Koran

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Mit Ausnahme von Sure 9 beginnt jede Sure im Koran mit dieser Einleitung. Doch warum ist das so? Warum heißt es „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen“? Warum nicht bloß „Im Namen Gottes“? Gott hat bekanntlich viele Namen im Koran. Ihm gehören die schönsten Namen (7:180, 17:110). Warum beginnen die Suren nicht mit „Im Namen Gottes, des Allhörenden, des Allwissenden“? Oder mit „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, des Einzigen“? Welches Geheimnis steckt hinter genau dieser Einleitung?

Um dem auf die Schliche zu kommen, ist es notwendig, sich mit dessen arabischen Original zu befassen. Da heißt es: Bismi Llāhi ir-Ramāni ir-Raḥīm. Es kommen die drei Namen Allāh, ar-Ramān, ar-Raḥīm vor. Um diese besser einordnen zu können, beschäftigen wir uns zudem mit dem Glaubensbekenntnis der Gottergebenheit in Bezug auf die Einheit Gottes (arab.: tauḥīd), welches nicht nur durch den allseits bekannten Satz „Es gibt keinen Gott außer Gott!“ (arab.: lā ilāha illa Llāh) zum Ausdruck kommt. Vielmehr geht es um zwei Hauptaspekte dieser Einheit: die Einheit in Gottes Herrschaft (arab.: tauḥīd ar-rubūbiyyah) und die Einheit in Seiner Göttlichkeit (arab.: tauḥīd al-ulūhiyyah). Im Arabischen stecken die Begriffe rabb und ilāh dahinter. Beide beziehen sich auf Gott. Was sie aber voneinander unterscheidet, ist folgendes:

Rabb steht für den Herrn, den Erzieher und den Erhalter – wie Muhammad Asad ihn z.B. übersetzen würde. Vergleichbar ist die Beziehung zwischen Rabb und den Menschen mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Geprägt von bedingungsloser Liebe und von einer tiefen Bindung zu uns erklärt uns Gott als Schöpfer die Welt, wie sie erschaffen wurde, welche Gesetzmäßigkeiten ihr unterliegen und was mit ihr nach unser aller Ableben geschieht. Ebenso gibt es viele Erklärungen, was die Schöpfung des Menschen, seine Beschaffenheit sowie seine natürliche Veranlagung anbelangt. Er erklärt uns die Notwendigkeit von Moral und Ethik und prägt Gleichnisse und Geschichten, damit wir unsere Lehren daraus ziehen. Es gibt zahlreiche Verse in verschiedenen Suren, die Seine Zeichen für uns ausführlich darlegen, und viele Geschichten über Noah, Abraham, Moses, Jesus u.a. im Koran. Die göttliche Erziehung zielt darauf ab, aus dem mit Vernunft versehenen Menschen ein mündiges und selbstbestimmtes Wesen zu machen, welches Herr über sein eigenes Schicksal wird und eigenverantwortlich seinen Lebensweg bestreiten kann.

Dass es im Rahmen dieser Erziehung manchmal ganz klare Regeln geben muss, liegt in der Natur der Sache. Denn der Mensch muss seine geistige Reife erst im Laufe von vielen Jahren erwerben, damit er eben überhaupt vernünftig und selbstbestimmt handeln kann. Nicht umsonst lautet die erste Aufforderung in Seiner allerersten Offenbarung gegenüber Muḥammad: „Lerne im Namen deines Herrn!“ (96:1). Und genau hier setzt der Begriff des Ilāh an. Er ist der Bestimmer, derjenige, der Ge- und Verbote formuliert und der Anweisungen und Empfehlungen erlässt. Überall dort, wo es heißt, dieses oder jenes sei arām (z.B. 6:151-153, 7:33), wenn wir z.B. Spionage und üble Nachrede zu unterlassen haben (49:12) oder wenn uns empfohlen wird, uns dem Gebet nicht im Rauschzustand zu nähern (4:43), ist der Ilāh am Werk. All diese Bestimmungen – gleich welcher Art – haben den Zweck, die Lebensordnung aufrecht zu erhalten und uns als gleichwertige Menschen untereinander nicht zu spalten. Dazu heißt es im Koran: „Er (Gott) hat euch von der Lebensordnung festgelegt, was Er Noah anbefahl und was Wir dir eingegeben haben und was Wir Abraham, Moses und Jesus anbefahlen: Haltet die (Bestimmungen der) Lebensordnung aufrecht und spaltet euch nicht darin. (…)“ (42:13).

Wenn der Versuch unternommen werden könnte, den Koran ganz grob zu kategorisieren, dann könnte er in folgende zwei Teile unterteilt werden: in einen deskriptiven und einen normativen. Unter letzterem könnten alle Ge- und Verbote, Anweisungen, Empfehlungen Gottes subsumiert werden, die in welcher Form auch immer im Koran auftauchen (allen voran die Aufforderungen zum Lernen in 96:1), während der deskriptive Teil alle Gleichnisse, Erzählungen und Darlegungen in Bezug auf Seine Zeichen umfasst, wie sie eben in Bezug auf Rabb angeführt wurden. Man kann sagen, der Koran beinhaltet (mindestens) zwei voneinander zu trennende Bücher: das Buch der Erzählungen – wenn man dies so formulieren möchte – und das Buch der Bestimmungen. Und wenn wir, wie oben, von einem Rabb und einem Ilāh sprechen, dann ist Rabb der Verfasser des Buchs der Erzählungen und Ilāh der Verfasser des Buchs der Bestimmungen. Und es geht sogar noch weiter: Ar-Raḥmān ist der Name Gottes in Bezug auf Seine Eigenschaft als Rabb (tauḥīd ar-rubūbiyyah) und Allāh ist der Name Gottes in Bezug auf Seine Eigenschaft als Ilāh (tauḥīd al-ulūhiyyah). D.h., ar-Raḥmān ist der Verfasser des Buchs der Erzählungen und Allāh der Verfasser des Buchs der Bestimmungen. Somit hätten wir die Einleitung bismi Llāhi ir-Raḥmān behandelt. Und was ist mit ar-Raḥīm?

