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Schlüssel zum Verständnis des Koran: Teil I: Voraussetzungen, Theorie und Rüstzeug

Kategorien: Schlüssel zum Verständnis des Koran

Um die Lesung (Koran) in ihrer gesamtheitlichen Sicht begreifen zu können, muss sich jeder Student dieser Schrift einiger Voraussetzungen im Klaren sein, ohne die kein ausgereiftes Verständnis der Lesung möglich sein wird. In diesem Teil werden die formalen Grundlagen erarbeitet, nach denen wir die Stellen und Texte der Lesung untersuchen werden. Hierbei müssen wir zwei Bereiche genauer durchleuchten.

Der erste und damit vergleichsweise technische, einfachere Bereich ist die äußere und innere Form der Lesung: Mit welcher Textform haben wir es zu tun und welche Herangehensweise führt definitiv zu falschen Ergebnissen? Wie wichtig ist der arabische Text für das Verständnis der Stellen? Gibt es Unterschiede in der Wichtigkeit arabischer Passagen für die theologische Bedeutung? Welche Lesarten gibt es und wie kann ich zwischen ihnen unterscheiden? Wie verstehe ich die Lesung auch ohne tiefgreifende Kenntnisse der arabischen Sprache?

Zweitens muss sich jeder Mensch mit sich selbst auseinandersetzen. Theologen wie Farid Esack kommen hier zur Ansicht, dass es bei der Suche nach dem Sinn keine Objektivität geben kann.5 Dies bedeutet für mich, dass objektive Auslegungen eines Textes nicht möglich sind, da jeder Mensch unweigerlich seine Kultur, seine Sprache, seine Weltanschauung, den „Blick aufs Leben“, seine Geschichte und seine individuell geprägten Fähigkeiten mitbringt. Die Interpretation der Lesung kann also nicht vom Interpretierenden getrennt werden. Ohne den Interpretierenden ist die Lesung nur eine Ansammlung von toten Buchstaben.

Allein die Lesung historisch zu betrachten und nicht sich selbst in einem historischen Kontext zu sehen, wird zu einer verzerrten Wahrnehmung des Textes führen. Objektive Wahrheiten gibt es deshalb nicht und präsentierte „Wahrheiten“ müssen immer in Relation zu Umfeld und Mensch gesehen werden. Denn der einzig Absolute ist der Schöpfer. Die Schöpfung steht stets in Relation zum Schöpfer, aber auch zur Schöpfung selbst. Um aber dennoch nützliche Ideen aus der Lesung abzuleiten, werde ich dem Ideal folgen, dass Wahrheiten vorhanden und ableitbar sind und ich nur meine Auslegungsweisen (die auf einer bestimmten Axiomatik begründete Methodik) wo nötig anzupassen habe, ähnlich den Modellen in der Wissenschaft, welche ebenfalls ständig neuesten Erkenntnissen angepasst werden. Unsere Theorie verkörpert also ein Modell. Um es mit folgendem Zitat zusammenzufassen:

 

„Im Wesentlichen sind alle Modelle falsch, aber manche sind nützlich.“
– George Box, britischer Statistiker

 

Ich bin davon überzeugt, dass das in diesem Buch vorgestellte Modell äußerst nützlich ist.

 

Zur inneren Art und Form der Lesung

Die Lesung ist kein gewöhnliches Buch. Sie ist das arabische Buch, welches die arabische Sprache definiert. Sie ist das Buch, dem über einer Milliarde Menschen zu folgen behaupten. Ihr Einfluss ist immens auf die Menschheit. Doch wieso verstehen sie so wenige? Wieso begehen selbst die Gläubigen leicht zu vermeidende Fehler im Verständnis wie auch in der Ausübung der Lebensweise, die dieses Buch vorschlägt als den aufrichtigsten, besten Weg (17:9)?6 Ein Teil der Antwort liegt in der Art und Weise dieses Buches. Es ist weder chronologisch noch thematisch aufgebaut. Es gleicht vielmehr einem Freund, den man kennenlernen muss, um ihn zu verstehen. Haben Sie schon einmal einen Menschen, gar einen Fremden aus einer anderen Kultur auf den ersten Blick verstanden? Oder begannen Sie seine Handlungen erst dann nachzuvollziehen, als Sie diese Person näher kennenlernten, ihn wie einen Freund behandelten? So ist es mit der Lesung, zugänglich für alle, die ihr Freund werden wollen. Wenn Sie die Lesung also nicht von Anfang an verstehen, so sind Sie damit nicht allein!

