleine folgt. Allerdings ist die falsche Handhabung dieser Quellen, beispielsweise dass sie immense religiöse Autorität genießen dürfen, und die damit einhergehenden katastrophalen Folgen für Religion und Mensch Grund genug, sie abzulehnen. Der Koran ist jedoch geschützt von Gott (15:9) und die Quellen des Autors erwiesenermaßen nicht. Überhaupt: Könnte es machtpolitische Gründe gegeben haben, dass man diesen Hadith vielleicht erfand oder dass man dies nur erwähnt hat, um Jerusalem vor anderen Städten zu bevorzugen? Die im religiösen Rahmen unbrauchbaren Einzelheiten haben kein Ende. Wir müssen deshalb nicht alle Sekundärinformationen bis zum letzten Punkt erschließen, um die Religion zu verstehen. Fahren wir fort:

 

Auch die nachfolgende Koranverse erläutern nicht annähernd die Kaaba als die neue Gebetsrichtung dar, ..

Hier fragt man sich allen ernstes den „Koraniten“, wie man für die Gebetsrichtung auf die Kaaba kommt, ohne die jeglichen Überlieferungen zu konsultieren?

 

Es wird im Koran klar vorgeschrieben in Richtung der Masdschid al-ḥarām zu beten, wo sich auch mittendrin die Kaaba befindet. Der Autor hat sich weder mit den Argumenten der Gottergebenen, die sich auf Gott allein verlassen (65:3), gründlich auseinandergesetzt, wie nun deutlich wurde, noch den Koran an der richtigen Stelle aufgeschlagen, da Gott im Koran die Richtung angibt und dort ohnehin auch die Kaaba steht. Möchte der Autor den Gläubigen trotz Gottes Wort vorschreiben, dass statt der Masdschid al-ḥarām nur die Kaaba als gültige Definition gilt? Im Koran steht:

 

49:16 Sag: Wollt ihr Gott über eure Religion belehren, wo Gott weiß, was in den Himmeln und was auf der Erde ist? Und Gott weiß über alles Bescheid.

 

Unabhängig davon ist aus folgenden Versen klar ersichtlich, dass mit der Gebetsrichtung auch die Kaaba mit eingeschlossen ist:

 

5:97 Gott hat die Ka’ba (Al-Ka`bata), das geschützte Haus, zu einer Stätte des Gottesdienstes für die Menschen gemacht, und (ebenso) den Schutzmonat, die Opfertiere und die (Opfertiere mit den) Halsgehänge(n). Dies, damit ihr wisset, dass Gott weiß, was in den Himmeln und was auf der Erde ist, und dass Gott über alles Bescheid weiß.

2:127 Und (gedenkt,) als Ibrahim die Grundmauern des Hauses errichtete, zusammen mit Isma’iI, (da beteten sie): „Unser Herr, nimm (es) von uns an. Du bist ja der Allhörende und Allwissende.

2:125 Und als Wir das Haus zu einem Ort der Einkehr für die Menschen und zu einer Stätte der Sicherheit machten und (sagten): „Nehmt Ibrahims Standort als Gebetsplatz!“ Und Wir verpflichteten Ibrahim und Isma’il: „Reinigt Mein Haus für diejenigen, die den Umlauf vollziehen und die sich (dort) zur Andacht zurückziehen und die sich (vor Gott) verbeugen und niederwerfen.“ (Siehe auch besonders: 22:26-29)

 

Und das Spiel des Autors einmal auf ihn selbst umgekehrt: Man soll also zur Kaaba beten, gut aber zu welcher Seite oder genauen Stelle des Komplexes? Oder in welchem Abstand, wenn man vor der Kaaba ist? Oder soll man auch den schwarzen Stein anbeten oder ihn verehren, wie dies aus Ahadith hervorgeht:

Ahadith zum schwarzen Stein

Dem Propheten zugeschriebene Ahadith:

‘Abis bin Rabia berichtete: ‘Umar kam in die Nähe des schwarzen Steins und küsste ihn und sagte: “Kein Zweifel, ich weiß, dass du ein Stein bist, das mir weder Schaden noch Nutzen geben kann. Hätte ich nicht den Gesandten Gottes dich küssen sehen, hätte ich dich nicht geküsst.” (Bukhary, Band 2, Buch 26, Nummer 667)

Salim berichtete, dass sein Vater sage: ‘Ich sah den Apostel Gottes in Mekka ankommen; Ich sah ihn den schwarzen Stein küssen, während er die Tawaf tat und in seinen ersten drei Runden der sieben Runden machte er Ramal (des Tawafs).’ (Bukhary, Band 2, Buch 26, Nummer 673)

Ibn Abbas berichtete: Der Prophet machte ein Kamel reitend die Tawaf der Kaaba. Jedes Mal, wenn er vor dem schwarzen Stein war, zeigte er mit irgendetwas auf ihn und sagte Takbir! (Bukhary, Band 2, Buch 26, Nummer 682)

Der heilige schwarze Stein entstammt aus dem Paradies. Er war schneeweiß, doch die Sünden der Heiden schwärzten ihn. (Hanbal 1/307)

Der heilige schwarze Stein ist Gottes Hand auf Erden. Er schüttelt durch ihn die Hand der Auserwählten. (Dschami-us Sagir 1/151)

Artikel dazu: Ahadith in Widerspruch zur Logik und Auszüge aus der Hadith-Literatur

Das wäre Götzendienst! Und wenn dem so ist, wie lange soll man den schwarzen Stein verehren oder anbeten? Man muss doch bei etwas so wichtigem wie Religion bis zum letzten Detail angeleitet werden! Dann führt der Autor Hakki Yilmaz auf, um ihn für seine Interpretation der Gebetsrichtung zu kritisieren ohne ihn jedoch zu widerlegen. Aus Vers 2:144 wird klar ersichtlich, dass die Qibla als Gebetsrichtung zur Masdschid-al-ḥarām dient. Hakki Yilmaz geht jedoch in seinem Tafsirwerk auch auf dieses Argument ein, kann aber letzten Endes, meiner Meinung nach, nicht hinreichend überzeugen.

Auch die Interpretation von Hakki Yilmaz zu saqar wird vom Autor nicht widerlegt. Er müsste auch wissen, dass beispielsweise Prof. Yasar Nuri Öztürk das Wort saqar auch als Computer deutet (Kuran‘ daki Islam, S.20, Aufl. 42). Man muss auch dahingehend sagen, dass Hakki Yilmaz nur für einen Teil der Gottergebenen spricht und die meisten von uns ihm in seinen Ansichten nicht zustimmen.

Hinzu kommt, dass man dieses Spiel mit dem Autor noch viel drastischer spielen kann, indem man Ahadith vorgibt und ihm vorwirft, wie er die Autoren von solchen Behauptungen als Quelle annehmen kann und mit welchem Recht er einen Teil verwirft, andere wiederum akzeptiert. Als wäre dies nicht genug, kann man einen Vertreter seiner eigenen Strömung vorführen, welcher einen “Koran” veröffentlicht hat (Mustafa Öztürk) und diesen so auslegt, dass er angeblich oder möglicherweise die Meinung der Ṣaḥābah und des Propheten wiedergebe, also wie der Koran aufgrund massiv verderbten Sekundärquellen erschlossen werde. Der Autor dieses Buches macht auch keinen Hehl daraus, dass dies seine Eigeninterpretation sei und man den Koran eben so nicht einfach verstehen könne. Dieser angebliche historische Kontext, also Ahadith und Offenbarungsanlässe, kann den Koran jedoch eben alles aussagen lassen, abgesehen davon, dass dies gleich mehreren Koranversen direkt widerspricht (10:15, 6:115, 11:1, 12:1, 26.2, 44:58, 26:191-195, 20:97, 44:58).

Weiter:

 

Ein subjektives Koranverständnis kann den Koran in der Tat alles sprechen lassen und in die Schrift hinein projizieren, was man persönlich zu beabsichtigen sucht. Prof. Ömer Özsoy bemerkt dazu: „Fängt man einmal an, den Koran als übergeschichtlichen Text zu lesen, führt das zwangsläufig dazu, ihn über jeden möglichen Gegenstand sprechen zu lassen; und das ist nichts anderes als „Entstellung“ (tahrif)

 

Soll hier suggeriert werden, dass mit Ahadith und Offenbarungsanlässen auf einmal alles richtig verstanden werden kann? Genannt seien ISIS, Salafisten und noch alle andere Gruppierungen, die sich den Islam gerade mit Ahadith, und zwar von denselben Individuen, die sich auch der Autor bedient, so zurecht biegen, dass man den Koran alles sagen lassen kann. Keineswegs deutet unsere Strömung den Koran subjektiv, sondern achtet auf den Kontext im Koran (4:82, 25:33). Dem Autor sei folgender Vers ein Denkanstoß für seine Sekundärquellen:

 

15:91-93 Die den Koran auseinandergerissen haben. Bei deinem Herrn! Wir werden sie allesamt zur Rechenschaft ziehen. Für all ihre Taten.

 

Keiner der erwähnten Gruppen, also auch die des Autors, machen sich wirklich Gedanken darüber, wie man den Koran dahingehend auslegt, dass seine Verse innerhalb zu keinem Widerspruch stehen. Das bleibt ihnen natürlich verwehrt. Einmal in Ahadith versunken, kann man den Koran alles sagen lassen, eben was der Autor uns hier selber vorwerfen will. Stellt man sich alleine auf den Koran ein und achtet auf seinen klaren Kontext, wird eine subjektive Auslegung des Koran unmöglich. Fahren wir fort:

 

Zudem gibt es unzählige Koranverse, dessen Wortlaut nicht unbedingt auf dem ersten Blick erschlossen werden kann. Sie kann durchweg sogar zum negativen Verständnis des Lesers herbeiführen, weil der historische Anlass nicht im Wortlaut des Textes explizit zu erschließen ist

 

Dies widerpricht direkt dem Koran (27:1, 41:3, 54:17, 17:9). Hiermit stellt unser Autor Gott als zu unfähig hin, ein vollkommenes (6:115), in der Sprache leicht gemachtes (20:97) und leicht verständliches (54:22) Buch zu offenbaren und widerspricht damit Gottes Versen, die ein ganz anderes Bild vom Koran schildern. Somit ist die angeführte angebliche Problematik des Autors nur für diejenigen relevant, welche den Koran nicht ohne Sekundärquellen verstehen wollen. Für solche Behauptungen hat der Koran ja auch entsprechende Verse: 2:85, 17:45-46, 43:36-37, 18:57.

Ohnehin würden selbst viele liberale Anhänger der tradierten Sunna so einer Behauptung nicht zustimmen. Andersherum werden gerade durch Ahadith Koranverse entstellt, beispielsweise für politische oder kriegerische Zwecke. Und es geht hierbei nicht einfach nur um Randgruppen, sondern um große Kreise innerhalb derjenigen Gelehrten, die sich auf Offenbarungsanlässe oder andere Sekundärquellen verlassen wollen. Um die haltlose Argumentation zu bekräftigen schreibt der Autor:

 

wie dies unter anderem aus der Sure 64 Vers 14-15 demonstriert werden kann: „O ihr, die ihr glaubt, wahrlich, unter euren Frauen und Kindern sind welche, die euch feindlich gesonnen sind; so hütet euch vor ihnen […] „Eure Reichtümer und eure Kinder sind wahrlich eine Versuchung […]“.

Man beachte hier im Vers, dass Frauen und Kinder als eine ontologische Versuchung für den Mann impliziert und dementsprechend negativ assoziiert werden.

 

Der Autor achtet hier nicht auf den genauen Wortlaut, denn es werden nicht alle Frauen und Kinder pauschal mit “feindlich gesonnen” geahndet, sondern nur ein Teil. Dazu kommt, dass er das Wort „Frauen“ selektiv übersetzt. Das besagte Wort an dieser Stelle heißt „azwādschikum“. Viel schlüssiger übersetzt bedeutet dieses Wort „eure Partner“, also Ehemann und Ehefrau zusammen und nicht einfach nur Frauen (siehe folgenden Link, unter „de“ für Deutsch). Dazu schreibt Muhammad Asad:

 

D.h.:“manchmal sind eure Ehepartner…“ Da nach den Lehren des Qur’an alle moralischen Pflichten für Frauen wie für Männer bindend sind, ist offensichtlich, daß der Begriff azwadschikum nicht mit „eure Ehefrauen“ übertragen werden darf, sondern – nach klassisch arabischem Sprachgebrauch – als gleichermaßen auf männliche wie weibliche Ehepartner bezogen zu verstehen ist. („die Botschaft des Koran“ Muhammad Asad, S. 1068 Fußnote 11, Patmos Verlag)

 

Bayraktar Bayrakli kommt zum selben Schluss in seinem Tafsirwerk. Auch Edip Yüksel und Ali Riza Safa (beide die traditionelle Sunna ablehnend) übersetzen gleichermaßen. Die Wurzel des Wortes macht es im klassischen Arabischen ohnehin ersichtlich. Einer der berühmtesten, der Tradition verschriebenen klassischen Gelehrten, Qurtubi, bestätigt zum betreffenden Vers in seinem Tafsirwerk unsere Argumentation (el-Câmiu li Ahkâmi’l-Kur’an, Band 17 S.401 Absatz 3, Buruc Yayinlari). Dass manche klassische Exegeten mit „Frauen“ übersetzen und somit seine Bedeutung verkürzen hat den Grund, dass sie den Vers an entsprechende Ahadith mit Bezug auf Frauen gekoppelt sehen.

