Scheuklappen ablegen!

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Gottergebene (arabisch: Muslime) weltweit befanden sich im Fastenmonat Ramadan. Sie übten sich in Achtsamkeit und reflektierten über sich selbst, ihre Mitmenschen sowie ihre Umwelt. Sie finden einen tieferen Zugang zur Dankbarkeit gegenüber Gott und Seinen[1] Geschöpfen. Da sich der Ramadan dem Ende neigt, dürften die übrigen Fastentage leichter fallen. So heißt es im Koran in Vers 185 der 2. Sure „die Kuh“ (al-Baqara):

Monat Ramadan: In dem die Lesung als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt wurde, als Klarstellungen über die Rechtleitung und die Unterscheidung. Wer nun unter euch den Monat bezeugt, so soll er in ihm fasten. (…). Gott möchte für euch die Erleichterung und möchte für euch nicht die Erschwernis. So sollt ihr die Anzahl vervollständigen und Gott hochpreisen dafür, dass Er euch rechtleitete, auf dass ihr dankbar seid.

Hanif

Gottergebene entdecken im Fastenzustand einen weiten spirituellen Kosmos in sich und haben mehr Zeit, Sinnfragen zu stellen. Sie nutzen die Zeit und ziehen sich ein wenig aus dem diesseitigen Geschehen zurück (vgl. 2:187). Doch sind sie weiter Teil dieser Welt und vieler unberechenbarer Umstände und Geschehnisse. Manche Ereignisse stören und/oder erschüttern gar unsere Harmonie und unseren Frieden. Sie verlangen von uns Nachdenklichkeit und Mitgefühl ab. Doch sind wir Gott sei Dank dabei nicht auf uns allein gestellt. Denn wir würdigen diesen Monat als Offenbarungsmonat – jener Monat, in dem der Herr der Welten den Menschen die Lesung (arabisch: Koran) als Richtschnur und als Wertekanon schenkte (vgl. 21:107). Ein Licht, welches uns dabei hilft, besonnen und auf die beste, d.h. gerechteste Art und Weise, zu reagieren. So heißt es in der Lesung:

4:76 Und was ist mit euch, dass ihr nicht auf dem Weg Gottes kämpft. Und die Geschwächten von den Männern, den Frauen und den Kindern, diejenigen sagen: Unser Herr, bring uns aus dieser Ortschaft heraus, deren Leute ungerecht sind, und mache für uns deinerseits einen Verbündeten und mache für uns deinerseits einen Helfer.

Hanif

4:135 O ihr, die ihr glaubt, tretet für die Gerechtigkeit ein und legt Zeugnis für Gott ab, auch wenn es gegen euch selbst oder gegen die Eltern und die Angehörigen sein sollte. Wenn es sich um einen Reichen oder einen Armen handelt, so hat Gott eher Anspruch auf beide; folgt also nicht (euren) Neigungen, anstatt gerecht zu sein. Wenn ihr (das Zeugnis) verdreht oder davon ablaßt, so hat Gott Kenntnis von dem, was ihr tut.

Khoury

5:8 O ihr, die ihr glaubt, tretet für Gott ein und legt Zeugnis für die Gerechtigkeit ab. Und der Haß gegen bestimmte Leute soll euch nicht dazu verleiten, nicht gerecht zu sein. Seid gerecht, das entspricht eher der Gottesfurcht. Und fürchtet Gott. Gott hat Kenntnis von dem, was ihr tut.

Khoury

49:9 Und wenn zwei Gruppen von den Gläubigen einander bekämpfen, so stiftet Frieden zwischen ihnen. Wenn die eine von ihnen gegen die andere in ungerechter Weise vorgeht, dann kämpft gegen diejenige, die in ungerechter Weise vorgeht, bis sie zum Befehl Gottes umkehrt. Wenn sie umkehrt, dann stiftet Frieden zwischen ihnen nach Gerechtigkeit und handelt dabei gerecht. Gott liebt die, die gerecht handeln.