Kein Buch der Welt wird ohne eine ihm zugrundeliegende, allgemeine Intention geschrieben. Das Gleiche muss auch für Gottes Buch gelten, oder besser gesagt: für Gottes beide Bücher. Und wenn es dementsprechend eine göttliche Intention geben muss, muss sie zwangsläufig gut sein? Wir sind auf die Namen Gottes Allāh und ar-Ramān eingegangen. Beides sind Namen, die Gegensätze in sich vereinen. Im Koran tauchen oft Begriffspaare auf, die Gott in Seinem Wesen beschreiben. Er ist gleichzeitig der Erste und der Letzte, der Offenkundige und der Verborgene, der Barmherzige und der Strafende. Dies gilt auch für den Namen ar-Ramān, auch wenn dieser Begriff im Deutschen als „Allerbarmer“ übersetzt wird und aufgrund des darin steckenden Begriffs des „Erbarmens“ positiv belegt ist. Im Koran ist ar-Ramān neutral, ein Oberbegriff, gleichrangig mit Allāh:

17:110 Sprich: Ruft Allāh oder ruft ar-Ramān an. Welchen ihr auch ruft, Sein sind die schönsten Namen. (…)

Mit anderen Worten: Die schönsten Namen Gottes können nicht nur unter Allāh, sondern auch unter ar-Ramān subsumiert werden. Daher wird von nun an im Zuge der Übersetzung des Korans in Deutschen ar-Ramān im arabischen Original beibehalten. Und wenn Allāh gleichzeitig barmherzig und strafend sein kann – dafür gibt es unzählige Beispiele im Koran –, so gilt dies auch für ar-Ramān:

7:156 (…) Er sagte: Mit meiner Strafe treffe ich, wen Ich will, aber meine Barmherzigkeit umfasst alles. (…)

19:45 O mein lieber Vater, ich fürchte, dass dir Strafe von ar-Ramān widerfährt, sodass du zu einem Gefolgsmann des Satans wirst.

19:61 … in den Gärten Edens, die ar-Ramān Seinen Dienern im Verborgenen versprochen hat. Sein Versprechen wird erfüllt.

Wenn es dann zu Beginn einer Sure bismi Llāhi ir-Ramān heißt und die Einleitung bis hierhin als neutral angesehen werden muss, welcher Teil von Allāh und ar-Ramān verfasst die beiden Bücher des Koran? Der Barmherzige oder der Strafende? Der Vergebende oder der Strenge? Jemand, der es mit dem Menschen gut meint oder nicht? Welche Beziehung stellt Gott mit den Menschen im Koran her? Erzählungen können auf viele verschiedene Wege formuliert werden. Sie können ermutigend oder entmutigend sein. Sie können dem Menschen gegenüber wohlwollend oder missgünstig sein. Sie können aufbauend oder zerstörerisch wirken. Dasselbe gilt auch für das Buch der Bestimmungen.

Anders als ar-Ramān ist ar-Raḥīm kein Oberbegriff. Er ist Teil eines Gegensatzpaares, dessen anderer Pol der Strafende oder der Strenge im Strafen ist. Im Arabischen heißt es dann schadīd-ul ´aḏāb. Und wenn ar-Raḥīm von Ramah kommt und Barmherzigkeit bedeutet, dann ist ar-Raḥīm der Barmherzige. Somit kann ar-Ramān gleichzeitig der Barmherzige (ar-Raḥīm) und der Strenge im Strafen (schadīd-ul ´aḏāb) sein. Doch worin besteht genau die Barmherzigkeit? Wie lässt sie sich anhand der Verse im Koran definieren?

Barmherzigkeit besteht zwischen zwei Parteien, von denen Gott einer sein kann, es aber nicht zwingend muss. Sie besteht für den Barmherzigkeit Gewährenden darin, aus Mitgefühl sein Herz zu öffnen, die Not des anderen Menschen wahrzunehmen und entsprechend zu handeln, indem er ihn mit etwas bevorzugt oder begünstigt. Es kann beispielsweise die Not eines Kindes sein, welches auf einem Fahrrad, das er noch nicht beherrscht, nicht zurechtkommt. Barmherzigkeit ist in diesem Falle die helfende Hand, die es benötigt, um dem Kind das Fahrradfahren beizubringen. Barmherzigkeit kann in einem simpleren Beispiel auch ein Stein sein, der aus der Fahrbahn entfernt wird, damit andere Verkehrsteilnehmer keinen möglichen Schaden dadurch erleiden. Barmherzigkeit wirkt sich ausschließlich positiv für den/die Empfangenden aus. Es ist etwas, das weiterhilft und Freude bereitet. Denn das tut es für das Kind in unserem ersten Beispiel mit Sicherheit. Die Konsequenzen für den Barmherzigkeit Empfangenden sind im Allgemeinen mildernde Umstände, eine signifikante Verbesserung der Ausgangssituation und ein Mehr an Ressourcen und/oder Möglichkeiten.

Die Not des Empfangenden kann selbst- oder fremdverschuldet sein. Was jedoch charakteristisch für die Barmherzigkeit ist, ist, dass der Empfangende es nicht schafft, mit eigenen Mitteln aus seiner Situation herauszukommen – entweder weil er körperlich oder geistig nicht mehr in der Lage dazu ist oder weil er die nötige Reife oder Kompetenz noch nicht besitzt. Somit muss es in der konkreten Situation ein Gefälle zwischen dem Barmherzigkeit Gewährenden und dem Empfangenden geben. Wer selbst kein Fahrrad fahren kann, kann es auch keinem anderen beibringen.

Eindrücklich sind in diesem Zuge die Gleichnisse und Erzählungen, die es im Koran hierzu gibt. Dazu gehört die Sure 21 (Verse 51-92), in denen vom Leben vieler Propheten berichtet wird: von Noah und Lot, die ihrem Volk zu entkommen versuchten, es aber nicht schafften; von Ayyūb, dem großes Unheil widerfuhr und keinen Ausweg fand; von Dhu-n Nūn (Jonas), der vor seinem Schicksal floh, weil ihm seine Mitmenschen nicht glaubten; oder von Zakariyyah, der unbedingt Nachwuchs wollte, jedoch nie ein Kind bekam. Jeder von ihnen befand sich in seiner eigenen Notlage, so erbarmte sich Gott ihrer. Noah und Lot gelangen die Flucht und ihre Völker sind untergegangen. Ayyūb bekam seine Familie wieder und „nochmal die gleiche Zahl dazu“. Dhu-n Nūn akzeptierte sein Schicksal und nahm seinen Auftrag wieder auf. So glaubten sie ihm am Ende doch. Und Zakariyyah bekam letztlich doch einen Sohn, nachdem seine Frau wieder gebärfähig wurde. Ihnen allen gewährte Gott Barmherzigkeit. Er half ihnen aus Mitgefühl in ihrer Notsituation und verbesserte dadurch die Lage aller.

