Schlüssel zum Verständnis des Koran: 2. und 3. – Vers vollständig und umliegende Verse lesen

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2. Den Vers vollständig durchlesen

Verse aus ihrem Kontext zu reißen ist bislang der größte Fehler, welchen sogar die Schüler dieser Schrift Gottes wiederholen. Diese Zitiermethode kann gebraucht werden, um jeden Wunsch und jede Sichtweise zu legitimieren, egal wie ungöttlich sie auch erscheinen mag.

Als Paradebeispiel, welcher von vielen Gruppen ausgewählt wird, um zu behaupten, dass die Lesung das Töten und die Gewalt fördere, betrachten wir folgenden Vers:

 

2:191 Und tötet sie, wo immer ihr sie vorfindet.

 

Doch wer ist mit „sie“ eigentlich wirklich gemeint? Alles „Nichtgottergebene“, Politiker oder Fußballer? Wenn auf solche Weise zitiert wird, ergeben sich oft logische und inhaltliche Lücken und Widersprüche, die als Hinweis dienen, dass der Kontext berücksichtigt werden muss. Sobald wir den gesamten Vers betrachten, eröffnet sich ein völlig neuer Sinn und es erscheint ein neues Bild:

 

2:191 Und tötet sie, wo immer ihr sie vorfindet und vertreibt sie von dort, von wo sie euch vertrieben, da die Anstiftung schlimmer als das Töten ist. Und bekämpft sie nicht bei der verbietenden Unterwerfungsstätte, bis sie selbst euch darin bekämpfen. Wenn sie euch dann bekämpfen, dann tötet sie. So ist die Vergeltung für die Ableugner

 

In diesem Vers beschäftigen wir uns also mit einer Kriegssituation. Den Menschen, die ausgetrieben wurden, wird die Erlaubnis zum Rückschlag erteilt. Mit „sie“ sind also die Ableugner gemeint, die zuerst angegriffen haben. Dies ist ein immenser Unterschied zur Bedeutung, nach der man willkürlich töten darf. Dies kann passieren, wenn der Kontext nicht beachtet wird.

Jede Regel hat auch ihre Ausnahme und deshalb sollte hier auch folgendes Prinzip festgehalten werden, welches wir als Grundannahme (Axiom) in unserer Auslegungsweise einführen:

Jede noch so kleine Aussage in der Lesung kann für sich alleine stehen und auch interpretiert werden, wenn sie dem Rest der Lesung nicht widerspricht oder notwendige Informationen auslässt.

Eine Aussage kann hierbei ein Satz, eine Phrase oder ein Ausdruck sein, welcher bedeutungsrelevant ist. Um dies zu verdeutlichen, betrachten wir noch einmal Vers 2:191. Während es falsch ist, den Aufruf „tötet sie“ alleine zu betrachten, weil es dem generellen Verbot des Tötens (4:92, 5:32) widerspricht, ist es möglich, die Aussage „Anstiftung ist schlimmer als das Töten“ auch als alleinstehende Aussage anzusehen, da das Wort „Anstiftung“ (fitna) eine zentrale, vielschichtige Bedeutung in der Theologie hat. Wohingegen aber das Beispiel der Scheidung, wie wir später sehen werden, nicht aus seinem Themenbereich herausgerissen werden darf, da wir ansonsten mit halbfertigen Geboten stehen bleiben.

 

3. Umliegende Verse nicht vergessen

Ein weiterer ausschlaggebender Punkt beim gründlichen Studium ist die umliegenden Verse eines bestimmten Verses zu einer speziellen Geschichte nicht auszulassen. Ein Beispiel eines falschen Verständnisses, wenn die umliegenden Verse in Vergessenheit geraten, könnte wie folgt aussehen:

 

2:54 Und da sagte Moses zu seinen Leuten: “O meine Leute! Ihr habt auf euch selbst eine schwere Schuld geladen, indem ihr euch das Kalb nahmt; so kehrt reumütig zu eurem Schöpfer zurück und tötet euch selbst (nafs). Dies ist für euch besser bei eurem Schöpfer.” Alsdann vergab Er euch; wahrlich, Er ist der Allvergebende, der Barmherzige.40

 

Dieser allein stehende Vers erschafft ein Mysterium, dass Moses seinem Volk Selbstmord vorgeschrieben haben soll, während es gemäß Gottes Gesetz verboten ist, Selbstmord zu begehen (4:29–30). Wenn wir jedoch den Gesamtkontext berücksichtigen, also die vorherigen und nachfolgenden Verse studieren, nimmt die Geschichte einen völlig anderen Verlauf:

 

2:51–57 Und als wir uns mit Moses für vierzig Nächte verabredeten, dann nahmt ihr euch in seiner Abwesenheit des Kalbes an, und somit seid ihr ungerecht. Danach verziehen wir euch, auf dass ihr dankbar seid. Und als wir Moses die Schrift und die Unterscheidungskraft brachten, auf dass ihr rechtgeleitet werdet. Und als Moses zu seinem Volk sagte: Mein Volk, ihr habt eurer Seele Unrecht getan beim Annehmen des Kalbes. So kehrt reumütig zu eurem Erlöser, tötet eure Seele (nafs), denn dies ist besser für euch bei eurem Erlöser. So nahm er eure Reue an. Gewiss, er ist der Reue Annehmende, der Gnädige. Und als ihr sagtet: Moses, wir werden dir nicht glauben, bis wir Gott unverhüllt sehen. Da packte euch der Blitzschlag, während ihr zuschaut. Dann schickten wir euch zurück nach eurem Tod, auf dass ihr dankbar seid. Und wir überschatteten euch durch Wolken und sandten das Manna und die Wachteln auf euch hinab. Esst von den guten Dingen, mit denen wir euch versorgten. Und nicht taten sie uns Unrecht, sondern sie pflegten sich selbst Unrecht zu tun.

 

Ob nun symbolisch oder wörtlich gemeinter Tod: Es war die Absicht des Allmächtigen, diese bestimmte Gruppe von den Kindern Israels wiederbeleben zu lassen, um Seine Zeichen zu manifestieren. So wird das Paradoxon entfernt, da Gott der Einzige ist, der Leben nimmt, weil es auch Sein an uns gegebenes Geschenk ist.

Aus der Art und Weise, wie das Wort Seele/Selbst (nafs) im Vers gebraucht wird, können wir darüber hinaus auch schließen, dass damit das Töten des geistigen Selbst gemeint war, weil es hier um eine spirituelle Tadelung seitens Moses handelt („ihr habt eurer Seele Unrecht getan“).