Nun zum Argument des Autors, dass man in 64:14 generell „einen Schuldzuspruch aller Frauen auf der Welt“ sehen könne. Obwohl das Wort mit „Partner“ besser übersetzt ist und das Argument des Autors keinesfalls für alle Frauen gelten kann, nehmen wir einmal an, dass diese Übertragung stimme. Selbst mit der selektiven Übersetzung dieses Verses ist die Einstufung als frauenfeindlich übertrieben. Denn es gibt viele Verse im Koran, in denen Gott den meisten Menschen, also auch Männern, Ableugnung attestiert. Keinesfalls stehen generell ein Teil der Frauen und Kinder vor den Männern schlechter da oder sind den Gläubigen pauschal feindlich gesinnt. Wir sehen in den Koranversen 37:147-148, dass der Prophet Jonas ein ganzes Volk zum Glauben bringt. Es ist deswegen nicht richtig die Behauptung aufzustellen, dass jedes Mal, wenn es eine Gruppe von Gläubigen gibt, es dann auch immer Frauen oder Kinder von ihnen geben muss, die diesen feindlich gesinnt sind. Man kann hier also sagen, dass dieser Vers einmal die damaligen Gläubigen ansprach, da schon ohnehin die meisten Menschen, einschließlich Männer, als Ableugner beschrieben werden (11:17, 6:116, 12:103, 13:1).

Zusätzlich ist dieser Vers noch heute für uns wichtig, also universell auszulegen, damit wir daran erinnert werden, Gott über alles und jeden zu stellen – Frauen wie auch Männer. Schließlich sieht der Koran in Frauen und Männern Gläubige wie auch Ableugner. Diese Tatsache macht es unmöglich, dass durch die Erwähnung der teilweise feindlich eingestellten Frauen (mit der selektiven Übersetzung), einfach generell immer ein Teil der Frauen den männlichen Gläubigen gegenüber feindlich eingestellt sein müssen. Mindestens der Vers 30:21 zeigt uns, dass Frauen wie auch Männer für das jeweilige Gegengeschlecht eine Ruhe, Barmherzigkeit und Liebe bedeuten. Auch in 9:71 werden die Frauen positiv erwähnt.

Nun zum Argument, „dass Frauen und Kinder als eine ontologische Versuchung für den Mann impliziert“ seien. Die Verse lauten:

 

64:14-15 O die ihr glaubt, unter euren Partnern und euren Kindern gibt es welche, die euch feind sind; so seht euch vor ihnen vor. Wenn ihr aber verzeiht, nachsichtig seid und vergebt – gewiss, so ist Gott vergebend und barmherzig. Euer Besitz und eure Kinder sind nur eine Versuchung; Gott aber – bei Ihm gibt es großartigen Lohn.

 

Nur die Kinder und der Besitz werden als Versuchung gesehen, nicht auch die durch den Autor selektiv übersetzten „Frauen“. Die Frage ist nun: Sind Kinder wirklich einfach wie Besitz als eine Versuchung einzustufen? Natürlich nicht. Kinder waren damals ein Machtstatus (9:69, 9:85, 18:32-46). Somit sind Kinder selbst nicht pauschal eine Versuchung, sondern der Umstand, die Kinder als Machtsymbol und Stärke anzusehen. Dadurch entfernt man sich davon, sich ganz auf Gott alleine einzustellen. Daran ist aber das Kind selber nicht schuld. Auch werden Kinder im Koran differenziert betrachtet. Als Gläubige (18:81) wie auch Ableugner (18:80). Überhaupt werden auch die Grundzüge der Erziehung von Kindern, am Beispiel des Sohnes von Luqmān, im Koran umschrieben (31:13-16, siehe auch: 46:15-18, 2:83, 4:36). Hieraus wird unmissverständlich klar, wie Kinder sich gegenüber ihren Eltern zu verhalten haben. Damit wurden auch die weiteren Behauptungen des Autors zu diesem Thema, wie etwa die Wiedergabe der Ansicht von Abu´l Lays Samarkandi (dazu: Unzucht treibende Männer werden in 24:2 mit Unzucht treibenden Frauen zusammen erwähnt und im dritten Vers sogar der Mann zuerst), einmal mehr ins ad absurdum geführt. Wichtig zu erwähnen wäre zudem, dass unser werter Samarkandi kein Korananhänger ist, sondern sich der angeblichen Sunna bedient. In der gleichen Quelle, Band 4 auf Seite 298, legitimiert Samarkandi die Steinigung durch die Sunna:

 

… die Steinigung ist durch die Sunna legitimiert. Unser Prophet (s.a.v.) ließ die verheirateten Unzucht begehenden durch Steinigung, unverheiratete durch 100 Hiebe bestrafen, …

Samarkandi, Tefsiru´l Kuran, Bd. 4, S.298, Özgü Yayinlari 2007.

 

Die Steinigung wird im Koran jedoch ausgeschlossen. Nach der so genannten „Methodologie der Rekontextualisierung“ des Autors müsste er jetzt Steinigung gutheißen, was aber dem Koran selbstverständlich widerspricht (10:15).  Nun soll unser Autor folgende frauenfeindliche Ahadith hier alle widerlegen:

 

O das weibliche Geschlecht! Gibt Almosen und bereut. Ich habe gesehen, dass die Mehrheit der Höllenbewohner aus Frauen besteht. (Muslim, Iman 34/132; Ibn Madsche, Fiten 19/4003.)

Wenn ein Mann seine Frau zu Bett ruft und sie lehnt (die Einladung) ab, werden sie die Engel bis zu den frühen Morgenstunden verfluchen. (Bukhary 9/36)

Eine von einer Frau geführten Gesellschaft ist eine dem Untergang geweihte Gesellschaft. (Ibn Hanbal, Musnad 5/43,50; Tirmidhi, Fitan 75 ; Nesai, Kudat 8; Bukhary, Fiten 18.)

Nimmt keine Ratschläge von Frauen an; setzt euch gegen sie, denn die Opposition gegenüber Frauen bewirkt Wohlstand. (Suyuti, Leali II, 147; Ibn Arrak, Tanzihush Sharia II, 210.)

 

Und man achte bei diesen Ahadith auf die Quellen, von denen hier die Rede ist. Der Autor könnte gar nicht daran herum kommen, als diese Ahadith selektiv auszuschließen. Er könnte keine hinreichende Argumentation aufbringen, welche diese Ahadith entkräften während er einem anderen Teil der Ahadith Autorität gibt, gerne in den selben Quellen, wo vielleicht nur ein paar Seiten weiter kritische Ahadith zu Frauen stehen. Die einzige Möglichkeit ist nach wie vor diese Quellen religiös rigoros komplett zu negieren. Weiter schreibt der Autor sich auf die im Koran erwähnten Schutzmonate beziehend:

 

Ohne die historischen Berichte dazu, würden sämtliche Informationen über den Hintergrund der vorislamischen Zeit fehlen. Auch an dieser Stelle kann berechtigt den Koraniten die Frage gestellt werden, wie sie auf solche Hintergrund Informationen gelangen können, wo sie doch nichts anderes als nur den Koran akzeptieren?

 

Es besteht kein Bedarf, dass der Koran aus Quellen erklärt werden soll, welche voller Widersprüche und Lügen sind. Zu den Schutzmonaten gibt es auch einen umfassenden Artikel.

Nochmals sei zum obigen Anhang betont, dass wenn die Pilgerfahrt im Sinne der Ahadith gedeutet wird, dies schwere Konsequenzen für die Praxis nach sich zieht. Sie schränken den Zeitraum des Hadsch drastisch ein und deswegen gab und gibt es immer wieder Tote oder Verletzte durch den daraus resultierenden großen Andrang zur Kaaba. Und wieder einmal wird deutlich, dass unser Autor sich kaum die Mühe gemacht hat, unsere Ansichten zu studieren.

Um die Verse 12:111 und 16:89 zu entkräften, dass hier „alles“ nicht wirklich alles meine, führt der Autor die Verse 27:16 und 18:84 an und schreibt:

 

Im ersten Vers wird vom Propheten Salomo berichtet, wohin dieser sagte, dass Gott ihm alles beschert (kulli šayˈin) hatte. Wenn „kulli šayˈin“ tatsächlich alles im wörtlichen bedeuten sollte, weshalb gelang es Salomo dann nicht seinen Tod aufzuhalten?”

 

Es gilt die goldene Faustregel: Solange etwas mit “alles” bezeichnet wird, ist auch wirklich alles gemeint. Sonst gäbe es das Wort „alles“ im Arabischen nicht. Wenn man beispielsweise auf Deutsch zu irgendeiner Sache oder einem Thema “alles” sagt, dann bedeutet dies entweder wirklich alles, oder der Kontext schränkt das Wort “alles” ein, was auch nahezu immer der Fall ist. Zu argumentieren, dass „alles“ einfach generell nicht alles hieße, bringt im Koran folgenschwere Logikfehler mit sich. Natürlich ist in 16:89 und 12:111 mit “alles” nicht wirklich jede auch nur erdenkliche Information gemeint, sondern „alles“ wird kontextuell auf die Religion beschränkt (5:3). In diesem Rahmen wird dann alles erklärt. Dies kann man auch aus dem Vers 6:114 erschließen durch das Wort mufaṣṣal, was so viel bedeutet wie vollständig detailliert und deutlich erklärt.

Der Autor muss belegen, dass “kulli” (alles) insoweit verkürzt werden muss, dass Gott den außerkoranischen Ahadith eine Autorität gibt. Das ist aus dem Koran her nicht möglich, man kann es nur auf die Religion einschränken. Zu der Argumentation, warum der Tod nicht außer Kraft gesetzt werden kann, lässt sich auch wie folgt begründen. Gott bestimmt alles Mögliche für die Menschen und in 3:185 wird festgelegt, dass jede Seele den Tod kosten wird. Dass im Vers zu Salomo “alles” nicht alles mögliche mit einschließt, ist aus dem Vers selbst zu entnehmen. Denn dann wäre es widersinnig, dass Salomo erwähnt, dass ihm die Sprache der Vögel gelehrt wurde. Somit kann man schon am Vers selbst erkennen, dass ihm hier nicht alles mögliche, was auch Gottes Allmacht umfasst, gegeben wurde. Gott sagt im Koran:

 

51:56 Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur (dazu) erschaffen, damit sie Mir dienen.

 

Dementsprechend hat der Autor wieder einmal den Korankontext missachtet und somit ist anzumerken, dass was Salomo unter “alles” bezeichnet, keinesfalls wirklich alles meinen kann, da er sonst wie Gott selbst wäre, wiederum man aber auch nicht genau ermitteln kann und muss, was „alles“ nun genau mit einschließt. Die Argumentation bezüglich 18:84 ist analog.

Kommen wir nun zum wichtigsten Gegenargument: Wenn man wie der Autor „alles“ auf „nicht wirklich alles“ einschränkt, dann ist Gott auch nicht mehr allmächtig, und zwar in allen Versen, wo derselbe Begriff vorkommt:

 

29:20 Sag: Reist auf der Erde umher und schaut, wie Er die Schöpfung am Anfang gemacht hat. Hierauf läßt Gott die letzte Schöpfung entstehen. Gewiß, Gott hat zu allem die Macht.

Transkription:
Qul Sīrū Fī Al-‚Arđi Fānžurū Kayfa Bada’a Al-Khalqa ۚ Thumma Al-Lahu Yunshi’u An-Nash’ata Al-‚Ākhirata ۚ ‚Inna Al-Laha `Alá Kulli Shay’in Qadīrun (siehe auch: 28:88, 33:27, usw)

 

Die komplette Liste von كل شى (Kulli Shay’in) im Koran sei den Leserinnen und Lesern zusätzlich empfohlen, um zu vergleichen. Kommen wir nun zum letzten Argument, am Ende schreibt der Autor:

 

In seinem Werk „Mecazul´l-Quran“ erwähnt Abu Ubayda Ma´mer ibn ul-Muthanna (gest. 825) ein Dialog zwischen Umar ibn al-Chattab (gest. 644) und ibn Abbas (gest. 688), in dem überliefert wird: „Bestürtzt fragte Umar seinen Gefährten ibn Abbas: „Obwohl die Qibla, das Buch und die Religion eins sind, warum gibt es dennoch Meinungsverschiedenheiten in unserer Umma?“ Woraufhin Abbas sagte: „Wir wussten genau auf wem und weshalb die Koranverse offenbart wurden. Aber jetzt wissen sie es nicht. Deshalb interpretiert ihn jetzt jeder nach seinem eigenen Gutdünken. Wenn sie jedoch auch wie wir wüssten, über wem und weshalb die Verse offenbart wurden, so würden auch sie, ganz bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten haben“.