Und so ist auch der Koran an sich – die Botschaft, die Muḥammad seinerzeit erhielt – eine Barmherzigkeit für die Weltenbewohner (21:107). Gott tut dies aus Mitgefühl für uns angesichts der Tatsache, dass sich heute 8 Milliarden Menschen einen einzigen Planeten mit endlichen Ressourcen teilen. Jeder Mensch hat seinen eigenen Willen, seine eigenen Bedürfnisse und seine eigenen Wünsche und Träume (21:92). Und so kommt es nicht von ungefähr, dass es in diesem Wetteifern Gewinner und Verlierer gibt. Das entspricht auch dem Einwand, den die Engel vor der Schöpfung des Menschen erbrachten, als sie befürchteten, dass durch ihn viel Unheil angerichtet und viel Blut vergossen wird (2:30). Ein Blick ins Weltgeschehen reicht aus, um ihnen Recht zu geben. Doch es besteht Hoffnung in Form des Korans, der jedem zur Verfügung steht, der ihn annimmt – eine Barmherzigkeit Gottes, die uns dabei hilft, das zu erkennen, was wir noch nicht erkannt haben, damit wir uns gegenseitig aus einer misslichen Lage heraushelfen können. Der Koran hat das Potential, in jeglicher Lebenssituation zu helfen. Er liefert Hilfestellungen im individuellen, im kulturell-religiösen und im gesellschaftlichen Bereich. Barmherzigkeit ist die Intention, die den beiden Büchern Gottes zugrunde liegen – dem Buch der Erzählungen von ar-Ramān und dem Buch der Bestimmungen von Allāh. Sowohl die Erzählungen als auch die Bestimmungen sind dazu gedacht, Gedankenanreize zu schaffen, und helfen uns dabei, zu erkennen, worauf es im Leben wirklich ankommt und was richtiges Handeln ausmacht.

Barmherzigkeit oder Ramah ist ein gutes Beispiel hierfür. Im Buch der Erzählungen fanden wir jene Praxisbeispiele der Propheten, wie sie oben in Sure 21 angeführt wurden. Sure 19 bedient sich einer abgewandelten Perspektive auf dieses Thema und stellt insbesondere das Gegensatzpaar Barmherzigkeit und Strafe ausführlich und detailliert erklärt gegenüber. Insgesamt kommt die Wortwurzel ra`-ḥa`-mīm, aus der die Begriffe Ramah und ar-Raḥīm abgeleitet werden, im Koran 339-mal vor. Dementsprechend viel kann über die Barmherzigkeit gelernt werden.

Im Buch der Bestimmungen erfahren wir mehrere Anweisungen, die des Erfahrens von Barmherzigkeit dienstlich sind. Beispiele sind:

  1. Lerne in Namen deines Herrn! (96:1) -> lebenslanges Lernen erforderlich!
  2. (…) Und Meine Barmherzigkeit umfasst alles. Ich werde sie denjenigen gewähren, die achtsam sind, zur Läuterung beitragen und die an unsere Zeichen glauben! (7:156) -> Achtsamkeit, Läuterung und aufrichtiger Glaube erforderlich!
  3. So sei standhaft in Bezug auf das Urteil deines Herrn und sei nicht wie der Gefährte des großen Fisches [Jonas, s.o.], als er voller Gram rief! (68:48) -> Standhaftigkeit erforderlich!
  4. Die Gläubigen sind einander Geschwister. So stiftet Verbesserung zwischen euren Geschwistern und seid euch Gottes bewusst, auf dass ihr Barmherzigkeit erlangen möget! (49:10) -> Zwischenmenschliches Verantwortungsbewusstsein erforderlich!

Das ist auch der Grund, warum es am Anfang fast jeder Sure nicht bloß „Im Namen Gottes“ heißt, „Im Namen Gottes, des Allhörenden, des Allwissenden“ oder „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, des Einzigen“. Es heißt auch nicht „Im Namen Allāhs, ar-Ramāns, des Ersten (arab.: al-`Awwal)“, „Im Namen Allāhs, ar-Ramāns, des Letzten (arab.: al-`Āchir)“ oder „Im Namen Allāhs, ar-Ramāns, des Strengen im Strafen (arab.: schadīd-ul ´aḏāb). Gott hat sich selbst Barmherzigkeit verordnet (6:12, 6:54) und jedes Mal, wenn wir uns hinsetzen, den Koran öffnen und die Einleitung lesen, ist diese eine Erinnerung für uns, alles Alltägliche hinter uns zu lassen, kurz innezuhalten und uns vollständig Seiner Barmherzigkeit für alle Menschen, dem Koran, hinzugeben und von ihr zu lernen, auf dass sie uns das Tor zu vielen anderen Barmherzigkeiten Gottes öffnet, die wir erhalten können. Deswegen heißt es am Anfang (fast) jeder Sure:

„Im Namen Allāhs, ar-Ramāns, des Barmherzigen“

Sonnenuntergang Mann breitet seine Arme aus

In jedem Menschen steckt eine Kalifin!

2:30 „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich werde auf der Erde einen Nachfolger1 hinterlassen!‘, sagten sie: Lässt du darauf solch einen, der Verderben stiftet und Blut vergießt, wo wir dich mit Lob preisen und dich heiligen. Er sagte: Ich weiß, was ihr nicht wisst.“

Hanif-Übersetzung (alquran.eu)

Schon mal aufgefallen, dass das arabische Wort für „Nachfolger“, also chalīfah (arab.: خليفة), eigentlich weiblich ist? Seltsam, oder? Denn die männliche Form wird im Arabischen nicht verwendet. Sie gibt es nicht mal! Und wenn man an dessen eingedeutschte Version denkt, also das Wort „der Kalif“ oder „das Kalifat“, dann schauert es in der Regel nicht nur dem Otto-Normal-Muslim überall auf der Welt. Zu groß ist das Unheil, das unter diesem Banner in manchen Teilen der Welt verbreitet wurde, sodass sich im Grunde jeder Mensch, der etwas auf Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit gibt, naturgemäß von diesen schrecklichen Barbareien distanziert und jeder Muslim deren weltfremden Auslegung des Korans den Kampf ansagen sollte.

Gehen wir weiter in die Geschichte zurück, so kommen in der Regel nur männliche Kalifen in den Sinn – Abū Bakr, Omar oder Uthmān. Während Ersterer sich noch „Nachfolger des Propheten“ (arab.: chalīfat rasūlillāh, خليفة رسول الله) nannte, ging Uthmān zum Namen „Nachfolger Gottes“ (arab.: chalīfatullāh, خليفة الله) als Bezeichnung seines Postens über. Keinem von ihnen sowie von denen, die nach ihnen kamen, ist dabei je in den Sinn gekommen, die männliche Version, also chalīf (arab.: خليف), zu verwenden, so wie wir es im Deutschen tun.

Und dennoch ist der Begriff „chalīfah“ bzw. das deutsche Wort „Kalif/Kalifat“ heutzutage in der breiten Mehrheit trotz aller Distanzierungen und andersartiger Auslegungen des Islams wie kaum ein anderer Begriff zum Sinnbild des Patriarchats geworden, wonach – bildlich gesprochen – der große, grimmige und vollbärtige Mann das Weltgeschehen bestimmt und die kleine, schwache Frau von der Öffentlichkeit verbannt wird. Geht es strikt nach der Tradition, so hat die Frau bestenfalls Haushalt und Kinder zu hüten, sich in der Öffentlichkeit mehr oder minder stark zu bedecken und dem Mann bedingungslos zu gehorchen. Mal mehr mal weniger schlimm geht es heutzutage tatsächlich noch in vielen muslimischen Familien in Deutschland zu. Manchmal ist es offensichtlich, manchmal verstecken sich derartige traditionalistische Züge hinter der Fassade angeblicher Aufgeklärtheit und Offenheit.