Khoury

60:6-9 In ihnen war für euch bereits ein schönes Beispiel, für den, der seinen Herrn und den letzten Tag zu erwarten pflegte. Und wer sich abkehrt, so gewiss, Gott ist der Reiche, der Lobenswerte. Möge Gott zwischen euch und denjenigen von ihnen, mit denen ihr euch verfeindetet, Zuneigung machen. Und Gott ist mächtig und Gott ist vergebend, gnädig. Gott unterbindet euch nicht, dass ihr zu denjenigen, die euch weder in der Lebensordnung bekämpften noch euch aus euren Wohnstätten hinaustrieben, redlich und gerecht seid. Gewiss, Gott liebt die Gerechten. Gott unterbindet euch nur, dass ihr euch mit denjenigen verbündet, die euch in der Lebensordnung bekämpften, euch aus euren Wohnstätten hinaustrieben und eurer Vertreibung Rückhalt gaben. Und wer sich mit ihnen verbündet, solche sind dann die Ungerechten.

Hanif

In diesen Tagen sind wir Zeugen eines völkerrechtswidrigen – und auch koranisch verbotenen (2:190-193) – Angriffskriegs gegen die Ukraine und zahlreicher Kriegsverbrechen[2] durch die russische Föderation unter Präsident Putin. Täglich werden Menschen getötet, sowohl ukrainische als auch russische Staatsbürger. Allein in der Stadt Butscha (nordwestlich von Kiew) wurden an einem Tag mehr als 50 ukrainische Zivilisten umgebracht.[3] Es handelte sich hierbei um keine Inszenierung.[4] Dieser Krieg zeigt uns die schrecklichen Konsequenzen des autoritären Wahns machthungriger Herrscher in der pharaonischen Tradition gemäß der Lesung.[5]

Dieser Krieg zwingt Menschen Haus und Heim zurückzulassen und Schutz in anderen Ländern zu suchen: Von den mittlerweile mehr als fünf Millionen geflüchteten Ukrainern hat z.B. Deutschland über 379.000 überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen aufgenommen.[6] In Deutschland wird daran gearbeitet ihnen sofortige Teilhabe und Perspektiven zu eröffnen.[7]

Nicht gerechtfertigt ist jedenfalls, wenn nicht alle Geflüchteten gleichermaßen willkommen geheißen werden in Deutschland und anderen Staaten:

  • Die EU-Kommission entschied nach Kriegsausbruch Ende Februar erstmals, für ukrainische Geflüchtete die sog. „Massenzustrom-Richtlinie“ für alle Mitgliedsstaaten zu aktivieren. Hieraus besteht das Recht auf Sozialleistungen, Bildung, Unterkunft, Arbeitserlaubnis sowie freie Wahl des EU-Schutzlandes. Erleichterungen, die den 890.000 mehrheitlich syrischen Geflüchteten der Jahre 2015/16 nicht zugutekam[8];
  • Es gibt Vorwürfe, wonach ethnisch nicht aus der Ukraine stammende Menschen der Grenzübergang von der Ukraine nach Polen aus rassistischen Gründen verwehrt wurde[9];
  • Nicht-osteuropäischen Geflüchteten wurden und wird an der polnisch-belarussischen Grenze[10] vom Asylrecht in der EU abgehalten[11], welches ihnen zusteht[12];
  • Tausende afghanischer Ortskräfte wurden nach dem Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan den Taliban und damit der Todesgefahr schutzlos überlassen[13];
  • In Bihać in Bosnien-Herzegowina vegetieren Geflüchtete aus Afghanistan, Irak und weiteren Ländern vor sich hin.[14] Seit 2013 sind über 200 Geflüchtete beim Grenzübertritt gestorben[15];
  • In Griechenland werden 14.000 ukrainische Geflüchtete – nach den Worten des griechischen Migrationsministers Notis Mitarachi „wahre Flüchtlinge“ – unbürokratisch und widerstandslos aufgenommen[16], während die vergessenen Geflüchteten in den Insellagern seit unserem letzten Aufnahme-Apell[17] zwar würdigere Umstände[18], aber keinen offenen Zugang zum Arbeitsmarkt genießen[19]; andere Geflüchtete werden durch illegale Push-Back-Aktionen von der Einreise auf griechisches Festland abgehalten[20];
  • Anfang April starben mehr als 90 Menschen im Mittelmeer (!) – der EU fiel bisher nichts anderes ein als die Sicherung der Meergrenzen durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex, der illegale Push-back-Maßnahmen vorgeworfen wurden[21]