 

Das ist wirklich interessant. Die Ṣaḥābah, welche für den Propheten und den Islām ihr Leben riskiert haben, bekommen auf einmal eine Generalamnesie und wissen nicht mehr, warum jeweilige Koranverse hinabgesandt wurden und laufen wie verirrte Schafe umher. Aber Herr Ibn Abbas hat mit Umar zusammen noch alles richtig in Erinnerung! Dass Offenbarungsanlässe auf die Ṣaḥābah zurückgeführt werden, führt diese Argumentation ins ad absurdum.

Anmerkung: Die Gegenüberstellungen der Ahadith in diesem Artikel dienten nur dazu, die Diskrepanzen dieser Quellen aufzuzeigen. Der Koran ist in Bezug zu allen außerkoranischen Ahadith unmissverständlich ablehnend.

 

Fazit

Der Autor konnte mit seinem Artikel nicht belegen, dass man für die Religion neben Offenbarungen andere Quellen nehmen muss. Er hat die immensen Problematiken der Sekundärquellen nur geringfügig beachtet. Fast nur bei den Offenbarungsanlässen hat er die Problematiken teilweise erwähnt und sich dahingehend selbst widerlegt. Schließlich wollte er aber dem Leser suggerieren, dass man mit den Sekundärquellen den Koran „richtig“ verstehen könne und hat dabei die weitaus wichtigeren Problematiken außerhalb der Offenbarungsanlässe, nämlich den viel umfangreicheren restlichen Ahadith, größtenteils ausgelassen. Sein Beispiel zu der Problematik, dass Apostasie seit Jahrhunderten mit dem Tode geahndet wird, wurde nur erwähnt aber keinesfalls gelöst. Er konnte nirgendwo schlüssig belegen, warum manche Ahadith „historisch kritisch gesehen“ richtig und andere falsch sind. Es wurden auch bei nicht wenigen seiner Argumente die Beachtung des Kontextes innerhalb des Korans oder das klassisch Arabische vernachlässigt. Manchmal wurden sogar Verse nicht einmal vollständig gelesen, woraus dann haltlose Behauptungen aufgestellt wurden. Auch die anfangs und am Ende aufgeführten, selektiven Zitate aus den Ahadith konnten schnell widerlegt werden. Die Problematik für den Autor ist offensichtlich und nicht schön zu reden. Sobald er sich in das Terrain der Ahadtih begibt, finden sich unzählbare Gegenargumente vor, die man ihm entgegenhalten kann, vom Koran selbst noch abgesehen. Sein Versuch, diese ganzen Problematiken durch eine angebliche „kritische“ Herangehensweise zu umgehen, sind schnell widerlegt und viel wichtiger: In der Praxis anderer Sunnaanhänger oft noch anders beurteilt.

 

Im Namen der Religion den Koran als unzureichend zu sehen, bedeutet Gott als unzureichend zu sehen. Ihr sagt zu Gott regelrecht „du hast ein unvollständiges Buch geschickt.“ (Prof. Bayraktar Bayraklı)

 

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Koranvers 22:37 mit einem Steinbock in Menschengestalt

Gedankenlose Traditionen? Das Opferfest

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Satan,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

22:37 Weder ihr Fleisch noch ihr Blut erreichen Gott. Ihn erreicht aber eure Achtsamkeit. So hat Er sie euch dienstbar gemacht, damit ihr Gott dafür preist, dass Er euch rechtgeleitet hat. Und verkünde den Gutes Tuenden frohe Botschaft!

Der Friede sei mit euch und Gottes Barmherzigkeit wie sein Segen!

Gläubige, hinterfragt den Sinn vom Opferfest! Ist alles, was wir von unseren Vorvätern und unseren Ahnen lernten, auch wirklich Gottes Lebensordnung, die für uns vorgesehen ist? Viele von uns haben sich schon seit Kindesalter gefragt, ob Gott solch ein Massenschlachten der Tiere vorgesehen hat – selbst dann, wenn die Absicht der meisten, die im Namen Gottes Tiere schlachten, nicht bösen Ursprungs ist?

2:170 Und wenn ihnen gesagt wird: Folgt dem, was Gott herabsandte. Dann sagen sie: Vielmehr folgen wir dem, was wir bei unseren Vätern vorfanden. Auch dann, wenn ihre Väter weder etwas verstanden noch Rechtleitung fanden?

Hanif-Übersetzung

Müssten wir nicht eher „das Gute tun“ („amal as-salih“) als eine Tradition zu feiern? Müsste nicht das Wichtigere in den Vordergrund gestellt werden an solchen Tagen? Jeder hat doch seine eigenen Mittel und Wege, zum Guten beizutragen?! Ob offen oder im Verborgenen, Gott weiß um das Innere in unserem Herzen Bescheid.

2:148 Und für jeden gibt es eine Richtung, zu der er sich kehrt. So wetteifert um die guten Taten. Wo immer ihr auch seid, Gott bringt euch alle herbei. Gewiss, Gott ist über alle Dinge mächtig

2:270 Und was ihr an Abgabe ausgebt oder an Gelübde gelobt, so weiß Gott es gewiss. Und für die Ungerechten sind keine Helfer

Wie viel müssen wir wem als Hilfsgüter ausgeben?

2:215 Sie fragen dich, was sie abgeben sollen. Sage: Was ihr an Gutem ausgebt, ist für die Eltern, die Nahen, die Waisen, die Bedürftigen und die Obdachlosen, und was ihr an Gutem tut, so ist Gott darüber wissend

2:219Und sie fragen dich, was sie abgeben sollen. Sage: Verzeihung! Auf diese Weise macht Gott euch die Zeichen klar, auf dass ihr nachdenkt

2:273 Für die Armen, die auf dem Weg Gottes eingeschränkt sind, die sich auf der Erde nicht durchschlagen können. Der Ignorante rechnet von ihrer Zurückhaltung her damit, dass sie reich seien. Du erkennst sie an ihren Kennzeichen. Sie fragen die Menschen nicht aufdringlich. Und was ihr ausgebt an Gutem, so ist Gott darüber wissend

Was ist, wenn wir keine Bedürftigen oder Arme um uns herum finden?

2:177 Aufrichtigkeit ist nicht, wenn ihr eure Gesichter in Richtung des Ostens oder des Westens kehrt, sondern Aufrichtigkeit ist, wenn man an Gott, an den letzten Tag, an die Engel, an die Schrift und an die Propheten glaubte und das Geld, obwohl man es liebt, den Nahen, den Waisen, den Bedürftigen, dem Obdachlosen, den Fragenden und den Unfreien zukommen ließ und den Kontakt aufrechterhielt und zur Verbesserung beisteuerte. Die ihre Vereinbarung einhalten, wenn sie vereinbarten, und die in der Not, im Leid und wenn es schlimm zugeht, geduldig sind, das sind die Wahrhaftigen und das sind die Achtsamen

Die Fragenden und die Unfreien sind es, die unsere Hilfte benötigen, also die Sklaven der heutigen Zeit. Es ist leider so, dass die Sklaverei auch heute noch nicht abgeschafft wurde, sie nennt sich nur anders als früher. Befreien wir also die von Kreditschulden belasteten Menschen von ihrer Last und helfen uns gegenseitig!

Gebt dabei aber keine Güter ab, die ihr selber nur ungern annehmen wolltet, denn:

2:267 Ihr, die ihr glaubtet, gebt ab von den guten Dingen, die ihr erwarbt, und von dem, was wir für euch aus der Erde hervorbrachten, und sucht nicht das Üble davon aus, um es auszugeben, während ihr es nicht nehmt, außer ihr drückt dabei ein Auge zu. Und wisst, dass Gott reich, lobenswert ist

Wir wurden im Koran von unserem Herrn gewarnt, dass wir nicht damit beschäftigt sein sollen, Güter und Vermögen anzuhäufen, da uns sowieso nichts wirklich gehört und spätestens mit unserem Tod alles abgegeben wird. Diese Welt ist vergänglich und wir haben die kurze Zeit mit Sinnvollerem auszufüllen:

17:100 Sage: „Wenn ihr die Schätze der Barmherzigkeit meines Herrn besäßet, würdet ihr sie aus Furcht vor Verarmung zurückhalten. Der Mensch pflegt geizig zu sein.“

102:1-2 Euch lenkte die Vermehrung ab. Sogar die Friedhöfe habt ihr besucht!

Wie steht es nun um das Opferfest (عيد الأضحى – ʿĪdu l-Aḍḥā)? Ist dieses Opferfest aus dem Koran oder nicht? Woher kommt das Wort „Fest“ (ʿĪd – عيد) überhaupt? Soviel ist zu sagen: das Opferfest ist nicht aus dem Koran zu entnehmen! Selbst das zweite Wort al-Aḍḥā kommt im Koran nirgends in der heute gebrauchten Bedeutung vor!

Das Wort ʿĪd stammt von der Wurzel ayn-waw-dal (ع و د) ab und diese Wurzel bedeutet im Allgemeinen „zurückkehren“ oder „Rückkehr„. Im Koran wird dieses Wort an nur einer Stelle in dieser Form verwendet:

5:114 Jesus, Sohn der Maria, sagte: „Oh Gott, unser Herr, sende uns einen Tisch vom Himmel herab, dass er ein Fest (عيدا) für uns sei für den Ersten von uns und für den Letzten von uns, und ein Zeichen von Dir. Und versorge uns, denn Du bist der beste der Versorger.“

Allein an diesem Vers erkennen wir also die Bedeutung des Wortes ʿĪd in mindestens diesen Formen:

  • Es ist ein jedes Jahr zurückkehrender Brauch, der gemeinsam durchgeführt wird zum Wohle und für die geistige Gesundheit der Gemeinschaft.
  • Es ist für die Versorgung von Menschen gedacht zum Beispiel durch Essen und Getränke, insbesondere von Bedürftigen. Es ist auch ein Tag, um sich Gott gegenüber dankbar zu zeigen. Doch da die Versorgung nicht nur Essen und Getränke beinhaltet, bedeutet es das Abgeben von jeglicher Sache, die ein Bedürfnis des Armen versorgt. In anderen Worten ist es die Rückkehr der Gaben Gottes zu denen, die sie am meisten benötigen.
  • Das Fest wird durchgeführt, um sich Gottes Zeichen zu erinnern, also auch die Bücher Gottes, die Rechtleitung und die Gaben. Es soll ein Tag sein, an dem wir zu Gott zurückkehren. Insofern kann jeder Tag ein Fest sein, um zu Gott zurückzukehren, doch die Gemeinschaft der Gläubigen kann auch spezielle Tage festlegen, um bestimmter Geschichten aus dem Koran besonders zu gedenken. Das Opferfest als solches kommt im Koran nicht vor, doch kann es als ein von der Gemeinschaft festgelegter Tag gelten.

Das Opferfest ist nicht aus dem Koran zu entnehmen! Das sogenannte Opferfest stammt aus den Ahadith ab und wurde begonnen, um sich der Geschichte Abrahams bewusst zu werden. Leider wurde das allgemeine Verständnis dieser Geschichte falsch wiedergegeben, sodass Gott fälschlicherweise als ein blutrünstiger Gott dargestellt wird, der angeblich von Abraham die Opferung seines Sohnes verlangt haben soll. Die Richtigstellung der Geschichte finden Sie im Artikel Abraham und die Opferung seines Sohnes.

Bild zum Opferfest - Vers 22:37
Foto: Elif A.

Insofern ist das „Opferfest“ als solches nicht falsch, jedoch sollten die als Opfer geschlachteten Tiere zu den Bedürftigen zurückkehren. Ansonsten können wir gleich damit aufhören, diesen Tag zu feiern. Ein weiterdenkender Gottergebener (Muslim) würde zu sich selbst dann auch folgendes sagen, indem er einfach an die zitierten Koranverse denkt: Ich werde sowohl das geschlachtete Tier braten und die Gaben Gottes den Bedürftigen zurückgeben als auch etwas Langfristiges beabsichtigen, indem ich die nötigsten Bedürfnisse des armen Menschen in Erfahrung bringe und sie ihm nach Möglichkeit erfülle.

Möge dieses Fest ein Fest sein, an dem wir Opfer darbringen, wie etwa unsere Zeit zu opfern für die Bedürftigen und Armen und ihnen von den reichlichen Gaben Gottes zukommen lassen, die wir bisher angehäuft hatten.

Ein Dankeschön an Schwester Elif für das Foto und den Anstoß, diesen Artikel zu schreiben!

Was ist Ihre Meinung zu diesem Brauch?