Die Lesung ist wie ein lebendiger Organismus, erst im Gesamtbild der Verzweigungen ergibt sich ein schlüssiges Bild. So wie ein Ausschnitt des Bildes nicht dessen gesamte Idee vermittelt, so ist es mit den Versen der Lesung. Allem voran ist zu sagen, dass die Lesung nicht wie die Bibel studiert werden kann. Sie ist nicht narrativ aufgebaut oder in Predigten eingeteilt, die für sich alleine stehen können und in mehr oder weniger abgeschlossener Form fundamentale Ideen übertragen. Die Lesung hingegen überträgt Ideen, während sie auch schon andere Ideen überträgt. Selbst wenn wie beim Beispiel der Scheidung eine Fülle von Versen aufeinanderfolgen (2:228–237, 2:240–241), sind weitere nötige Informationen woanders zu finden (Kapitel 65), manchmal gar nur in einem einzigen Vers eines anderen Kapitels (33:49). Es ist auch zu sehen, dass wie im Beispiel des zweiten Kapitels einfach zwei Verse über ein scheinbar entferntes Thema eingeschoben werden (2:238–239). Auch dies hat seine pädagogische wie auch inhaltliche Bedeutung, nämlich auch in emotional turbulenten und schwierigen Zeiten die Momente der Einkehr und die Verbindung zu Gott nicht zu vergessen.

Wieso scheint es also so zu sein, dass Gott es uns schwer machen will, obwohl Er doch verspricht, dass Er für uns Leichtigkeit und uns keine Bürde auferlegen will?

 

4:28 Gott möchte euch Erleichterung gewähren. Der Mensch wurde ja schwach erschaffen.7

7:2 Ein Buch, das zu dir herabgesandt wurde, so soll in deiner Brust keine Bedrängnis seinetwegen sein. Dies, damit du mit ihm warnst, als eine Erinnerung für die Gläubigen.

 

Wieso nicht einfach alles thematisch aufreihen, um das Ausleben dieser ethischen Lebensweise der Gottergebenheit (Islām) zu vereinfachen? Wie wir aus 4: 28 sehen, weiß Gott also um unsere Schwäche und gerade deshalb möchte Er uns Erleichterung zukommen lassen.

 

21:10 Wir haben ja ein Buch zu euch hinabgesandt, in dem eure Ehre liegt. Begreift ihr denn nicht?8

43:43–44 Halte fest an dem, was dir offenbart wurde! Du bist gewiss auf einem geraden Weg. Es ist wahrlich eine Erinnerung für dich und dein Volk. Und ihr werdet (davon) zur Verantwortung gezogen.

 