Das sind nur einige Beispiele europäischer Ungleichbehandlung von Geflüchteten, die dem grund- und menschenrechtlichen Gebot menschlicher Gleichheit widerspricht.[22]

Eine Ursache hierfür kann die ungleiche Aufmerksamkeit für menschliches Leid in Kriegsgebieten weltweit sein:

  • Durch den Krieg in der Ukraine wird die Lebensmittelversorgung im vom Krieg gebeutelten Jemen noch schwieriger[23]; ein positives Zeichen ist der erste nach sieben Jahren Krieg am 02.04.2022 geschlossene zweimonatige Waffenstillstand;
  • Mit 6 Millionen Inlandsvertriebenen, 5,6 ins Ausland Geflüchteten und über 500.000 Toten dauert der verheerende Krieg in Syrien schon 11 Jahre an[24] – wegen der Hilfe von Russland ohne irgendwelche Konsequenzen für den Tyrannen Baschar Al-Assad[25]. In Nordsyrien und Nordirak werden Siedlungen kurdischer Zivilisten wiederholt völkerrechtswidrig von der türkischen Luftwaffe bombardiert[26];
  • Allein zwischen dem 23. und 24.04.2022 sind bei Auseinandersetzungen in Darfur (Sudan) zwischen arabischen Nomaden und der Minderheit der Massalit mehr als 160 Menschen getötet sowie Zehntausende vertrieben worden[27];
  • Im schon über einjährigen bewaffneten Konflikt zwischen der äthiopischen Regierungsarmee und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) kam es zu systematischen Massenvertreibungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und brutalen Tötungen.[28]

Diese Liste ließe sich mit weiteren Kriegsschauplätzen und -verbrechen füllen, die wenig beachtet werden. Doch genügt dies, um klarzumachen: Es herrscht in der breiten Öffentlichkeit eine selektive Solidarität sowie ungleiche Wahrnehmung für menschliches Leid vor.

Teilweise ist dieser auf einem strukturellen Rassismus in den europäischen Gesellschaften zurückzuführen. Es handelt sich hierbei nicht um einen undifferenzierten Rassismusvorwurf à la Putin[29], sondern einen durch unmittelbares Erleben erfahrbaren und wissenschaftlich festgestellten[30] Rassismus – ein „Rassismus, der mörderisch ist“, wie es Jean Ziegler nennt.[31]

Wir wollen einen Wandel in unserer Wahrnehmung von Geflüchteten und Krisenherden dieser Welt anstoßen.

Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben![32]

Wenn Europa richtigerweise über vier Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen kann, dann müssen andere Geflüchtete in Not dieselbe Hilfe erfahren.

So heißt es in der Lesung:

34:9 Haben sie denn nicht auf das geschaut, was vom Himmel und von der Erde vor ihnen und was hinter ihnen ist? (…)

Khoury

9:118 Auch gegenüber den Dreien, die zurückblieben, bis die Erde über ihnen trotz ihrer Weite eng wurde und ihr Selbst ihnen eng wurde, so dass sie merkten, es gibt keinen Zufluchtsort vor Gott außer bei ihm. (…)

Hanif

In diesem Sinne beten wir zu Gott, er möge uns unsere Brüste weiten und Liebe für alle unsere Mitmenschen darin säen. Möge Gott unseren Blick für menschliches Leid weltweit öffnen.

Im Wissen, dass in jedem Menschen unabhängig der Herkunft und religiösen Zugehörigkeit der Hauch Gottes ist (15:29), der ihnen auch ihre Würde und Grundehre verleiht (17:70), ist jeder Mensch ohne Ausnahme mit Gott verbunden. So ist jede Lebensgeschichte unserer Mitmenschen mit ihren Hoffnungen und Träumen, ihrem Klagen und ihren Schmerzen gleich wichtig, da sie alle das göttliche Licht in sich tragen.