„Das Diesseits ist das Gefängnis des Gläubigen!“ heißt es in einer allgemein bekannten Überlieferung des Propheten. Ich sage: Der Glaube ist das Gefängnis des Gläubigen. Jedenfalls jener uns überlieferte, traditionelle Glaube, der uns vererbt wurde und seit Jahrhunderten so oder so ähnlich praktiziert wird – jener Glaube, dem nicht nur Frauen und Kinder zum Opfer fallen, sondern der den Anspruch hat, für jeden Einzelnen, ob Mann, Frau oder Kind, sämtliche Lebensbereiche bis ins kleinste Detail zu reglementieren. Damit nimmt er dem Einzelnen die Luft zum Atmen und den Raum zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Als solcher Gläubiger lernt man nicht unbedingt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und so zu leben, wie man es für richtig hält. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sind Fremdwörter im traditionellen Glauben. Und wenn man sich die entsprechende Literatur anschaut, die uns nun seit Jahrhunderten erhalten blieb, so wimmelt sie nur so von unzähligen Vorschriften, die wir im Alltag im Hier und Jetzt umzusetzen haben.

Mann und Frau haben in Moscheen getrennte Räume zu betreten. Man hat mit der rechten Hand zu essen. Und die anderen, die Nicht-Muslime, sind anders als wir. Drum haben wir Abstand von ihnen zu nehmen. Dies sind nur drei von etlichen Beispielen für Vorschriften, die es gibt. Und wer sich nicht an diese Vorschriften hält, gilt schnell als Abtrünniger. Es sind Vorschriften, die meines Erachtens nichts mehr mit unserer heutigen Wirklichkeit zu tun haben. Warum darf sich die Frau in einer Moschee im selben Raum nicht zum Mann gesellen? Warum darf man kategorisch nicht mit der linken Hand essen, wenn einem danach ist? Und warum sollen sog. „Nicht-Muslime“ anders bzw. schlechter gestellt sein als wir, die wir uns selbst „Muslime“ nennen?

Der Mensch ist ein Nachfolger Gottes. Ist damit automatisch der Mann gemeint? Also einer, der mental so schwach ist und sich vor seinen eigenen Trieben nicht sicher sein kann, wenn er in einem Gotteshaus eine Frau erblickt? Einer, der dermaßen willensschwach ist und dem ein bloßer Blick auf das Kopftuch oder das Oberteil der Frau genügt, damit er seinen eigenen Gottesdienst nicht mehr leisten und sich auf Gott nicht mehr konzentrieren kann? Einer, der die Frau somit lieber zum Sündenbock für die eigenen Unzulänglichkeiten macht und sie somit in Hinterzimmern verschließt, als sich seinen eigenen Mängeln zu stellen und an sich zu arbeiten? Einer, der die Macht des Patriarchats nutzt, um seine eigene, vermeintlich starke Position zulasten der Frau festigt?

Ich beschuldige keinen Abū Hurayrah, Schafiī oder Buchārī, die den Leuten ihrer Zeit tatsächlich ihren Dienst erwiesen haben könnten. Ich beschuldige einen jeden von uns, der selbst heute noch an solchen irrationalen Glaubenssätzen festhält und sie mit aller Macht und ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt haben möchte – Glaubenssätze, die zu familiärer Gewalt führen können, nur weil man den Löffel oder die Gabel mit der linken Hand festhält. Glaubenssätze, auf Grundlage derer pessimistisch und reaktionär auf die Welt geschaut und treu dem Motto „Bist du nicht mein Freund (also Muslim), bist du mein Feind!“ gefolgt wird. Nur weil der eine oder anderer gemäß dieser veralteten Vorschriften als „Nicht-Muslime“ gilt.

Wenn man sich dieses Sammelsurium an Vorschriften und jeden, der unentwegt daran festhält, anschaut, so scheint Angst das dominierende Gefühl zu sein – Angst um den eigenen Status und die Vorherrschaft des Mannes, Angst vor Herausforderungen, die zu jeder Zeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der muslimischen Community lauern, und Angst vor dem Wandel und dem Neuartigen, das das Leben unweigerlich bietet. Angst führt zu Unsicherheit und Unsicherheit führt zu einem Schutzwall, den man um sich herum baut, um den vermeintlichen Gefahren etwas entgegenzusetzen. Man tut dies aus vermeintlicher Stärke, doch in Wahrheit ist man schwach. Schwach, weil die Frau in vielerlei Hinsicht als potenzielle Gefahr in der öffentlichen bzw. religiösen Ordnung gilt und man sie deswegen kategorisch herabwürdigen muss. Schwach, weil man in jeder noch so alltäglichen Situation Angst vor der Strafe Gottes hat, weil man zulässt, dass der Teufel angeblich mitisst, wenn man den Löffel mit der linken Hand festhält und man denjenigen deswegen maßregeln muss. Und schwach, weil man der globalisierten Welt mit all ihren materiellen und geistigen Errungenschaften, die dem Wohl des Menschen dienen können, nichts entgegenzusetzen hat und man deswegen die „Nicht-Muslim“-Karte spielen muss, um sich künstlich und trotz allen Fortschritts der anderen über sie zu stellen. Angst ist hochgradig ansteckend und wirkt sich auf die Kindererziehung aus, sodass auch kommende Generationen Gefahr laufen, von dieser völlig vereinnahmenden Angst dauerhaft gelähmt zu werden.

Der traditionelle Glaube verkommt somit zur bloßen Verteidigung einer vor Jahrhunderten konstruierten Identität, die nicht auf der Idee des Menschen als wertvolles Geschöpf Gottes fußt, die keinen Unterschied zwischen Geschlechter oder Religionszugehörigkeiten macht. Der einzelne Mensch in seiner Besonderheit spielt keine besonders große Rolle. Genau genommen spielt er gar keine Rolle. Der Wert des Menschen bemisst sich vielmehr daran, ob er Männlein oder Weiblein ist, sich Muslim nennt und im Grad, wie konform er sein Leben mit diesen Vorschriften lebt. Vorschriften, die von großen, grimmigen und vollbärtigen Männern 1400 Jahre nach Abū Bakr, Omar und Uthmān mit Vehemenz verteidigt werden – ob im Fernsehen, in der Literatur oder im Internet. Deren Nachfolger wiederum sind die Oberhäupter in den einzelnen Familien; die Ehemänner, die Väter und die großen Brüder, die mit eiserner Hand die Geschicke leiten. Alle als Möchtegern-Kalifen und aus vermeintlicher Stärke und Überlegenheit. Im Grunde geht es jedoch nur um Macht, Männlichkeit und den Erhalt des Patriarchats mit der Folge, dass sich der einzelne Gläubige, insbesondere die Frau, auf Grundlage von Angst, Unsicherheit und einer kategorischen und pessimistischen Abwehrhaltung gegenüber alles und jeden mit der Welt in Verbindung setzt. Doch dies ist mitnichten die Essenz aus der Nachfolgerschaft Gottes auf Erden.