22:32 So ist es. Und wenn einer die Riten Gottes hochhält, so ist dies gewiss aus der Achtsamkeit der Herzen.
22:33 In ihnen habt ihr Nützlichkeiten bis zu einer festgelegten Frist. Dann ist ihr Platz beim altehrwürdigen Haus.
22:34 Und jeder Gemeinschaft gaben wir Praktiken, auf dass sie des Namens Gottes gedenken über das, womit Er sie an Herdenvieh versorgte. Denn euer Gott ist ein einziger Gott. So seid Ihm ergeben und verkünde den Demütigen,
22:35 deren Herzen ehrfürchtig sind, wenn Gottes gedacht wird, und den Standhaften angesichts dessen, was sie trifft, und denen, die den Kontakt aufrechterhalten und von dem abgeben, womit wir sie versorgten.
22:36 Und die Üppigkeit machten wir euch zu Riten Gottes. In ihnen ist für euch etwas Gutes. So gedenkt der Namen Gottes darüber, im aufgereihten Zustand. Und wenn sie auf ihre Seiten niederfielen, so esst davon und speist den Bedürftigen und Bettelnden. Auf diese Weise haben wir sie euch dienstbar gemacht, auf dass ihr danket.
22:37 Weder ihr Fleisch noch ihr Blut erreichen Gott. Ihn erreicht aber eure Achtsamkeit. So hat Er sie euch dienstbar gemacht, damit ihr Gott dafür preist, dass Er euch rechtgeleitet hat. Und verkünde den Gutes Tuenden frohe Botschaft!

Der geschichtlich verfälschte historische Kontext des Koran

Salam!

Nachdem Baycan Yanar die erste Diskussion zwischen ihm und mir in der Facebook-Gruppe „Islam gehört zu Deutschland“ über den historischen Kontext ohne Vorankündigung gelöscht hatte, wobei wir die Grundlage des behaupteten historischen Kontextes erörterten, die auf Ahadith aufbauen, möchte ich die Diskussion hier festhalten, damit sie nicht wieder verloren geht. In der zweiten Diskussionsrunde wurde der zuvor angekündigte Artikel von Baycan Yanar Grund zur weiteren Diskussion. Den Artikel finden Sie hier: http://tavhid.de/?p=1712

Artikel: Weshalb ist es notwendig, den Koran im historischen Kontext zu verstehen?

Die Annahme, der Koran könne ohne Berücksichtigung des Kontextes und die grundlegenden Überlieferungen hierfür verstanden werden, muss in aller Deutlichkeit abgelehnt werden. Die Offenbarungsperiode innerhalb von 23 Jahren spiegelt nämlich das wieder, was damals im 7. Jahrhundert geschah. Muslimischerseits ist das bedeutendste Beispiel für eine historische Sichtweise die Ansicht des 1988 verstorbenen Fazlur Rahman aus Pakistan. So wird er in zahlreichen Werken wie auch von Rachid Benzinewie folgt zitiert: Fazlur Rahman war der Meinung, dass es für das Verstehen des Korans zweckmäßig sei, ihn zuerst bezogen auf seinen chronologischen Kontext zu betrachten. >Die sinnvollste Methode<, wiederholte er oft, >besteht darin, die Entstehung und Entwicklung der koranischen Themen in ihrem historischen Verlauf zu verfolgen.< Diese Sichtweise stützte er auf die Tatsache, dass die frühen Kommentare die Umstände der Offenbarung bewahrt haben, die zeigen, dass der Koran kontinuierlich in Antwort auf bestimmte historische Situationen Sichtweise offenbart wurde” (Islam und Moderne, die Neuen Denker S. 119; Verlag der Weltreligionen). Um den Koran zu verstehen, müsse man ihn im Kontext der Zeit seiner Verkündung verstehen. Somit ist es von Wichtigkeit, zum Koran und den Offenbarungsanlässen zurückzukehren um die allgemein gültigen ethischen Prinzipien zu destillieren, mit anderen Worten, um den Koran und die Essenz in die heutige Zeit zu übertragen, müsse man die historischen Fakten analysieren. Die theologische Strömung in Ankara – Türkei (Ankara Schule) verwendet besonders diese Methodik der historischen Analyse des Korans. Einige möchten wir hier niemanden vorenthalten;

Prof. Ömer Özsoy studierte in Ankara islamische Theologie und ist in Frankfurter Universität eine aktive Lehrkraft. Zu dem Thema positioniert er sich eindeutig. Durch das Ignorieren des Kontextes entgegnet er äußerst kritisch im Buch von Felix Körner, aus der wir einige Zitate besonders hervorheben möchten: Eine solche Auslegungsentwicklung widerspricht den historischen Fakten. Mit einem derartigen Ansatz kann man den Koran alles Mögliche sagen lassen. Fängt man einmal an, den Koran als übergeschichtlichen Text zu lesen, führt das zwangsläufig dazu, ihn über jeden möglichen Gegenstand sprechen zu lassen; und das ist nichts anderes als Entstellung[Erneuerungsprobleme zeitgenössischer Muslime und der Koran] übersetzt von Felix Körner >Alter Text – neuer Kontext; Koranhermeneutik in der Türkei heute< S. 21-23; Herder Verlag.

Der Theologe Prof. Mustafa Öztürk aus Ankara und seine Kritik an die Gegenposition ist in seinen Büchern ebenfalls nicht zu übersehen. So greift er einen Exegeten (Hakki Yilmaz – Tebyinu’l-Kur’an 1/112, 163, 171-172; 9/669-672) der behauptet, dass ein Koranvers sich auf die heutigen Computer bezieht (Meal ve Tefsir Serencamı S. 123). Auch der Moderne und rationalorienterter Theologe Prof. Yasar Nuri Öztürknähert sich methodologisch auf dieselbe Art, in dem er den Vers 26 der Sure 74 aus dem Kontext reißt und behauptet, dass sich dies auf die Computer bezieht (Der Islam im Koran; S. 20; Auflage 42).

Der Leiter des Zentrums für islamische Theologie in Münster Prof. Mouhanad Khorchide formuliert diese Sichtweise in seinen Büchern folgendermaßen: Weil sich jede Koranstelle auf Geschichte bezieht, muss man, um die ursprüngliche Bedeutung von Koranstellen festzustellen, jede Stelle in ihrer eigenen geschichtlichen Situation lesen”(Islam ist Barmherzigkeit S. 162 – Herder Verlag). Für seine Sichtweise führt er im Buch “Scharia” interessante Beispiele herbei, was die Richtung des Gebetes definiert. Hierzu bedient Prof. Khorchid sich an dem Vers 2:115: >Gottes ist der Osten und der Westen. Wo immer ihr euch hinwendet, ist Gott gegenwärtig. Gott ist allumfassend und allwissend<. Laut dem Vers könnte man dahingehend der Ansicht gelangen, dass es irrelevant wäre in welche Richtung man betet. Nimmt man sich jedoch den Offenbarungsanlass des Verses zu Hand, erkennt man unzweideutig, dass es sich um eine Gruppe handelte, die in der Nacht beten wollten, jedoch nicht wussten in welche Richtung.Hier kann man die oben angeführte Regel ohne Weiteres anwenden und verallgemeinern, sodass jeder, der irrtümlicherweise in die falsche Richtung betet, entschuldigt” (Scharia – Der missverstandene Gott S. 97).

Einige Beispiele aus dem Koran wollen wir jedoch als Beweis noch anführen, welches ohne eine Kontextualisierung enorme Probleme bereiten würde. So heißt es in 9:31 & 3:64: “Sie nahmen ihre Schriftgelehrten und ihre Mönche zu Göttern anstelle von Gott, sowie den Messias, den Sohn Marias. Ihnen war doch nur geboten worden, einem Gott zu dienen..”

Da die Leute diesen Vers nicht ganz verstanden haben, erläuterte der Prophet Muhammad ihnen diese Botschaft wie folgt: Die Juden und Christen haben ihre Gelehrten und Mönche nicht direkt angebetet, vielmehr haben sie sich das erlaubt, was ihre Gelehrten ihnen erlaubt haben und sich das verboten, was ihre Gelehrten ihnen verboten haben”(Tirmidhi Hadith Nr. 3039; Taberi Tefsir 4/283, Hisar Verlag; Kurtubi Tefsir 8/198, Buruc Verlag; Ibn Kathir Tafsir 4/438, Kahraman Verlag).

Diese koranische Kritik richtet sich an einige Juden und Christen, die ihre Gelehrten unhinterfragt gehorcht haben. Differenziert man die Essenz aus dem Kontext, so sind heute damit nicht nur die Schriftbesitzer gemeint, sondern auch die Muslime.

Ein weiterer Punkt betrifft die Schutzmonate, welches in Kriegszuständen verbietet zu kämpfen. Für die Koraniten, die die Hadithe und den Kontext für uninteressant deklarieren (weil der Offenbarungsanlass ebenfalls an Überlieferungen gebunden ist), könnte es schwierig werden herauszufinden, um welche Schutzmonate es sich handeln könnte. Diese stehen nämlich nicht im Koran. Laut Ebu Cafer Muhammed b. Cerir et-Taberi (gest. 923) waren diese in der vorislamischen Zeit der Cahilya bereits bekannt gewesen, da die Araber generell in solchen Zeiten keine Kriege führten (Taberi Tefsir 4/ 292).

Wenn der Koran die Angabe macht, dass die Juden Esra (Uzayr) als Sohn Gottes bezeichnen, könnte man meinen, dass die Juden heute noch daran glauben. Die meisten Juden die man heute befragen würde, so hätte die überwiegende Mehrheit dieses bestritten, da ein derartiger Glaube in der jüdischen Theologie gar keine Rolle spielt. Dies gibt uns nur zu erkennen, dass es innerhalb dieser Religion zu bestimmten Epochen und an gewissen Orten unterschiedliche theologische Ansichten gab. Im Tafsir von Taberi (gest. 923) wird ebenfalls erwähnt, dass es sich nur um eine kleine Gruppe der Juden handelte(Taberi Tefsir 4/282 & Mehmet Paçacı; Der Koran und ich – wie geschichtlich sind wir? übersetzt von Felix Körner >Alter Text – neuer Kontext; Koranhermeneutik in der Türkei heute< S. 41-43; Herder Verlag).

Dennoch wird es immer nötig sein, den Koran und die authentische Prophetentradition vor dem Hintergrund des Kontextes, in dem sie entstanden sind, zu analysieren und zu interpretieren. Die Botschaft des Islams hätte also keinerlei Wirkung gehabt, wenn sie die Menschen, die sie zuerst empfingen, nicht hätten verstehen können. Und auch sie müssen diese Botschaft in ihrem sozialen und politischen Kontext verstanden haben, und durch ihr Verständnis und dessen Umsetzung veränderte sich ihre Gesellschaft. Während der Text also historisch, obgleich in seinem Ursprung göttlich ist, ist seine Interpretation absolut menschlich” (Nasr Hamid Abu Zaid; Gottes Menschenwort S. 89-90).

Quelle: tavhid.de

 

Dem Artikel wurde nachträglich ein Absatz hinzugefügt, welcher aber in der Diskussion erwähnt wird.

Weitere Artikel, die Sie hierzu kennen sollten:

Zuverlässigkeit der Ahadith
Koranischer oder sunnitischer Mohammed?
Allein Gott lehrt und erklärt den Koran
Ein Dutzend Gründe, dem Koran alleine zu folgen
– Hadith: Die Frage nach der Authentizität
Al Shafi’is Koranexegese
Nasikh-Mansoukh: Die Katastrophe der Abrogation
Die Wahrheit des Koran


KEREM ADIGÜZEL:

Salam Bruder Baycan, ich habe einige Kritikpunkte für den Text:

1. ZITAT:

„Diese Sichtweise stützte er auf die Tatsache, dass die frühen Kommentare die Umstände der Offenbarung bewahrt haben“

Das ist eine Behauptung, die keinerlei objektive Überprüfung zulässt. Entweder glauben wir, dass die Kommentatoren XY diese bewahrt haben oder nicht, indem wir sie als Autoritäten annehmen oder nicht. Wenn wir diese hinterfragen, so stellen sich gewisse Fragen:

a) Wie konnten die Kommentatoren in der Lage sein, 50-100 Jahre vorher vergangene Umstände einwandfrei zu dokumentieren, wo nachweislich bereits unglaublich viele Lügen im Umlauf waren? Die einzige Art und Weise der Überlieferung dieser Art sind die Ahâdîth, welche wiederum auf zweifelhafter Methodik aufbauen.

Wie gesagt, ich diskutiere hier NICHT den Inhalt dieser Offenbarungsanlässe, sondern ihre Authentizität wird insgesamt angezweifelt und sollte vorerst zweifelsfrei begründet werden.

b) Weshalb sollte Gott im Koran sagen, dass der Koran für alle Welten gesandt wurde, also die koranische Botschaft doch überzeitlich beabsichtigt ist laut Eigenaussage, wenn der Koran nur in seinem historischen Kontext zu berücksichtigen sei? (vgl. Vers 21:107, 25:1)

c) Gibt es einen Koranvers, der uns befiehlt, den historischen Kontext zu berücksichtigen? Oder ist es nicht eher so, dass Gott uns all diese Geschichten zukommen lässt, damit wir (in allen Zeiten der Menschheitsgeschichte) eine Lehre und eine Moral daraus ziehen können (12:3, 12:111). Bitte beachte die arabische Ausdrucksweise aus 12:111, wo es heißt „mâ kâna Hadîthan yuftara“ = er (der Koran) war kein erdichteter/erfundener (iftiralar dolu) Hadith.

d) In 15:9 verspricht Gott, das Buch (dhikr) zu schützen, aber nicht die „Offenbarungsanlässe“ – oder willst du etwa behaupten, die asbâb an-nuzul seien auch wahy?