Wir danken Gott für alle individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Entwicklungen im Ramadan. Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie einen segensreichen Abschluss des Fastenmonats! Mögen Sie das im Ramadan erworbene Licht hinein das weitere Jahr tragen.

Frieden sei mit Ihnen und Ihren Familien!


[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt.

[2] Fragen und Antworten: Ukraine-Krieg vor den Gerichten (lto.de)

[3] Ukraine-Krieg: UN sieht Anzeichen für zahlreiche russische Kriegsverbrechen | ZEIT ONLINE

[4] Butscha: Ukrainisches Militär legt in diesem Video keine Leichen aus (correctiv.org)

[5] Vgl. unseren Podcast zum Thema Autoritarismus: Was Dir noch nie über den Islam gesagt wurde #9 Autoritarismus – YouTube

[6] Krieg gegen die Ukraine: Mehr als fünf Millionen Flüchtlinge | tagesschau.de

[7] Beratungen zu ukrainischen Geflüchteten: Sozialverbände fordern mehr Unterstützung | tagesschau.de

[8] Ukraine-Krieg: Werden Flüchtlinge unterschiedlich behandelt? – Business Insider

[9] Krieg in der Ukraine: Schwarze Menschen an Flucht gehindert? | tagesschau.de

[10] Lukaschenko gegen die EU – Wie Belarus Geflüchtete als Druckmittel einsetzt | deutschlandfunk.de

[11] A Tale of Two Borders – Verfassungsblog

[12] Migrationspolitik: Die Situation an der EU-Außengrenze – Interview Olaf Kleist | deutschlandfunk.de

[13] »Ortskräfte aus Afghanistan zu retten, ist eine juristische Verpflichtung« | PRO ASYL

[14] Bosnien und Herzegowina : Bihac und die Flüchtlinge (br.de)

[15] Gewalt gegen Flüchtlinge auf der Balkanroute – Wo das Recht mit Füßen getreten wird | deutschlandfunkkultur.de

[16] Griechenland: Mit „echten“ gegen „unechte“ Flüchtlinge | tagesschau.de

[17] Communiqué: Appell zur Rettung unserer geflüchteten Mitmenschen von den griechischen Inseln – Al-Rahman (alrahman.ch)

[18] ÖVP-Menschenrechtssprecherin Kugler besucht Flüchtlingslager auf Samos und Lesbos mit der parlamentarischen Versammlung der OSZE | ÖVP Parlamentsklub, 25.03.2022 (ots.at)

[19] Migration in Griechenland – Flüchtende erster und zweiter Klasse · Dlf Nova (deutschlandfunknova.de)

[20] Griechenland benutzt Migranten für Pushbacks von Asylbewerber*innen | Human Rights Watch (hrw.org)

[21] Geflüchtete in Griechenland: Frontex wusste von Menschenrechtsverletzungen – und tat nichts – DER SPIEGEL

[22] Über die Grenzen des Rechts – Verfassungsblog

[23] Humanitäre Krise: Hält die Waffenruhe im Jemen? | tagesschau.de

[24] Syrien: Assads Krieg dauert nun elf Jahre | tagesschau.de

[25] Russlands Krieg in Syrien: Putins Blaupause | tagesschau.de

[26] Kurdistan: Warum verurteilen wir den Krieg Russlands, aber nicht den der Türkei? | ze.tt (zeit.de)

[27] Gewalt in Darfur verschlechtert medizinische Versorgung | Aktuell Afrika | DW | 27.04.2022

[28] Menschenrechtsorganisationen: Kriegsverbrechen in Tigray – ZDFheute

[29] Putins Krieg gegen die Ukraine: „Entnazifizierung“ als Vorwand | tagesschau.de

[30] Vgl. das Buch „Wozu Rassismus?“ von Aladin El Mafaalani.

[31] Ukraine-Flüchtlinge: Ist das Vorgehen der EU rassistisch? | NDR.de – Kultur

[32] Eine andere Flüchtlingspolitik ist möglich! | PRO ASYL