Wir haben bereits festgestellt, dass das Wort chalīfah eigentlich weiblich ist. Es ist so, als würde man Herr Bundeskanzlerin sagen, 50 Cent als weltberühmte, amerikanische Rapperin bezeichnen oder Omar Kalifin nennen. Und wenn man daran denkt, dass es die Frau ist, die das Kind gebärt und somit Leben in die Welt setzt – im Grunde kann sie als Schöpferin wie Gott angesehen werden –, dann müssen wir Menschen, ob Mann oder Frau, als „Nachfolgerinnen“ Gottes auf Erden die Welt und die Schöpfung in ihr so lieben, wie Gott seine Schöpfung und die Mutter ihr eigenes Kind liebt – eine Liebe, die bedingungslos ist und alle Höhen und Tiefen überdauert, einfach weil das Kind bzw. der Mensch da ist. Nicht die Angst ist dann das dominierende Gefühl in der Glaubensausübung, sondern die Liebe zu sich selbst und zu den Menschen und Dingen in der Umgebung. Liebe gehört zu den grundlegenden Prinzipien, die die Wirklichkeit durchdringen. Leben entsteht aus Liebe – die Liebe zwischen Gott und Mensch, zwischen Sonne und Blume, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, selbst im Tierreich. Liebe ist schöpferisch und gleichzeitig unerschöpflich. Und wenn wir den Geist Gottes in uns tragen, dann entsprechen wir jenem göttlichen Teil in uns, wenn wir lieben, statt hassen. Wenn wir dankbar sind statt ängstlich. Wenn wir vertrauen, statt permanent misstrauisch zu sein. Wenn wir jeden Tag neu erschaffen, statt die Welt um uns herum, für die wir die Verantwortung tragen, herabzuwürdigen und zu zerstören.  

Wer liebt, durchbricht das „Gefängnis des Gläubigen“ und stellt keine Bedingungen als Gegenleistung für die Liebe. Und wer Regeln dennoch aufstellen muss, tut dies nicht zum reinen Selbstzweck, sondern aus Liebe zum Gegenüber mit dem Zweck einer möglichst gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung. Ob Mann oder Frau, ob derjenige sich später Muslim, Christ oder Agnostiker nennt, spielt grundsätzlich keine Rolle. Liebe macht in der Hinsicht keinen Unterschied. Und es ist genau diese Bedingungslosigkeit in der Liebe, an der es im traditionellen Glauben so sehr mangelt. Man ist sehr schnell damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: Die Herzen derer oder jener sind verhärtet wie Steine (2:74). Doch wenn die Tradition über alles andere gestellt wird, dann produziert sie nichts anderes als massive Felsblöcke, die sich nicht mehr verrücken lassen.

Liebe heißt zuallererst loslassen. Leben und leben lassen. Selbst wenn es der/die eigene Partner/-in oder das eigene Kind ist. Wer liebt, dem ist es egal, ob das Besteck mit der linken oder der rechten Hand benutzt wird. Dem ist es egal, dass Mann und Frau sich in der Moschee in ein und demselben Raum aufhalten. Schließlich geht es dort um die Erfüllung spiritueller Bedürfnisse, an der alle gleichermaßen das Recht haben, und darum, in Gesprächen und Predigten voneinander zu profitieren. Wer liebt, der gönnt anderen ihre Errungenschaften, ob sie sich Muslime nennen oder nicht. Wer liebt, der lebt nicht in permanenter Unsicherheit und Angst. Wer liebt, der nimmt keine kategorische und pessimistische Abwehrhaltung gegenüber dem Rest der Welt ein. Wer liebt, wirkt schöpferisch und tritt der Welt mit offenen Armen und Augen entgegen. Er sieht das, worauf es wirklich im Leben ankommt: auf den Menschen, der Gottes Geist in sich trägt und daher das Recht hat, entsprechend den eigenen Vorstellungen zu leben, zu lieben und seine körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu erfüllen.

Natürlich schreibt die Realität ihre eigenen Geschichten und vieles, was sich in der Theorie so einfach anhört, sieht in der Praxis ganz anders aus und muss sich daher erst behaupten. Dies nicht nur, dass es unheimlich schwierig ist, Veränderungen innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft herbeizuführen – auch aufgrund des einen oder anderen Möchtegern-Kalifen, von denen oben die Rede war. Denn er möchte von dieser Art Liebe nichts wissen. Die muslimische Community hat so viel mehr verdient als die Lage, in der sie sich jetzt überall auf der Welt befindet. Potential ist definitiv vorhanden. Darüber hinaus legen die vielen Kriege, Katastrophen und Krisen, für die der Mensch verantwortlich ist, kein gutes Zeugnis über den Menschen insgesamt und das Gebot der Liebe gegenüber den Mitmenschen ab. Doch weil wir alle eben Menschen sind, die wir den Geist Gottes in uns tragen, haben wir immer die Wahl und tragen wir die Verantwortung für die gesamte Schöpfung, sodass wir dem Unheil – gleich welcher Art – mit dem entgegentreten können, mit dem wir samt unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten in der Lage sind. Die Botschaft Gottes ist eine Botschaft der Liebe oder um es mit den Worten von Navid Kermani zu formulieren: In jedem Menschen steckt eine Kalifin!  

Fußnoten:

1 Andere Übersetzungen lauten an dieser Stelle Statthalter, Stellvertreter oder Sachwalter.

Ist der Weideschuss mit dem Islam vereinbar?

Ḥalāl-Fleisch und Fleisch aus ökologischer, artgerechter Tierhaltung waren lange voneinander getrennt, so dass Muslim:innen sich entscheiden mussten, auf das eine von beiden zu verzichten. Dabei wurde bei der ḥalāl-Zertifizierung hauptsächlich auf die Art des Tötens geachtet und das vorherige Leben vernachlässigt, bei der Öko-Zertifizierung umgekehrt eine gute Lebensweise verlangt, aber die Diskussion um den Tötungsprozess kam zu kurz. Während einerseits mehr und mehr Bewusstsein über ein (möglichst) artgerechtes Leben der Tiere vor der Schlachtung in die ḥalāl-Diskussion einfließt, werden andererseits in der Bio-Haltung neue Schlachtmethoden entwickelt, die dem Tier auch am Lebensende so weit wie möglich gerecht werden. Eine dieser neuen Entwicklungen ist die Hof- und Weideschlachtung, die das Tier in seiner vertrauten Umgebung belassen und ihm dadurch jeglichen Stress ersparen soll.

Warum Weide- bzw. Hofschlachtung?