Alles in allem verwirft der Koran selbst, dass man ihn in eine bestimmte zeitliche Epoche reinzwingen will.

2. ZITAT:

„Mit einem derartigen Ansatz kann man den Koran alles Mögliche sagen lassen.“

Also bei solchen Sätzen frage ich mich schon, inwieweit man sich des Inhaltes solcher Aussagen bewusst ist, wenn man doch gleichzeitig eine Hadith-Tradition verteidigt, in der alles Mögliche bereits interpretiert wurde, sogar die Geschichte, dass eine Ziege den Koranvers aufgefressen habe, in der die Steinigung enthalten sei. Und durch Idschma haben die Ulema es geschafft, Steinigung als eine sunnitische Rechtspraxis anzunehmen. Solches Verhalten kritisiert der Koran selbst scharf und deutlich:

68:36-38 Was ist mit euch, wie urteilt ihr? Oder habt ihr eine Schrift, in der ihr studiert, worin ihr findet, was ihr euch wünscht?

Aus dem Koran allein kann man keine Steinigung, keine Todesstrafe (haddu-r-ridda) für Apostate etc. ableiten. Aber mit den Büchern, aus denen man diese besagten „Offenbarungsanlässe“ bezieht, geht das eben schon.

 

3. ZITAT:

„Auch der Moderne und rationalorienterter Theologe Prof. Yasar Nuri Öztürk nähert sich methodologisch auf dieselbe Art, in dem er den Vers 26 der Sure 74 aus dem Kontext reißt und behauptet, […]“

Hier wird lediglich das Ergebnis kritisiert, weil es einem zu Beginn unscheinbar erscheinen mag, darin Computer zu sehen. Jedoch wird nicht begründet, weshalb diese Vorgehensweise falsch sein sollte. Das entsprechende Wort „saqar“ kommt viermal im Koran vor und in den Wörterbüchern wird es auch als Fremdwort behandelt, insofern ist es eine Frage der Interpretation.

Wieso sollten wir eher den erfundenen Geschichten (hadith yuftara) glauben, nur aus Angst, dass der Koran uns auch Botschaften für die heutige, unsrige Zeit gesendet hat?

Ich ziehe es vor, den Koran eher als lebendigen Organismus zu verstehen als knöchrigen verstaubten Text, aus dem wir mühsam irgendwelche ethische Prinzipien „destillieren“ müssen, wobei hier auch wieder nach eigenem Gutdünken alles mögliche herausgezogen wird. Wieso haben wir sonst eine ganze Palette an Interpretatoren von Qaradawi bis Tariq Ramadan, von Qutb bis Khalifa etc.?

Das Argument zieht also nicht.

4. Das Beispiel mit Vers 2:115 ist nicht ausreichend, da im Gesamtkontext des Koran die Sachlage wieder deutlich wird, dass man sich der masjidul-haram zuzuwenden hat. Bitte recherchiere selbst Baycan, ob dies im Koran steht oder nicht.

5. Ebenso ist das Beispiel mit 9:31 schwach, weil eine kontextuelle Analyse Aufschluss über den koranischen Gebrauch dieser Wörter gibt. Zudem gibt es auch noch Vers 3:113. Dies ist auch der gleiche Sachverhalt in Bezug auf „Uzayr als der Sohn Gottes“.

6. Zitat: „Für die Koraniten, die die Hadithe und den Kontext für uninteressant deklarieren (weil der Offenbarungsanlass ebenfalls an Überlieferungen gebunden ist), könnte es schwierig werden herauszufinden, um welche Schutzmonate es sich handeln könnte. “

Recherchiere bitte zuerst, bevor du eine Aussage machst. Dann hättest Du dir diese Peinlichkeit ersparen können.

 


TIMUR TEZKAN: Super Kerem, bis auf deinen vierten Punkt, hast du meine volle Zustimmung. Unsere Differenz bei diesem Punkt tut innerhalb des Themas hier jedoch nichts zur Sache (dennoch der kurze Hinweis: Ich sehe nicht, dass das Hinwenden zur masjidul-haram im Kontext von as-salat steht). Frieden!


BAYCAN YANAR:

Salam bruder Kerem.. bin jetzt auf der Arbeit bis 23 uhr.. heut abend werde ich noch einiges hinzufügen weil mir da noch paar wichtige Sachen eingefallen sind..

Das Problem besteht auch darin, dass die Koraniten dieselbe Methodik wie die Salafisten im Bezug auf den Koran verwenden. Beide zerreißen die Verse aus dem Kontext. Die salafisten nehmen die Verse heraus, die den Heiligen Krieg behandeln (laut ihrer Sicht) und legitimieren ihr fehlverhalten. Sie Manipulieren den Koran mit dieser Vorgehensweise. Ich denke somit wäre auch deine Frage bzgl. des Computers auch beantwortet. Zu dem ist es auch wichtig, die Verse in ihrer Chronologischen Reihenfolge ordnen zu können. Wenn wir die mekkanischen Verse nicht von den Medinensischen unterscheiden können, entstehen dadurch auch Probleme. Auch wenn es bei einigen unterschiedliche ansichten existieren, ist man sich doch bei den meisten darüber einig.

Der 2 Kalif Ummar ibn al-khattap erwähnte von einem Steinigungsvers, er sagte “Es gab einen Steinigungsvers, doch als Aischa diesen Vers beiseite lag und wegging, kam eine Ziege und fraß sie auf” (Abdullah ibn Mes’ud & ibn Kuteybe). Bei diesem Hadith kann es sich nur um eine Fälschung handeln, dass von den Omayyaden verbreitet wurde. Würde man so etwas äußern, würde man gleichzeitig behaupten, dass Gott unfähig war, die einzelnen Verse aufzubewahren. Aber Gott offenbarte “Wir haben die Ermahnung herabgesandt, und Wir werden ihr Hüter sein”. (15:9)

Was die Exegeten betrifft, so schau mal bitte auf die konsens der alten Kommentatoren. Von ibn Ishak, oder Muqatil (gest. 765) bis bis Taberi (gest. 923)


KEREM ADIGÜZEL:
Also komm bitte Baycan, wenn du den Vergleich mit Salafisten heranziehst, dann hast du dich nicht mal im Ansatz mit dieser Denkweise, dass der Koran ausreicht, auseinandergesetzt.

Wenn ich auf dieses Spiel eingehe, dann kann ich dir dasselbe vorwerfen, dass du im Koran nicht genannte und von Gott nicht autorisierte Namen als Autoritäten anführst, die ihrerseits wiederum die im Koran verwendeten Worte aus ihrem koranischen Kontext herausreißen.

Beispiele aus dem klassischen Fiqh:
– `urf (örf)
– `ada (adet)
– sulh

Bitte schau mal den Unterschied an zwischen dem koranischen Gebrauch und dem Fiqh-Verständnis dieser Wörter. Die Menschen haben daraus neue Bedeutungsebenen geschaffen, die so im Koran nicht vorkommen. Wer reißt hier also Wörter aus ihrem bereits gegebenen Kontext heraus? Was das Ergebnis des Fiqh ist, ist offensichtlich: alles mögliche wird im Namen Gottes verboten und erlaubt. Gott verurteilt dies schärfstens in 42:21.

Ich spiele dann das Spiel mal weiter mit: Jetzt kommt also nach 1400 Jahren ein Baycan, der meint, es besser gewusst zu haben als die ältesten Gelehrten vor ihm, welche die beste Ausbildung in Fiqh und Koranwissenschaften genossen haben, und meint, dieser und jener Hadith sei erfunden, nur weil es nicht mehr in seinen „modernen“ Lebensstil passt. Vergiss nicht, dass alle vier Rechtsschulen dies als Idschma akzeptiert haben. Diese kannten den Vers 15:9 auch und haben auch erfundene Offenbarungsanlässe hierzu zitiert. Weitere Beispiele lassen sich zuhauf finden, von Todesstrafe bis hin zu Sklaverei. All dies wird aber mit dem Koran allein nicht begründet, sondern erst durch irgendwelche dubiosen Quellen, die als unfehlbare und zeitlose Quellen neben dem Koran unangetastet geblieben sind. Sie werden dem Koran beigesellt.

Bitte komm mir nicht mit Wörtern wie „Konsens“, weil es diesen Konsens de facto nicht gibt. Sonst schieben wir nur Gelehrtennamen hin und her, die sich gegenseitig widersprochen haben.

Und wenn du schon Umar ibn al Khattab zitierst, so suche doch nach dem Hadith, der als sahih gilt, wo er sagt: `andina kitabu Allah, hasbuna = wir haben Gottes Buch, das reicht uns!

Wir können dieses „Hin und Her“-Spielchen gerne spielen und Hadith auf Hadith zitieren. Gemäß dem Muhaddith (Hadith-Gelehrter) XY ist dieser Hadith sahih aber gemäß dem Muhaddith XY2 ist der sogar mawdu‘ (erfunden). Eine endlose Debatte über die angeblichen Primärquellen, aus denen eine „zweifelsfreie“ Historie abgeleitet werden sollte, aber nicht abgeleitet werden kann. Und genau darum geht es! Darauf hast du keine Antwort geliefert.

Den Kontext der Koranverse zu überspringen und sich auf Ahadith zu verlassen, die selber erst viel später zur Anwendung kamen und erfunden sind, wird dem Koran nicht gerecht, der kein erfundener Hadith (Hadith yuftara) ist.

Wer ist es also, der bestimmt, dass ein Hadith XY dazu gehört oder nicht? Ist es Baycan, ist es Kerem, ist es Bayhaqi, ist es Bukhary, ist es Shafi’i?

Oder ich stelle die Frage mal so: Welche Autorität wollen wir neben Gott akzeptieren?

La ilaha illa Allah.


BAYCAN YANAR:
Ich glaube du hast den Text nicht verstanden.. Die Frage zu der Autorität beantwortet sich an Beispiel von 9:31 im Artikel, auf die ich eingehe.. Wäre mir lieber wenn du „Exeget“ statt „Autorität“ sagst.. Ich habe das spiel „Nur Koran“ sehr gut verstanden. Dann nenn mir den methodologischen Unterschied zwischen Salafisten und Koraniten.

Ummars „der Koran reicht uns“ hat einen ganz anderen Kontext.. “ und siehe da, du akzeptierst eine Überlieferung Ummars?

 


KEREM ADIGÜZEL:
Erstens: Du behauptest in deinem Text, dass man den historischen Kontext berücksichtigen MUSS (und nicht sollte/darf/kann), da man ansonsten jedwede Art von Interpretation betreiben könne. Bitte korrigiere mich, wenn dem so nicht ist.
Jedoch ist es so, dass man selbst mit dem „historischen Kontext“ jedwede Art von Interpretation betrieben hat und betreiben kann, was ich bereits mit Beispielen anführte. Insofern ist dein Argument haltlos.

Zweitens werden die Exegeten/Autoritäten hinterfragt, auf die du dich beziehst und die du selbst nicht hinterfragst oder nicht hinterfragen willst (weshalb ich von Autoritäten spreche). Wieso sollten wir diesen Exegeten/Autoritäten Glauben schenken? Wer sagt nicht, dass diese für ihre Interpretationszwecke die Offenbarungsanlässe so hingebogen haben, dass es passt? Es muss ja nicht einmal böswillige Absicht vorhanden sein, es kann auch aus kulturellem, politischem oder soziologischem Drang passiert sein – weil sie einfach Subjekte ihrer Umgebung waren.

Drittens argumentiere ich, dass wir diese Offenbarungsanlässe nicht benötigen, um zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen.

Viertens: Umar’s Hadith akzeptiere ich nicht, ich verwende ihn nur, um aufzuzeigen, wie widersprüchlich eure Quellen sind. Wenn du den gesamten Hadith kennen würdest, würdest du große Augen machen, was dort geschehen sein soll. Ich hab noch eine Menge, mit denen du dich dann herumschlagen darfst.

Ich wiederhole die Frage noch einmal, die du stets umgehst:

Wieso sollten wir den außerkoranischen Quellen Glauben schenken, wenn Gott der Erhabene nicht von ihnen spricht und nicht verspricht, diese zu schützen wie Sein Buch (15:9) – insbesondere dann, wenn wir sehen können, wie zahlreich die erfundenen Lügen sind, die dem Propheten untergejubelt wurden?

Der Koran hat 6346 Verse (inkl. Bismillah). Wie viele Mutawatir Ahadith gibt es? Kannst du mir eine Zahl nennen? Wer hat diese abgesegnet? Wo finden wir sie? Wieso gibt es keinen Konsens hierüber?

Ich greife nicht deine Idee an, sondern die Authentizität deiner Quellen/Autoritäten. Gott teilt uns im Koran mit, dass Er alles, was er als für uns notwendig erachtete, in den Koran gelegt hat.

Wenn ein „historischer Kontext“ notwendig gewesen wäre, wäre dieser im Koran mitzitiert worden.