Die Lesung bekämpft mit ihrer Beschaffenheit, ihrem Aufbau und ihrer Botschaft die unter den Menschen vorhandene Faulheit und den unnötigen Minimalismus, welcher über die bloße Genügsamkeit hinausgeht. Gott kaut uns nicht alles vor. Als der perfekte Lehrer und unser Schöpfer weiß Er natürlich, dass eine Einsicht aufgrund eines Aha-Erlebnisses viel eher haftet als vorgefertigte Weisheiten in Form von Zitaten auf Versandkarten, deren Inhalte uns eigentlich bei näherer Betrachtung fern erscheinen. Mit diesem Buch wird bei angemessenem Studium das aktive Differenzieren, Analysieren und das tiefe Denken geschult. Der Schüler Gottes, der Gottes Worte ernst nimmt, lernt auch zur selben Zeit Gründlichkeit und Organisation einzuhalten. Er beginnt auch die Geduld zu schätzen und lässt sich deshalb vom Status quo oder den Forderungen von Menschen nicht beirren, ohne in Trägheit zu übergehen. Er begreift auch, wie wichtig das Einüben der Aufrichtigkeit ist – vor allem sich selbst gegenüber. Er schätzt mit der Zeit die Art dieses Buches, weil sie enorm zur Vereinfachung der Verinnerlichung der Inhalte für die Gläubigen und Studenten des Buches beiträgt, etwa durch eine konsistente Wortwahl, durch wiederholte oder ähnliche Formulierungen oder durch pädagogisch wie auch stilistisch passende Formen. So lernt man die Lesung (Koran) doch schneller verstehen als manch andere Bücher gleichen Umfangs, vorausgesetzt man folgt gewissen Regeln und benutzt nach Möglichkeit die vom Schöpfer in uns gelegten Anlagen wie Verstand, Augen, Herz und Gehör.

Während die Lesung wie ausgeführt für ihre Freunde tieferen Zugang gewährt, ist sie für diejenigen, die sie zum Feind machen und nehmen wollen – ob bewusst oder unbewusst – ein siebenfach versiegeltes Buch. So bietet sie viele Fallen und Sackgassen für die, die sich mit einer Oberflächlichkeit begnügen. Sie sorgt für Verwirrung und Ausschluss der Ableugner (kāfirūn) von der ethischen Hochmoral, die diesem Buch innewohnt. Dies erfolgt sowohl auf emotionaler als auch auf rationaler Ebene. Der Geist wie auch der Intellekt der Ableugner werden durch ihre selbstverschuldete ignorante Haltung versiegelt.

So wird die Lesung (Koran) zu einem Buch des Mordes und der ungezügelten Gewalt, wenn man gezielt danach sucht und die Art und Weise missachtet, wie sie Informationen mitteilt. Klassisches Beispiel ist es, Verse aus ihrem Kontext zu reißen.

 

„Bekämpft die Ungläubigen…“

 

hört sich anders an als,

 

„Bekämpft die Ableugner und vertreibt sie, von wo sie euch zuerst vertrieben haben“,

 

obwohl es derselbe Vers und Kontext ist. Ebenso bekannt ist die Missachtung der Lesung in anderen Stellen, wie hier etwa 8:61, 60:7-9, 4:91 und 9:4,6,10,36 9 und vielen weiteren, die uns Prinzipien der Kriegsführung zum Zwecke der Selbstverteidigung mitteilen. Dies aber erst nach einem Angriff eines äußeren Aggressors. Ein eher seltener berücksichtigtes Beispiel ist das Versäumnis der hermeneutischen wie theologischen Verortung von koranischen Prinzipien, wie z.B. des Prinzips „Anstiftung (fitna) ist schlimmer als Töten“ (2:217).

Anders gesagt, wir dürfen das vorgeschlagene Wertesystem aus der Lesung nicht missachten, wenn wir darüber urteilen wollen. Und wir sollten uns unserer eigenen Denkweise bewusst werden, wenn wir solchen Versen begegnen, damit wir geschult sind im Unterscheiden von eigenen Vorstellungen und jenen, die wir aus dem Studium der Lesung gewonnen haben. Die Ideen, die in meinem Kopf entstehen, sind nicht notwendigerweise die Wiedergabe der göttlichen Worte, selbst wenn ich glaube, eine wörtliche Bestätigung gefunden zu haben. Worte sind lediglich Hüllen, die wir mit unserer Idee oder der eines anderen kleiden.

Denn erst bei Berücksichtigung dieser Umstände werden wir in der Lage sein, eine möglichst von subjektiven Vorstellungen befreite Wertung vorzunehmen und einen Vergleich zwischen unserem kulturellen und eines (nicht des!) von der Lesung abgeleiteten Wertesystems anzustellen.