Der moderne konventionelle Schlachtbetrieb setzt die Tiere, gerade wenn sie es gewohnt sind, ihr Leben in der Herde zu verbringen, unter großen Stress, wenn sie, oft mit Zwang und Hektik verbunden, verladen und in eine neue Umgebung gebracht werden. Zur Entwicklung von der traditionellen Hofschlachtung hin zu groß ausgelegten Schlachthöfen trugen erhöhte Hygienevorschriften bei. Technische Neuerungen sollen nun die Hygiene wieder zum Hof bringen und den Tieren den Transport ersparen.

Die rechtliche Situation

Die Schweiz erlaubt diese Form der Tötung seit 2020, allerdings ist sie durch die kantonale Behörde genehmigungspflichtig. In Deutschland gilt EU-Recht, das seit April 2021 den Mitgliedsstaaten zugesteht, mobile Schlachthäuser unter Einhaltung der Hygienebestimmungen für maximal drei Rinder, sechs Schweine oder drei als Haustiere gehaltene Einhufer (das sind z.B. Pferde) zu erlauben. Damit dürfte die Bedingung hinfällig sein, dass die Tiere das ganze Jahr über auf der Weide gehalten werden. Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland gelten folgende weitere Bedingungen: Bei der Tötung muss ein:e Tierärzt:in anwesend sein, die Zeit zwischen Betäubung und Ausbluten darf 60 Sekunden bei der Hofschlachtung bzw. 90 Sekunden bei der Weideschlachtung nicht überschreiten, das Tier muss innerhalb von 45 Minuten im Schlachthof zerlegt werden. Anträge auf Genehmigung sind von Viehhalter und Schlachthof gemeinsam zu stellen.

Der Ablauf

Beim Weideschuss werden die Tiere aus der Herde heraus mit einem Gewehr aus ca. 3-10 Meter Entfernung in die Stirn geschossen; dies löst eine irreversible Zerstörung des Hirns aus und entspricht dem Hirntod; d.h. das Blut zirkuliert weiter, das Empfinden ist aber nach aktuellem Stand der Wissenschaft ausgeschaltet. In Videos ist zu sehen, wie das getroffene Tier zusammenbricht, die umstehenden Tiere stieben beim Schussgeräusch auseinander, beruhigen sich aber schnell wieder. Laut Aussagen von Landwirten ist diese Art der Tötung sowohl für das geschossene Tier als auch für die anderen Herdenmitglieder stressfrei. Das betäubte Tier wird mit einer Hebevorrichtung, z.B. einem Traktor mit Frontlader, an den Beinen angehoben, durch Stich in den Hals direkt über dem Herzen ausgeblutet und danach auf dem Anhänger zum Schlachthof gefahren.
Bei der Hofschlachtung werden die Tiere spätestens ein paar Tage vor dem geplanten Schlachttermin an das Fanggitter mit Fressplatz gewöhnt. Am Tag der Schlachtung soll das ausgewählte Tier (oder eines der schlachtreifen Tiere) freiwillig das Fanggitter betreten. Es wird dann durch Umlegen eines Metallstabs am Kopf fixiert, bevor der Betäubungsbolzen direkt am Kopf angesetzt wird. Hier wird darauf hingewiesen, dass die Tiere frühzeitig an Berührungen an Kopf und Stirn gewöhnt werden sollen, ggf. mit einer Bolzenschuss-Attrappe. In einem der Videos ist zu sehen, wie das Tier schon mit dem angesetzten Bolzen sich nach dem Futtereimer streckt, was auf seine Ruhe hindeutet.
Nach der Betäubung wird das Tier mit einer Vorrichtung über den Schlachtanhänger gehoben, mit einem Stich ausgeblutet und auf einen speziellen Anhänger gelegt, in dem es zum Schlachthof gefahren wird.
Die Hofnahe Schlachtung funktioniert ähnlich, nur ist hier das Fressgitter Teil einer Mobilen Schlachteinheit; nach der Betäubung wird das Tier in die mobile Schlachtbox gezogen und dort in Seitenlage durch einen Stich in den Hals ausgeblutet. Die gesamte Schlachteinheit wird dann zum Schlachthof gefahren, wo das Tier zerlegt wird.

Anforderungen an die Schlachtung laut Koran

Relevant für den Verzehr von Fleisch sind im Koran vor allem die Verse 2:173, 5:3-5, 6:118-121, 6:145 und 16:115, die, nachdem sie im selben oder im vorhergehenden Vers grundsätzlich alle Nahrung erlaubt haben, gewisse Einschränkungen machen, nämlich das Verbot von Schweinefleisch, Verendetem (mayta) und Blut sowie von dem, das jemand anderem als Gott gewidmet (uḥilla) wurde; in einer Notlage sollen diese Einschränkungen aber nicht gelten. Vers 6:145 spezifiziert das Blut als ausgeflossenes und erklärt das Verbot des Schweinefleischs mit dessen Unreinheit, wobei nicht eindeutig ist, ob sich die Unreinheit auf das Fleisch oder das Schwein an sich bezieht; grammatikalisch möglich wären beide Varianten. 5:3-5 weicht etwas von den anderen Versen ab: zunächst werden die Verbote vorgestellt, erst danach die grundsätzliche Erlaubnis konstatiert; zudem wird das Verendete spezifiziert als das Erwürgte, das Erschlagene, das zu Tode Gestürzte, das zu Tode Gestoßene und das von wilden Tieren Angefressene, wiederum mit der Einschränkung dessen, was geschlachtet wurde (ʾillā mā ḏakkaitum), und was auf Steinaltären geopfert wurde. 5:4 gibt darüber hinaus die Erlaubnis zur Jagd mit abgerichteten Tieren und zum Verzehr des Gejagten, es soll aber der Name Gottes darüber erwähnt werden; Vers 5:5 gibt die Erlaubnis, die guten Dinge (ṭayyibāt) sowie die Speisen derjenigen, die die Schrift bekamen (d.h. Juden und Christen, je nach Verständnis auch weitere Religionsgruppen), zu essen, so wie diesen auch die Speisen der Angesprochenen (d.h. der Muslime) erlaubt sein sollen.
Erwähnt werden ferner vorislamische Speiseverbote, die der Koran zurückweist (6:143-144) bzw. bei den Juden als Ausnahme darstellt (6:146). In den Versen 118-121 der Sure 6 schließlich wird dazu aufgefordert, das zu essen, worüber der Name Gottes gesprochen wurde, aber sich dessen zu enthalten, worüber nicht der Name Gottes gesprochen wurde (ḏukira smu llāhi ʿalaihi bzw. lam yuḏkari smu llāhi ʿalaihi). Allerdings beschränkt der Wortlaut diese Vorgabe nicht auf tierische Produkte bzw. Fleisch; zum anderen wird auch nicht gesagt, wann der Name Gottes gesprochen werden soll.