 


BAYCAN YANAR:

Ich kenne den Kontext der Überlieferung von Ummar diesbzgl. erstens, und zweitens, wie und weshalb du etwas verwendest das spielt für mich keine Rolle. Du verwendest ihn. Wenn du auch wüsstest, welchen Kontext ich bzgl. dieser Überlieferung vertrete, so ist das kein Widerspruch, was du da behauptest. Was Gott geschützt hat oder nicht, ändert nichts der Tatsache dass der koran einen historischen Kontext besitzt.

Frühe Quellen zu analysieren bedeutet nicht, etwas unhinterfragt zu befürworten..


KEREM ADIGÜZEL:
Es steht jedem frei selbst zu irgendwelchen Schlüssen zu gelangen. Dann können wir auch darüber streiten und auch über andere, wo der Prophet oder seine Gefährten selbst die Niederschrift der Ahadith verbieten. Und natürlich haben deine Autoritäten/Exegeten auch hierzu weitere Geschichten und widersprüchliche Aussagen erfunden (Hadith yuftara = iftira edilmiş hadis) und diese dann als „historischen Kontext“ verkauft. Du begründest Ahadith also mit Ahadith. Philosophisch und logisch gesehen sehr wertvoll natürlich!

Im Endeffekt bleibt also eines übrig: die Deutung des „historischen Kontexts“ ist selbst nicht eindeutig, somit deutet jeder nach eigenem Gutdünken, statt auf den Koran zu hören:

 

7:3 Folgt dem, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt worden ist, und folgt nicht an seiner Stelle Verbündeten. Wie wenig gedenkt ihr dies!

 

Das Wort ‚awliyaa‘ (Verbündete) bedeutet im Koran jedwede Autorität, die eine Souveränität über andere Menschen besitzt. Und wenn man jetzt denkt, wir würden diesen Vers als erste so interpretieren, so sei an folgendes erinnert: Ibn Hazm und Ibn Taymiyyah dachten auch, dass mit diesem Wort awliya‘ religiöse Autoritäten gemeint seien, wir also niemandem außer Gott und seinem Gesandten eine legale oder religiöse Autorität geben dürfen in religiösen Angelegenheiten. Bukhary, Bayhaqi, Shafi’i etc. können also nicht als religiös-zuverlässige Quellen gelten.

Im Endeffekt ist das Wort des Gesandten (69:40), nämlich der Koran, was auch das Wort Gottes ist (69:43), die einzige Quelle. Es ist kein erdichteter Hadith (12:111) und kein leeres Gerede (lahw al-hadith, 31:6).

25:33 Und sie bringen dir kein Beispiel, ohne dass Wir dir die Wahrheit und den besten Tafsir brächten.

Bemerke, dass ich das arabische Wort „tafsir“ (in der Transliteration) bewusst so drin gelassen habe. Dies sollte dich zum Nachdenken anregen, bevor du wieder zu deinen Mufassirûn flüchtest, die dir vorschreiben, wie du über die Geschichte zu denken hast.

Denke auch einmal darüber nach, dass du mir mit ausserkoranischen Quellen antwortest, während ich mit Koranversen argumentiere.

 


ECEVIT POLAT:
Selam alaikum zusammen. Der Koran enthält zum historischen Erbe nicht alle Details parat, was auch nicht seine Intention ist. Man denke an die Prototypen der Bibel, die unter anderem nur an diversen Stellen des Koran angeschnitten werden. So gibt es auch Koranverse, die nur dann annähernd erschlossen werden können, wenn der biblische Hintergrund dabei erhellt wird. Denn die erst Adressaten kannten zum grössten Teil, zumindest die geschichtlichen Hintergründe der jeweiligen Geschichten im Koran. Der heutige Leser, der nur eine Koranausgabe zur Hand hat, wird nicht (verständlicherweise) wissen können, warum ausgerechnet diese besondere Geschichten im Koran erwähnt werden. In Sure 2 Vers 259 wird von einer unbekannten Person berichtet, den Gott sterben ließ und nach hundert Jahren wieder lebendig machte, um so Seine Macht ihm zu demonstrieren. So heißt es im Vers: ”Oder (hast du auch nicht über) den (nachgedacht), der an einer Stadt vorüberkam, die wüst in Trümmern lag? Da sagte er: “”Oh, wie soll Gott dieser nach ihrer Zerstörung wieder Leben geben?”“ Und Gott ließ ihn für hundert Jahre tot sein. Dann erweckte Er ihn wieder. Er sprach: “”Wie lange hast du verharrt?”“ Er sagte: “”Ich verharrte einen Tag oder den Teil eines Tages.”“ Da sprach Er: “”Nein du verharrtest einhundert Jahre. Nun betrachte deine Speise und deinen Trank. Sie sind nicht verdorben. Und betrachte deinen Esel. Wir machen dich damit zu einem Zeichen für die Menschen. Und betrachte die Knochen, wie Wir sie zusammensetzen und dann mit Fleisch bekleiden.”“ Und als ihm dies klar gemacht worden war, sagte er: “Ich weiß, dass Gott Macht hat über alle Dinge“ (Koran 2:259).

Um diesen Vers in seinen geschichtlichen Kontext richtig einordnen zu können, ist es unabdingbar, die Bibel als Erläuterung hinzuzuziehen, um sich ein klares Gesamtbild machen zu können. Denn im Koran wird nicht erläutert, um wen es in dem Vers hauptsächlich geht. Vor allem aber auch, weshalb Gott diese angesprochene Person hundert Jahre Tod ließ und dann wieder erweckte?

Prof. Mustafa Öztürk erläutert den obigen Vers in seiner Koranübersetzung dahingehend, dass es sich bei der Person nicht wie von vielen muslimischen Koranexegeten angenommen um Uzair handelt, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit um den biblischen Propheten Hesekiel. Tatsächlich ergibt sich erst nach der Lektüre in der Bibel im Kapitel „Hesekiel“ erst ein Gesamtbild zum Hintergrund zum Koranvers 2:259. Hernach wird die Auferstehung von Hesekiel nach hundert Jahren als Symbol für die Befreiung und die erneute Wiedergeburt der Kinder Israels aus Babylon von Mustafa Öztürk gedeutet, weshalb er auch in seiner Fußnote die biblische Quelle angibt: „Hesekiel 37/1-14“ (siehe: Kur´an-i Kerim Meali, S. 62).

So wird in Hesekiel 37/1-14 unter der Überschrift „Israel, das Totenfeld, wird durch Gottes Odem lebendig“ die folgende Geschichte erzählt: „Und des HERRN Wort kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich auf ein weites Feld, das voller Totengebeine lag. Und er führte mich allenthalben dadurch. Und siehe, des Gebeins lag sehr viel auf dem Feld; und siehe, sie waren sehr verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du auch, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, HERR, das weißt du wohl. Und er sprach zu mir: Weissage von diesen Gebeinen und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht der Herr, HERR von diesen Gebeinen: Siehe, ich will einen Odem in euch bringen, dass ihr sollt lebendig werden. Ich will euch Adern geben und Fleisch lassen über euch wachsen und euch mit Haut überziehen und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war; und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Adern und Fleisch darauf, und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Winde; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Wind: So spricht der Herr, HERR: Wind komm herzu aus den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein großes Heer.

Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns .Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr, HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und will euch, mein Volk, aus denselben herausholen und euch ins Land Israel bringen; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber geöffnet und euch, mein Volk, aus denselben gebracht habe. Und ich will meinen Geist in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.

Als ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit des biblischen Kommentars zum Verständnis des Korans, kann der Vers 72-73 der Sure 2 aufgeführt werden. In dem Koranvers werden die Juden an einem konkreten historischen Fall erinnert, dessen Geschichte tief im Bewusstsein des jüdischen Volkes in Medina vorhanden war. Gott verlangte von Ihnen, eine Kuh zu schlachten, um so den Mörder zu verifizieren (siehe Koran 2: 67-73). Jedoch wird im Koran nicht explizit erwähnt, weshalb eine Kuh geschlachtet werden soll. Im Koran heißt es folgendermaßen dazu: „Und als ihr jemanden getötet und darüber untereinander gestritten hattet, da sollte Gott ans Licht bringen, was ihr verborgen hieltet. „“Da sagten Wir: “”Berührt ihn mit einem Stück von ihr (der Kuh)!”“ So bringt Gott die Toten wieder zum Leben und zeigt euch Seine Zeichen; vielleicht werdet ihr es begreifen.” (Koran 2:72-73).

Im fünften Buch Mose (Deuteronomium) unter der Überschrift „Sühnung eines Mordes von unbekannter Hand“ wird der Hintergrund des koranischen Verses “Und als ihr jemanden getötet und darüber untereinander gestritten hattet“ ausführlicher erläutert. So schreibt die Bibel dazu:

„Wenn man einen Erschlagenen findet in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird, es einzunehmen, und er liegt auf freiem Felde und man weiß nicht, wer ihn erschlagen hat, so sollen deine Ältesten und Richter hinausgehen und den Weg abmessen von dem Erschlagenen bis zu den umliegenden Städten. Welche Stadt am nächsten liegt, deren Älteste sollen eine junge Kuh nehmen, mit der man noch nicht gearbeitet und die noch nicht am Joch gezogen hat, und sollen sie hinabführen in einen Talgrund, der weder bearbeitet noch besät ist, und dort im Talgrund ihr das Genick brechen. Und die Priester, die Leviten, sollen herzutreten, denn der HERR, dein Gott, hat sie erwählt, dass sie ihm dienen und in seinem Namen segnen, und nach ihrem Urteil sollen alle Sachen und alle Schäden gerichtet werden. Und alle Ältesten der Stadt, die dem Erschlagenen am nächsten liegen, sollen ihre Hände waschen über der jungen Kuh, der im Talgrund das Genick gebrochen ist. Und sie sollen anheben und sagen: Unsere Hände haben dies Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben’s nicht gesehen. Entsühne dein Volk Israel, das du, der HERR, erlöst hast; lege nicht das unschuldig vergossene Blut auf dein Volk Israel! So wird für sie die Blutschuld gesühnt sein. So sollst du das unschuldig vergossene Blut aus deiner Mitte wegtun, damit du handelst, wie es recht ist vor den Augen des HERRN“ (Deuteronomium Kap. 21, 1-9).

 


KEREM ADIGÜZEL:
Salam Bruder Ecevit,

1. ZITAT:

„So gibt es auch Koranverse, die nur dann annähernd erschlossen werden können, wenn der biblische Hintergrund dabei erhellt wird.“

Hierbei wird im Koran aber deutlich gemacht, wann wir nachlesen sollten. Ein Beispiel hierzu:

 

48:29 … Das ist ihre Beschreibung in der Tora. Beschrieben werden sie im Evangelium wie ein Saatfeld, das …

 

Der Koran zitiert die Schriften, sodass wir nachlesen können, wenn wir wollen. Es gibt auch insbesondere Koranverse, die solches von uns verlangen, dass wir die früheren Schriften konsultieren oder die fragen, die diese Schriften lesen:

 

10:94 Wenn du über das, was Wir zu dir hinabgesandt haben, im Zweifel bist, dann frag diejenigen, die (bereits) vor dir das Buch lesen. Wahrlich, zu dir ist die Wahrheit von deinem Herrn gekommen, so sei nicht einer von den Zweiflern.

16:43 Und wir haben vor dir nur Männer auftreten lassen, denen wir (Offenbarungen) eingaben. Fragt doch die Leute der Ermahnung (Dhikr), wenn ihr es nicht wisst! (Ähnlicher Vers: 21:7)

 

Der Unterschied hierbei ist jedoch, dass es sich um Schriften von Gott handelt. Thora wie auch das Evangelium sind von Gott. Sind die Ahadith von Gott?

 

2. ZITAT:

“ In Sure 2 Vers 259 wird von einer unbekannten Person berichtet, den Gott sterben ließ und nach hundert Jahren wieder lebendig machte, um so Seine Macht ihm zu demonstrieren.“

Ist es nicht interessant, dass du den Sinn der Geschichte bereits angegeben hast. Was brauchen wir dann noch den „Namen“ dieser Person, was fügt es dem Sinn und Inhalt des Verses noch weitere Informationen hinzu, ohne die wir eben den Sinn des Verses nicht erschließen könnten? Zumal sich die Exegeten eben auch nicht einig waren, wie du es geschrieben hattest. Man kann die biblische Geschichte als Grundlage nehmen – oder eben auch nicht. Es gibt keinen Zwang hierzu.

 

3. ZITAT:

“ In dem Koranvers werden die Juden an einem konkreten historischen Fall erinnert, dessen Geschichte tief im Bewusstsein des jüdischen Volkes in Medina vorhanden war. Gott verlangte von Ihnen, eine Kuh zu schlachten, um so den Mörder zu verifizieren (siehe Koran 2: 67-73). „

Diese Geschichte kann auch völlig losgelöst von jeglichem Kontext betrachtet werden. Die Geschichte ergibt auch für sich selbst Sinn, wenn berücksichtigt wird, dass die Sura mit „al baqara“ (die Kuh) betitelt wird und diese Sura selbst etliche Gesetze beinhaltet, die wir einzuhalten haben. Statt dass wir, wie die Juden, nach weiteren zahllosen Einzelheiten fragen, die wir erst in den Ahadith suchen müssen, sollten wir einfach Gottes Befehl ausführen und Gottes Worte achten und einhalten. Kein Bedarf an irgendeinem dubiosen historischen Kontext, der weitere Inhalte einführt, die im Koran nicht erwähnt wurden.

