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Schlüssel zum Verständnis des Koran: Koranische Hermeneutik – Die Auslegungsmethodik

Kategorien: Schlüssel zum Verständnis des Koran

Sie werden in diesem Kapitel eine Auslegeweise kennenlernen, die Sie selbst auch relativ leicht anwenden können. Es sind sieben Prinzipien, welche für jede Studentin und jeden Student der Lesung unabdingbar sind. Diese legen die Rahmenbedingung fest, nach der wir die Textstellen der Lesung auslegen werden. Gewisse Punkte werden vielleicht trivial oder offensichtlich erscheinen, dennoch zeigen sie gewisse Fallen und Tücken auf, in die man tappen könnte. Wenn Sie nun an eine Stelle der Lesung gelangen, die Sie gerne genauer verstehen wollen, so halten Sie sich mindestens an folgende Schritte:

  1. Die Sprache ist kein Hindernis
  2. Den Vers vollständig durchlesen
  3. Umliegende Verse nicht vergessen
  4. Das Wort selbst und seine Mehrdeutigkeit beachten – der „Tunnelblick“
  5. Verse gleichen Themas zusammenstellen
  6. Nach Beispielen in der Lesung suchen
  7. Geduldig sein und Gott um Hilfe und Rat bitten

Sie müssen sich nicht an diese spezielle Reihenfolge halten. Manchmal wird Punkt 4 der wichtigste Punkt in ihrer Analyse sein, weshalb Sie diesen zuerst ausführen möchten. Wichtig ist aber, dass Sie jeden dieser Punkte anwenden.

Den ersten Punkt haben wir bereits erläutert, der zweite und dritte Punkt wurden auch eingangs mit Beispielen versehen. Die wirklich aufwändigen und zeitintensiven Schritte der Auslegung betreffen die Punkte 4 – 7. Dennoch werde ich hier der Vollständigkeit halber auf alle Punkte eingehen.

Studenten der traditionellen Islāmwissenschaft werden hier mindestens drei der folgenden sechs Kategorien für die traditionelle Methodik der Exegese wiedererkennen:

  1. Interpretation der Lesung durch die Lesung. (تفسير القرآن بالقرآن – tafsīru-l-qurʾān bil-qurʾān)
  2. Interpretation der Lesung durch die angebliche „prophetische Sunna“. (السنة النبوية – as-sunnatu-n-nabawiyyah)
  3. Interpretation der Lesung durch die angeblichen Aussagen der Prophetengefährten. (أقوال الصحابة – ʾaqwālu-ṣ-ṣaḥābah)
  4. Interpretation der Lesung durch die angeblichen Aussagen der Tābiʿīn. (أقوال التابعين – ʾaqwālu-t-tābiʿīn)
  5. Interpretation der Lesung durch die Sprache und der Philologie. (اللغة وعلومها – al-lughatu wa ʿulūmuhā)
  6. Interpretation der Lesung aufgrund von Meinung und gemeinsamer Übereinkunft. ( الرأي والاجتهاد – ar-raʾyu wal-idschtihād)

Es ist das ausdrückliche Ziel dieses Buches, aufzuzeigen, dass nur drei dieser sechs Kategorien, nämlich die erste, die fünfte und sechste, ausreichen für ein vollständiges Verständnis der Lesung. Insbesondere muss aber für eine zeitgerechte und vor allem der Lesung treu bleibende Auslegung die sechste Kategorie neu aufgerollt werden und kann nunmehr nicht allein aufgrund vergangener Gelehrtenmeinungen begründet werden, da sich diese auf die Vermutungen von Ḥadīṯ und Sunna stützen.

Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass diese Methodik bereits die Lesung selbst in sich beherbergt, weshalb ich sie als eine koranische Hermeneutik betrachte.

 

1. Die Sprache ist kein Hindernis

Der erste Punkt im Studium der Lesung ist verständlicherweise die Sprache. Die meisten der Gottergebenen, die an der Schrift festhalten wollen, wurden unterrichtet, dass die Lesung nur auf Arabisch verstanden und vorgelesen werden und dass keine Übersetzung je die exakte Bedeutung wiedergeben könne. Es ist wirklich unterhaltsam, dass die gleichen selbsternannten Gelehrten den Arabern sagen werden, dass die Lesung für sie „zu schwer“ zu verstehen sei und dass sie das Verständnis den „Experten“ überlassen sollten! Es sieht so aus, als ob Galileo Galilei solch eine Erfahrung ebenfalls gemacht habe, denn er soll einst gesagt haben:

 

„Ich fühle mich nicht zu dem Glauben verpflichtet, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Verstand ausgestattet hat, von uns verlangt, dieselben nicht zu benutzen.“

– Galileo Galilei, italienischer Mathematiker

 

Natürlich sagt die Lesung selber, dass die Sprache kein Hindernis darstellt um sie zu verstehen (41:44), da Gott Derjenige ist, Der ihn den Menschen erklärt (75:19, 55:2), die ihr Herz Ihm gegenüber öffnen (29:49). Es sei wiederholt, dass Gott die Menschen nicht mit „O ihr Araber“ oder „O ihr, die ihr Arabisch sprecht“ anspricht, sondern mit „O ihr, die ihr glaubtet“. Gottes Buch ist anders als jedes andere Buch auf Erden, da es Seinem System und Seinen Gesetzen entspricht. Das Verständnis wird an der Ehrlichkeit wie auch an der geistigen Reinheit der Leser gemessen und nicht allein an der Sprache, den Qualifikationen oder am Fachwissen:

 

56:77–80 Dass dies wahrlich eine edle Lesung ist. In einer wohl aufbewahrten Urschrift. Keiner kann sie erfassen, außer den Reinen. Eine Offenbarung vom Herrn der Welten.

 

Natürlich ist jegliches Fachwissen wie auch jegliches Können von Vorteil, aber keine Voraussetzung. Das Verständnis zum Beispiel des Wortes „ḥadīṯ“ lässt sich auch mittels Transliterationen und weiteren Hilfsmitteln erarbeiten.

Dieser Punkt ist auch deshalb so wichtig, weil jeder Mensch die Lesung aus seinem eigenen Blickwinkel heraus betrachten wird, ja muss. So wird der Philosoph andere Schwerpunkte setzen und andere Zusammenhänge erkennen als der Arzt, welcher im Normalfall die physiologischen Vorgänge im Körper besser begreift. Eltern, die erst vor Kurzem ihr Kind bekamen, haben in ihrem Leben andere emotionale Schwerpunkte als ein junger Mensch, der gerade seine Pubertät durchlebt. Durch bloßes Wissen und Können werden keine theologischen Inhalte erschlossen. Erst die Kombination ergibt die richtige Mischung, was uns auch in folgendem Vers sinngemäß mitgeteilt wird:

 

49:14 Die Araber sagten: Wir glaubten! Sage: Ihr glaubtet nicht. Aber sagt: „Wir haben uns ergeben“ bis der Glaube in eure Herzen eingetreten ist. Wenn ihr Gott und Seinem Gesandten gehorcht, wird Gott von euren Taten nichts mindern. Gott ist verzeihend, gnädig.

 

Nur durch das Aussprechen eines Satzes wie „ich glaube, dass es nur einen Gott gibt“, wird man laut den Prinzipien Gottes, die wir aus der Lesung entnehmen können, nicht automatisch zu einem Gläubigen. Dies hat auch mit der Bedeutung des arabischen Wortes Īmān zu tun, nichtsdestotrotz war dieser Vers an Araber gerichtet, denen die Erfahrung und die tiefe Überzeugung in ihrem Herzen noch fehlte.