Stellung der Tiere im Koran

Die Erwähnung von Tieren im Koran geht weit über die Verse zu Schlachtung und Verzehr hinaus, ihr Funktion ist vielfältig: Einerseits werden sie in ihrer Funktion für die Menschen hervorgehoben: als Nahrung (Fleisch und Milch), Schutz (Haut und Wolle), aber auch zum Transport oder aufgrund ihrer Schönheit (z.B. 16:5-8, 66, 80; 23:21-22; 36:71-73; 43:12-13); umgekehrt symbolisieren sie aber auch (minderwertige) weltliche Werte im Gegensatz zum höherwertigen Jenseits (Pferde in 3:14) oder sind eine Versuchung (Fische in 7:163) oder gar Hilfsmittel Satans (Pferde in 17:64). Einige Tiere wie Schweine und Affen (5:60; 2:65/7:166), aber auch Esel (31:19; 62:5) symbolisieren schlechte Eigenschaften des Menschen. Andere Tiere wie der Wiedehopf (27:20-29) und die Ameise (27:18-19) haben eine aktive Rolle und sprechen mit den Menschen; ein Rabe lehrt Kain, seinen Bruder zu bestatten (5:31); die Biene erhält gar Eingebung (waḥy) von Gott (16:68-69), und generell wird über die Landtiere und Vögel gesagt, sie seien Gemeinschaften wie die der Menschen (6:38) und beteten zu Gott (24:41). Verse wie 36:71, die die Herrschaft der Menschen über die Tiere konstatieren (als Tatsache, nicht als Erlaubnis), beklagen gleichzeitig den Hochmut der Menschen, die es versäumen, Gott für diese gute Versorgung zu danken.

Ist die Weideschlachtung mit islamischen Grundsätzen vereinbar?

Orientiert man sich ausschließlich an den im Koran gemachten Vorgaben, dürfte das Hauptproblem beim Verzehr von Fleisch aus Hof- oder Weideschlachtung sein, dass in den meisten Fällen vermutlich nicht die tasmiya (Bismillah, d.h. Im Namen Gottes, vgl. 6:121) gesprochen wurde. Hier ist nun die Frage, ob man durch Vers 5:5 die Notwendigkeit der tasmiya aufgehoben sieht oder nicht, ob diese vor der Schlachtung geschehen muss oder zu einem beliebigen Zeitpunkt vor dem Essen und ob man von der Gleichsetzung der in Deutschland lebenden Menschen mit ahl al-kitāb ausgeht. Interessant ist, dass zwei der in den Videos (s.u.) interviewten Bäuer:innen die Seele des Tieres erwähnen, was zumindest für eine spirituell geprägte Grundeinstellung spricht, die der im Koran bezeugten respektvollen Haltung gegenüber Tieren als Schöpfung Gottes nahekommt.
Zum anderen muss man selbst entscheiden, ob man den Hirntod und ggf. kompletten Tod einige Sekunden bis zu 1,5 Minuten vor der Entblutung als zu mayta führend betrachtet oder nicht. Ebenso könnte man den Bolzenschuss mehr noch als den Kugelschuss mit mawqūḏatu (zu Tode gestoßen) gleichsetzen. Auch hier steht aber ggf. Vers 5:5 als generelle Erlaubnis dem Verbot entgegen.
Umgehen liessen sich beide Probleme durch eine eigene Schlachtung, die die tasmiya einschließt, und statt des Bolzenschusses die (reversible) Methode der elektrischen Betäubung wählt, die allerdings auch die Gefahr der Überdosierung (mit Folge Herzstillstand) oder Unterdosierung (und damit mangelnde Betäubung und Verstoß gegen deutsches Gesetz) birgt.
Islamische Gelehrte haben sich schon seit hunderten von Jahren mit der Frage beschäftigt, welches die Prinzipien hinter den offenbarten Aufforderungen sind, um diese auf neu aufkommende Fragen anzuwenden (die sog. maqāṣid al-šāriʿ [Ziele der Scharia]). Auch wenn Tiere in den traditionellen Zielen nicht gesondert erwähnt wurden, sind sie doch in den damals herausgearbeiteten Zielen Leben (nafs) und Nachkommenschaft (nasl) nicht explizit ausgeschlossen. Freiheit von Leid war interessanterweise nicht unter den traditionell erarbeiteten Zielen, diese sind jedoch sowieso nicht zwangsläufig die einzig möglichen. Aus dem koranischen Verbot bestimmter Tötungsarten kann man ableiten, dass der Tod, wenn er denn stattfinden soll, möglichst schonend sein soll.

Fazit

Wie oft bei Fragen des Islam lässt sich auch bei der Frage der Zulässigkeit der Hof- und Weideschlachtung keine eindeutige Antwort geben.
Wenn man die grundsätzliche Erlaubnis der Speisen über die strenge Auslegung einiger Vorschriften stellt, wird man eher dazu kommen, dass Hof- und Weideschlachtung kein Problem für den Verzehr des Fleisches darstellen.
Mir persönlich scheint die stressarme Hof- bzw. Weidetötung eher mit dem Respekt vor der Schöpfung Gottes vereinbar. Diesen Respekt kann ich bekräftigen, indem ich vor dem Essen (generell und speziell von Fleisch) bismillah sage.
Im Zusammenleben wird man aber immer vor der Problematik stehen, dass viele Muslim:innen mehr Wert auf Ḥalāl-Zertifikate legen und diese oft strengere bzw. andere Kriterien anlegen. Im Zweifelsfall bleibt die Option vegetarischer Speisen, so dass alle guten Gewissens davon essen können.

Dieser Artikel ist die Kurzfassung einer Hausarbeit; Quellen können gern erfragt werden.

Die im Text genannten Videos zur Weideschlachtung sind hier zu finden:

https://www.youtube.com/watch?v=MLwhspkLKx4
https://m.youtube.com/watch?v=hE5omWWEwWQ
https://m.youtube.com/watch?v=r6dIiFGtOcU

Weg zur Wahrheit Moschee Architektur

Mein Weg zur Gottergebenheit (, wie ich sie verstehe) #9

Es handelt sich um eine Fortsetzung meines persönlichen Blogs, den ich vor einigen Monaten in den sozialen Medien begann. Für weitere Informationen: mein Instagram– und mein Facebook-Account.