Zumal hier auch noch 2:67-71 mit den Versen 2:72-73 in Verbindung gebracht werden, was so auch nicht sein muss. Es gibt keine Notwendigkeit hierfür. Der Vers 2:73 kann sprachlich gesehen auch figurativ verstanden werden und wird dann so zu einer universellen Lehre ohne einen benötigten historischen Kontext. Falls sich jemand hierfür interessiert, kann ich das auch näher erläutern – vom sprachlichen Aspekt her.


ERDİNÇ YAVUZ:

Slm Ecevit Polat

Nur hierzu:

„So gibt es auch Koranverse, die nur dann annähernd erschlossen werden können, wenn der biblische Hintergrund dabei erhellt wird.“

Der Koran hat alle nötigen Details zu jeder Geschichte, um ihren Sinn zu erschließen, gegeben: Die Details, die du nennst als Beispiele, sind nicht für die Erschließung des Sinns von Nöten, die uns der Koran geben will und nur darauf kommt es primär an. Außerdem sind Details aus Thora oder Evangelium nicht immer beliebt, zB wenn es um die genaue Sünde Davids geht, die im Koran nicht näher beschrieben wird aber in der Thora Eingang findet. Viele Muslime akzeptieren dieses Detail nicht weil es da um Mord geht damit David dessen Frau heiraten konnte.

Natürlich kann man sich Details anschauen aber man darf nicht sagen, dass der Koran alleine für den Sinn nicht ausreiche. Im Umkehrschluss könnte ich nach viel mehr Details fragen das Ende wäre offen und weit. Auf die Verse, die dem Koran Deutlichkeit, Vollständigkeit und ausführliche Darlegung attestieren wurde auch nicht eingegangen, die dann so auch im Widerspruch stehen würden.


BAYCAN YANAR:

Hab den artikel etwas ergänzt:

„Dieselbe methodologische Herangehensweise, Koranverse aus dem jeweiligen Kontext zu reißen sieht man auch bei den radikal islamischen Salafisten. Diese entnehmen Passagen, die die Kriegszustände erläutern um den Heiligen Krieg zu rechtfertigen. Dr. Murad Wilfried Hofmanns Position für dieses Fehlverhalten ist in seinem Buch „Islam als Alternative“ nicht zu übersehen: „Diese Methode, einzelne Koranverse ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang und ihre Offenbarungsgeschichte herauszulösen, um so eine islamische Pflicht zum Angriffskrieg zu beweisen, mutet so an, als würde man aus dem Jesus – Zitat >>Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert<< (Math. 10,34) die Kriegslüsternheit des Christentums herleiten“ (Islam als Alternative S. 192).“


KEREM ADIGÜZEL:

Baycan, du hast dich damit endgültig ins Aus geschossen bei mir, weil du nicht mal im Stande bist recherchierbare Unterschiede festzustellen, also nicht einmal Äpfel von Birnen unterscheiden kannst, weil gerade zu diesem Thema ausführliche Artikel geschrieben wurden. Mir bleibt nichts mehr übrig als dir Frieden zu wünschen.


BAYCAN YANAR:

Die Diskussion ist für mich beendet, weil dein Gegenargument zu 95% aus Koranzitaten besteht. Dies ist für mich jedoch kein Gegenargument, weil du einen Vers sagen lässt, was er nicht sagt in dem du ihn aus dem historischen Kontext reißt. Mein Artikel hat jedoch deinen anderen Argument, was 5% der nichtkoranischen Zitaten entspricht beantwortet wie auch meine Kommentare oben.. Danke für deine Aufmerksamkeit

Salamu aleikum


TIMUR TEZKAN:

Zitat Baycan: „Die Diskussion ist für mich beendet, weil dein Gegenargument zu 95% aus Koranzitaten besteht.“

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, was du Kerem hier vorwirfst.

„[…] Sag: Habt ihr (irgendein) Wissen, das ihr uns vorbringen könnt? Ihr folgt ja nur Mutmaßungen, und ihr stellt nur Schätzungen an. Sag: Gott hat das schlüssige Argument. Wenn Er gewollt hätte, hätte Er euch fürwahr allesamt rechtgeleitet.“ (aus 6:148-149)

Lass dir das mal durch den Kopf gehen, Baycan. Salamun ‚alayka!

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 5 – Sklaverei im Islam? Ein Widerspruch der Beigesellung

Ich bemerke immer wieder, dass viele Gottergebene (Muslime) verwirrt sind, was Sklaverei in der Gottergebenheit (Islām) und Sklavenhaltung betrifft. Obwohl ihr gesunder Menschenverstand sie überzeugt, Sklaverei abzulehnen, denken sie aufgrund äußerer Einflüsse, dass die Sklaverei in der Lesung nicht nur nicht abgeschafft, sondern geduldet werde. Solch eine Schlussfolgerung kann nicht weiter entfernt von der Wahrheit sein.

 

90:8-18 Machten Wir ihm nicht zwei Augen und eine Zunge und Lippen und wiesen ihn auf beide Möglichkeiten hin? Doch das Hindernis konnte er nicht überwinden. Und was wusstest du über das Hindernis? Es ist einen Sklaven zu erlösen oder eine Speisung an einem Tag der Hungersnot einer nahen Waise oder eines am Boden liegenden Bedürftigen. Dann ist er von denen, die geglaubt haben und sich gegenseitig zur Geduld und auch zur Barmherzigkeit anspornen. Das sind die Angehörigen der Rechten!

 

Der Einfluss der Tradition

Wenn klassische Gelehrte zitiert werden, muss hierbei betont werden, dass die Mehrheit unter ihnen Sklaverei als etwas „Normales“ und „Erlaubtes“ ansahen. Dies liegt darin begründet, dass ihre Definitionen von Freiheit und Menschlichkeit anders waren als unsere heutigen Vorstellungen. Das Wichtigste hierbei ist aber, dass es der Anti-Sklaverei Haltung der Lesung widerspricht. Es war eine Angelegenheit, die den Absichten und Zielen der Offenbarung (maqāsid as-samāʾ / maqāsid al-qurʾān) gegenüber ignorant und rückschrittlich war.

Darüber hinaus lässt sich durch die traditionelle Darstellung der Geschichte ein unglaublich beleidigendes Bild des Propheten zeichnen, denn zusammengefasst wäre Mohammeds Rolle in der Sklaverei, durch traditionelle, der Lesung widersprechende Quellen wie den Ḥadīṯ-Büchern zum Beispiel von Buchārī belegt, wie folgt: Er hatte Sklaven in seiner Familie, ebenso besaß seine erste Frau, Chadīdscha, Sklaven. Der sunnitische Mohammed hatte tiefgreifend mit der Sklaverei zu tun, da sie eine der Hauptwege war, sich zu finanzieren. Er tötete nicht nur Dichter, die anderer Meinung waren als er, sondern ließ ungläubige Männer töten, um ihre Frauen und Kinder als Sklaven halten und für Finanzierungszwecke verkaufen zu können. Er gab Sklaven als Geschenke her oder auch um die sexuellen Gelüste seiner engen Gefährten zu befriedigen. Er erhielt und nahm Sklaven von anderen Herrschern an. Einige seiner Köche waren Sklaven und er hatte einen Sklaven als Schneider. Er sagte auch, dass ein Sklave, der von seinem Meister flieht, nicht erwarten könne, dass seine Gebete beantwortet werden.122

Gott bewahre uns davor, dass wir den Scharlatanen glauben, die sich Imame oder Scheichs nennen, die solches verbreiten und als „normal“ verkaufen. Gott bewahre uns davor, ihnen zu glauben, die unseren Propheten solcherart darstellen und die Religion für einen geringen Preis verkaufen!

Diese klassischen Gelehrten und ihre Anhänger urteilten falsch, als es um fundamentale Prinzipien der Menschlichkeit ging und deshalb ist es klar, dass wir die gesamte Tradition nach anderen Fehlurteilen und Angelegenheiten durchforsten müssen, in denen wir uns entwickelt haben. Die 1400 Jahre alte Tradition kann eine Quelle des Wissens sein, mitunter gar einzelne Edelsteine hervorbringen. So zum Beispiel kannten die gottergebenen Gelehrten bereits vor der Zusammenstellung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte solche Begrifflichkeiten, wie etwa in Uṣūlu-l-fiqh (wörtlich: Wurzeln/Quellen des Verständnisses; Oberbegriff für die gottergebene Rechtsfindung) bekannt als ḥaqqu-l-mukallaf (Rechte des Individuums). Doch da sich die früheren Gottergebenen nicht intensiver mit der Ausarbeitung dieser Theorie beschäftigt haben oder diese uns nicht überliefert wurden, konnten die Gottergebenen nicht die ersten in der Ausformulierung einer solchen Rechtsnorm sein. Vielmehr ist diese Tradition der Rechtsfindung ausgeartet und so wurden Rechtsnormen formuliert, die der Lesung widersprechen, wie etwa bezüglich der Steinigung, der Apostasie oder der Sklaverei. Die Tradition kann also keine fixe, absolute Quelle über Wahrheit und Gerechtigkeit sein. Ansonsten laufen wir Gefahr, giftige Ideen zu verinnerlichen und unsere Seelen zu verderben.

 

4:92 Es steht einem Gläubigen nicht zu, einen Gläubigen zu töten, es sei denn aus Versehen. Wer einen Gläubigen aus Versehen tötet, hat einen gläubigen Sklaven zu befreien und ein Sühnegeld an seine Angehörigen zu übergeben, es sei denn, sie erlassen es als Spende. Wenn er zu einem Volk gehörte, das euer Feind ist, während er ein Gläubiger ist, so ist ein gläubiger Sklave zu befreien. Und wenn er zu Leuten gehört, zwischen denen und euch ein Vertrag besteht, dann ist ein Sühnegeld an seine Angehörigen auszuhändigen und ein gläubiger Sklave zu befreien. Wer es nicht vermag, der hat zwei Monate hintereinander zu fasten. Das ist eine Zuwendung von Seiten Gottes. Und Gott ist wissend und weise

 

Einer der wenigen Skeptiker und gottergebenen Kritiker der Sklaverei war An-Nasafī (gest. 701 nach Hidschra, berühmt für seine ʿaqīdatu-n-nasafī, das Credo des Nasafī), der scharfsinnig bemerkte, dass wenn ein Totschlag durch das Befreien eines Sklaven kompensiert werden kann (4:92), dann jemanden zu versklaven einem spirituellen Todesurteil (mawt ḥukman) gleichkomme, weshalb er Sklaverei (ar-riqq) als ein Überbleibsel der Zeiten der Ableugnung (aṯār al-kufr) und des Unglaubens beschrieb:

 

فتحرير رقبة… التحرير: الإعتاق، والحر والعتيق الكريم فيالأحرار كما أن اللؤم في العبيد، ومنه عتاق الطير وعتاق الخيل لكرامها
والرقبة: النسمة ويعبر عنها بالرأس في قولهم: فلان يملك كذا رأساً من الرقيق {مؤمنة} قيل: لما أخرج نفساً مؤمنة من جملة الأحياء لزمه أن يدخل نفساً مثلها في جملة الأحرار، لأن إطلاقها من قيد الرق كإحيائها من قبل أن الرقيق ملحق بالأموات، إذ الرق أثر من آثار الكفر والكفر موت حكما

 

Eine grobe Übersetzung:

Und das Befreien eines Sklaven/Halses… die Befreiung (altahrīr): Die Erlösung, und die Freien und die noblen Erlösten, das heißt die Befreiten, und ebenso, dass [damit] die Ungleichheit unter den Sklaven [gezeigt ist], und daraus [ist gleichermaßen] der Edelmut der Erlösung des Vogels und des Pferdes [sichtbar].
Und der Hals: [Dieses Wort meint] die Personen [die am Hals festgehalten sind] und es äußert sich darüber durch die Eigentümerschaft (ar-ra’s) in ihrer Aussage: Um solch Eigentum (ra’san) zu besitzen (yumlik) von den Hälsern, {Gläubige} wurde gesagt: hinsichtlich der Vertreibung einer gläubigen Seele von allem Lebendigen (al-ā’hyā’) [d.h. jemanden zu töten] muss eine Seele ihresgleichen [in den Kreis] aller Freien eintreten, weil ihre Loslösung von den Verbindlichkeiten der Sklaverei wie ihre Belebung ist (itlāqhā min qīd ar-riqq ka-iḥyā’hā), wovon folgt, dass die Sklaven den Toten anhängen (ar-raqīq muhlaq bi-l-a’mwāt) [d.h. Sklave zu sein ist dasselbe wie gestorben zu sein], weil die Sklaverei ein Überbleibsel von den Spuren der Ableugnung (‘āṯār al-kufr) ist und Ableugnung ist ein Todesurteil.123

 

Die Sklaverei in der Bibel und ihr Einfluss auf die Gottergebenen

Foto: Jim Reid, CC BY-NC-SA 2.0

Die Praxis der Sklaverei wurde bis zu einem gewissen Maß durch den Einfluss der Juden und Christen gerechtfertigt. Ein hoher Anteil hierbei ist den erfundenen Aussprüchen (Aḥādīṯ) und Gesetzen in der Scharīʿa zuzuschreiben, die Jahrzehnte nach dem Tode des Propheten eingeführt wurden. Es ist eine Ironie, dass die Juden, die am meisten durch die Sklaverei zu leiden hatten und von Gott durch Moses’ Wirken errettet wurden (2. Buch Mose Exodus 1:13–14), später die Versklavung anderer Menschen rechtfertigten, einschließlich dem Verkauf der eigenen Tochter, was Eingang in ihre heiligen Bücher fand (Exodus 21:7–8; 21:21–22,26– 27; 3. Buch Mose Levitikus 25:44–46; Josua 9:6–27).

Obwohl Jesus niemals die Sklaverei billigte, verhielt sich Paulus, der wahre Gründer des modernen Christentums, anders: Er verlangte von den Meistern, ihre Sklaven gut zu behandeln (Kolosser 3:22), von den Sklaven jedoch „in aller Ehrfurcht gegenüber den Meistern ergeben zu sein“ (1. Petrus 2:18; Epheser 6:5; 1. Timotheus 6:2; Kolosser 3:22; Titus 2:9). Sehr viele Christen und Juden konvertierten zur Gottergebenheit aus der Lesung und verbreiteten im Namen des Propheten die althergebrachten Weltanschauungen mittels den Aussprüchen, verbreiteten also im Namen der Religion und somit im Namen Gottes wissentlich oder unwissentlich Lügen. Sehr wahrscheinlich ist es deshalb auf diese zurückzuführen, dass die Sklaverei auch nach der Vollendung der Offenbarung und nach dem Ableben des Propheten aufrechterhalten wurde. Politische Motive sind hierbei natürlich nicht ausgeschlossen. Der Missbrauch der Religion durch die privilegierte Klasse, Menschen zu versklaven und auszubeuten, wurde lebhaft von Desmond Tutu aufgezeigt:

 

Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage genau umgekehrt: Wir hatten die Bibel und sie das Land.

– Desmond Mpilo Tutu

 

Sklaverei im Lichte der Gottergebenheit

Zur Offenbarungszeit der Lesung war die Sklaverei eine vorhandene Realität (4: 25). In ihr wird aber die gängige, praktizierte Sklaverei abgeschafft (3:79; 4:3,25,92; 5:89; 8:67; 24:32–33; 58:3–4; 90:13; 2:286; 12:39–42; 79:24-25). Die Lesung lehnt die Sklaverei nicht nur als eine grobe Sünde ab, sondern als die gröbste Sünde, als ob man Gott irgendwelche Partner beigeselle, da man sich selbst neben Gott als weiteren Herrn über einen Menschen anpreist durch das Halten irgendeines Sklaven. Dies wird nicht vergeben, wenn diese Beigesellung (schirk) bis zum Tod oder bis kurz davor aufrechterhalten wird (4:116). Einen anderen Meister/Herrn (rabb) als oder neben Gott zu akzeptieren oder sich selbst als solchen (bewusst oder unbewusst) darzustellen wird in der Lebensweise der Gottergebung unmissverständlich abgelehnt (12:39–40; 3:64; 9:31). Jahrzehnte nach Mohammeds Ableben wollten Könige und ihre Verbündete die Sklaverei wiederauferstehen lassen und rechtfertigten diese durch Verzerrungen der Verse, in denen Josef vom Herrn seines Freundes spricht (12:41–42). Sie ignorierten jedoch die Tatsache, dass Josef nie irgendjemand anderen als Gott als seinen Herrn oder Meister bezeichnete. Er schlug seinen Gefährten im Gefängnis vielmehr vor, ihre Freiheit dadurch zu ersuchen, indem sie die unbegründeten Behauptungen ablehnen, sich von falschen Herrn und Meistern bevormunden zu lassen (12:39–40). Es ist auch kein Wunder, dass Gott Pharao verdammt für seine Behauptung, ein Herr über die Menschen zu sein (79:15–26). Gott errettete die Juden aus der Sklaverei und erinnerte sie daran, dass ihre Freiheit wichtiger ist als die Vielfalt an Nahrungsmitteln, die sie vermissten (2:57–61).

 

16:75-76 Gott führt als Gleichnis einen leibeigenen Diener an, der über nichts verfügt, und einen, dem wir von uns eine schöne Versorgung gewährt haben. So gibt er davon heimlich oder offen ab. Sind sie gleich? Lob gehört Gott! Nein! Vielmehr wissen die meisten von ihnen nicht. Und Gott führt als Gleichnis zwei Männer an. Der eine von ihnen beiden ist stumm und verfügt über nichts. Er ist seinem Meister eine Last, wo er ihn auch hinschickt, bringt er nichts Heilvolles. Gleicht er dem, der die Gerechtigkeit befiehlt, wobei er auf einem geraden Weg ist?

 

Die Verse 16:75–76 vergleichen einen Diener (‘abd) mit einem freien Menschen und betonen die Wichtigkeit, ein freier Mensch zu sein. Dies zielt auch darauf ab, sich nicht geistig von anderen Menschen bevormunden zu lassen, was durchaus im imperativischen Sinne Kants verstanden werden kann. Freie Menschen sollten sich also sowohl geistig als auch körperlich nur von Gott abhängig machen. Freie Menschen sind besser dazu in der Lage, Kreativität zu entfalten und Gutes zu bewirken.

Gott untersagt Mohammed des Weiteren, seine Feinde in Friedenszeiten einzufangen, einzukerkern und zu versklaven. Doch Er gibt ihm die Erlaubnis dafür nur als eine Maßnahme gegenüber denjenigen, die Krieg anstiften und in kriegerischen Handlungen tätig sind (8:67). Die Kriegsgefangenen werden nach Vers 47:4 nach Kriegsende freigelassen. In der Lesung wird die Tatsache betont, dass diejenigen, die Gott Partner beigesellen, selbst Sklaven besaßen. Die Sklaven mittels verschiedener Wege zu befreien ist als eine verpflichtende, gottergebene Handlung und Eigenschaft anzusehen (24:32–33; 16:75, 90:13). Gott berücksichtigt die tragische Vergangenheit von Sklaven als mildernden Umstand, indem Er ihnen die Hälfte der Strafe für die Unzucht verschreibt wie für Freie (4:25). Diese Regel lehnt gleichzeitig auch die Todesstrafe durch Steinigung der Sunniten und Schiiten ab, da es logischerweise keine Hälfte der Todesstrafe geben kann!

 

24:32 Und verheiratet die Ledigen unter euch und die Rechtschaffenen von den Dienern und Dienerinnen unter euch. Wenn sie arm sind, wird Gott sie durch seine Huld reich machen. Und Gott umfasst und weiß alles.

 

Der Ausdruck ʿibādukum (eure Diener) in diesem Vers wird generell missverstanden und trotz der klaren Botschaft der Lesung wird der Vers missbraucht, um die Sklaverei zu rechtfertigen. Statt den besagten Ausdruck als „eure Sklaven, die ihr besitzt“ zu verstehen, sollte er besser als „Diener aus eurer Gruppe“ verstanden werden. Beispielsweise gibt es in der Lesung auch den Ausdruck „die Speisung von zehn Bedürftigen so wie ihr eure Angehörigen im Durchschnitt speist“ (5:89), was eben nicht die „Angehörigen, die ihr besitzt“ bedeutet. Ähnlich meint „eure Undankbaren“ (eigentlich: eure Ableugner) auch diejenigen Undankbaren, die unter uns verweilen, und nicht die, die wir besitzen würden (54:43).124

Es lassen sich auch weitere Beispiele gegen die Sklaverei finden, wie etwa in der Geschichte Salomons (27:31 ff.), in der er Könige als Persönlichkeiten beschreibt, die die Menschen unterjochen. Sein Standpunkt gegenüber Unterdrückung und Sklaverei ist beispielhaft. Lebte Salomon heute, versuchte er erst sich selbst als gottergeben bezeichnende Gemeinschaften zu reformieren, wie er damals bei der Königin von Saba verfuhr.

In 58:3–4 wird ein spezieller Umstand beschrieben, in denen die Männer sich von ihren Frauen zu Unrecht scheiden lassen wollten. Als Sühne sollen diese einen Sklaven befreien. Der Anfang des Verses 58:4 (faman lam yadschid, was „wer es nicht vermag“ bedeutet, wörtlich: So wer es nicht fand) weist deutlich darauf hin, dass die zu befreienden Sklaven nicht zu den Gottergebenen gehörten. Ansonsten hätte ein Ausdruck wie „wer keinen Sklaven besitzt“ stehen müssen.

 

Mā malakat aymānukum und mawlá

In der Lesung kommt des Öfteren ein Ausdruck vor, der meist falsch übersetzt als „eure Sklaven“ wiedergegeben wird. Es handelt sich hierbei um die Äußerung „mā malakat aymānukum“125 (ما ملكت أيمنكم), was ungefähr als „was eure Rechte (Hand) besitzt“ übersetzt werden kann. Sektiererische Interpretationen versuchen diesem Ausdruck einen Beigeschmack von Sklaven, insbesondere auch Sexsklaven zu geben, was aber der Offenbarung diametral entgegensteht. Bei diesem Ausdruck handelt es sich um Ausnahmefälle, wie zum Beispiel in 60:10 beschrieben, wobei eine Ehefrau eines Soldaten auf feindlicher Seite die Botschaft der Gottergebenheit hört und annimmt und deshalb von den Feinden verfolgt wurde. Daraufhin kann diese Frau Asyl beantragen bei der gottergebenen Gemeinschaft. Da sie nun nicht durch einen juristisch-formalen Prozess die Scheidung erlangen konnte, wird es ihr in diesem Ausnahmefall durch einen speziellen Vertrag erlaubt, Gottergebene zu heiraten. Dies hat keinerlei Bezug zu Dienern (ʿibād) im herkömmlichen Sinne.

Das Wort yamīn, Singular von aymān, bedeutet „rechts“, „rechte Hand“ oder im übertragenen Sinne auch „Recht“, „Macht“, „Kontrolle“.126 Das Wort „Mawlá“ (Herrscher, Beschützer, Meister) kommt in der Lesung 18 Mal vor, von welchen 13 für Gott verwendet werden (2:286, 3:150, 6:62, 8:40, 9:51, 10:30, 22:78, 47:11, 66:2, 66:4). Die übrigen fünf Stellen gebrauchen das Wort mit einem negativen Beigeschmack (16:76, 22:13, 44:41, 57:15). Die in der Lesung allein für Gott gebrauchte Formulierung „Mawlánā“ (unser Schutzherr, Meister, Beschützer) wurde von gewissen Volksgruppen auch Religionsgelehrten zugeschrieben. In Pakistan und Indien wurde es zum Brauch, die Religionsgelehrten mit dem Titel „Mawlánā“ ( مولىنا ) anzusprechen.127 Das Wort „Waliyy“ (ولي – Verbündeter; plural awliyāʾ أولياء) hingegen wird sowohl für Gott als auch für Menschen gebraucht. Gott ist der Freund und Verbündete der Gläubigen und die Gläubigen sind die Freunde und Verbündete untereinander.128

Deshalb sollte es auch fortan unterlassen werden, andere Menschen als „mawlana“ (Türkisch: mevlana) zu betiteln, da dieser Begriff nur Gott gebührt (2:286).

 

Fazit

Die Gottergebenheit (Islām) lehnte die Sklaverei bereits mit der Bezeugung „Keine Gottheit außer dem Gott“ (lā ilāha illa-llāh) ab. Der Begriff Herr (rabb) wird in mehr als 900 Stellen einzig und allein für Gott gebraucht. Ein Gottergebener kann kein Sklave (raqabah) oder Diener (ʿabd) eines anderen als Gottes sein. Deshalb ist es Götzentum und Beigesellung, irgendeinen Sklaven in irgendeiner Form zu besitzen, denn damit würde man sich als Meister und Herr behaupten und sich neben Gott stellen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde Pharao verurteilt, weil er sich als Herr der Menschen behaupten wollte.

Ich wiederhole: Gemäß der Lesung kann ein Gottergebener niemals einen Sklaven haben, da dies der Behauptung gleichkommt, der Herr über den Sklaven zu sein. Sich selbst Gott beizugesellen ist die größte Sünde, da man sich als absolute Souveränität, also Gottheit eines Menschen positioniert. Und Gott befiehlt uns:

 

90:13 Befreie den Sklaven!

 

Deshalb:

Wir schulden es uns selbst, der Reinheit der Gottergebenheit wegen, aufzuzeigen, dass Sklaverei eine Abweichung vom gottergebenen Standpunkt bedeutet. Oder um es in den Worten von an-Nasafī zu sagen: Entweder Freiheit (Befreiung der Sklaven) oder Tod (Sklaverei)!