In eine traditionelle, muslimische Familie in Deutschland hineingeboren zu werden, gleicht dem Anschein der vorigen Beiträge nach einer Bürde, die einem in die Wiege gelegt wird. Natürlich kann man sich die Familie nicht aussuchen, in die man hineingeboren wird. Den Islam verlassen würde ich aber bis jetzt auch nicht verlassen. Das Potential, das ich in der jüngsten der großen Weltreligionen der Welt sehe, überwiegt im Vergleich zu deren in meinen Augen omnipräsenten Perversionen, sodass ich aus voller Überzeugung sagen kann, dass ich bisher nirgendwo anders als im Islam Inspiration und Halt für mein Leben finden konnte. Der Islam ist und bleibt Teil meiner Persönlichkeit. Ich könnte zwar äußerlich fast alles ablegen, was mich in irgendeiner Form damit verbindet. Doch die Erfahrungen bleiben und prägen mein Wirken wahrscheinlich bis ins hohe Alter. Der Glaube an eine Letzte Gerechtigkeit und an einen Gott, Der mich begleitet, alles sieht und auf höchst subtile, nur indirekt wahrnehmbare Art und Weise eingreift, währt, solange ich lebe – und das dank und gleichzeitig trotz der Erfahrungen und Erlebnisse, die mich bis heute prägen. Sie sind gleichsam mein Antrieb, der Benzin für meinen Motor, den ich brauche, um meinem Leben Sinn und Struktur zu geben, indem ich meinen eigenen Weg zur Gottergebenheit folge. Gottergebenheit – das ist das, was für mich heute „Islam“ bedeutet. Was ich darunter verstehe und wie ich letztlich zu dieser Einsicht komme, ist Teil eines Wegs, der vor etwa 13 Jahren begann.  

Umgang mit Werten und Moral zwischen den zwei Kulturen

Dass ich den Islam nicht verlasse, ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie es sich liest. Es gibt Menschen – zu denen ich auch gehöre –, die von einem tief sitzenden Ungerechtigkeitsempfinden geprägt sind. Und wenn einschneidende Lebensereignisse geschehen, die sich zum Nachteil für das eigene Selbst auswirken, dann ist die Neigung allzu menschlich, sich von deren Ursachen zu distanzieren. „Kampf“ und „Flucht“ sind in die DNA des Menschen einprogrammiert. Ich habe in einem meiner vorigen Beiträge bereits von einer „horizontalen“ und „vertikalen“ Achse gesprochen. In jenem Kontext ging es um den Umgang mit moralischen Wertvorstellungen als Mensch zwischen zwei Kulturen – der „europäischen“ und der „nahöstlichen“. Das Spektrum dieser „horizontalen“ Achse beginnt mit demjenigen, der alles Islamische von sich weist und komplett mit dem verschmilzt, was als „westliche Werte und Moralvorstellungen“ bezeichnet wird, im Sinne einer „restlosen Assimilation“. Es endet mit demjenigen, der das traditionell Islamische, Althergebrachte und seit Generationen Bewährte mit allen Mitteln schützt und alles Moderne, Westliche und Neue verabscheut. Ich nenne sie die „kompromisslosen Traditionalisten“. Die „vertikale“ Achse beschreibt die Art und Weise, wie dementsprechende, eigene Überzeugungen den Leuten im unmittelbaren Umfeld nahegelegt werden. Dieses Spektrum beginnt mit den – wie ich sie nenne – Tafkīrīs. Es sind jene, die den nahestehenden Menschen in angemessener Weise den Freiraum gewähren, den sie benötigen, um ihre eigenen Erfahrungen zu machen, und nur dann eingreifen, wenn es für nötig erachtet wird. Dessen Ende bilden die Takfīrīs, die keinen Raum für Diskussionen lassen, keine Widerrede dulden und vorschnell alles für nichtig und falsch erklären, was der eigenen Meinung zuwiderläuft. Beide Spektren haben unendlich viele Zwischenstufen, sodass im Prinzip jeder Muslim seinen eigenen Platz in folgender Veranschaulichung hat:

In meinem Fall sind es, was das Thema Religion, Werte und Moral angeht, kompromisslos traditionalistische Takfīrīs (oben rechts in der Veranschaulichung) gewesen, die meine Erziehung prägten und jede Form von geistigem Fortschrittsbewusstsein mieden. Ein solches Leben wird allein auf individuelle Religiosität reduziert. Solange man so oft, wie es geboten ist, betet, fastet und den Koran liest, sammelt man genug Hasanāt (gute Taten, die einem Menschen in metaphysischem Sinne gut geschrieben werden), um nach dem Tod das Ticket zum Paradies zu lösen. Jede Zeit, die in die Lektüre eines anderen, nicht traditionell gebilligten Buches oder bspw. ins Studium geisteswissenschaftlicher Themen investiert wird, gilt als Zeitverschwendung, von dem man sich enthalten solle. Währenddessen wird die Nahost-Krise beim Zuschauen am Fernseher in den Nachrichten gelöst und Gott bei jedem (Freitags-)Gebet um Hilfe gebeten, während jede übrig bleibende Zeit dem Kartenspiel im Teehaus oder zuhause gewidmet wird. Und als wäre dies nicht genug, verbergen sich hinter der Fassade der Religiosität nicht selten Persönlichkeitsstörungen, die zur Folge haben, dass das seelische Leben der Nahestehenden über Jahre hinweg – bewusst oder unbewusst – immense Schäden erleidet. Narzissmus, Depressionen oder Burnouts – all diese sind kleine Einzelphänomene oder -schicksale. Sie haben die Mitte der muslimischen Community längst erreicht und tiefe Wurzeln geschlagen.

Die Psyche unter stetigem Leidensdruck

In meinen jungen Jahren habe ich es für normal erachtet, dass meine Familie so ist, wie sie ist. Die Suche nach Kontakt zu anderen Menschen und Familien war seitens des Hausherren sehr überschaubar. Wir waren in der Hinsicht beileibe auch nicht die einzigen. Eine nicht zu unterschätzende Anzahl muslimischer Familien geht den Weg der sozialen Isolation in der Hoffnung, „muslimische Werte“ zu wahren und sich vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Diese gelten als „fitnah“ (externe Versuchungen, die letztlich in die Abkehr vom Islam münden würden). Als sein Nachkomme hatte ich somit kaum Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Formen familiärer Führung, sodass ich derartige Erziehungsmethoden, wie den seinen, als vollkommen normal und üblich empfand. Doch mit zunehmendem Alter merkte ich sehr wohl, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Denn mit der Zeit ergeben sich immer mehr Gelegenheiten, heimische Gegebenheiten mit denen anderer Menschen und Familien zu vergleichen. Dann verschiebt sich nämlich das „Normale“ schnell weg von den Umständen innerhalb der eigenen vier Wände hin zu denen, bei denen die Dinge anders – um nicht zu sagen, um Dimensionen fairer und würdiger – gehandhabt werden. Und dann dauert es nicht lang, bis man sich selbst die Frage stellt, warum gerade ich dieses Pech habe? Es ist dieses „gerade ich“, das einem den Boden von den Füßen ziehen und ihn in ein großes Loch stürzen lassen kann. Man lernt kennen, was bedeutet, depressiv und seelisch zerrüttet zu sein. Denn selbst wenn man irgendwann das Elternhaus verlässt, ist es unheimlich schwierig, Sinn und Lebensfreude in das eigene Leben zu bringen. Meine überaus prägende Vergangenheit hatte nämlich die unheimliche und zugleich beängstigende Kraft, mich in jeder neuen Lebenssituation einzuholen und mich mit den Scherben des Lebens zu konfrontieren – egal ob in meinem Studium, in meinem Job, in der Ehe oder in der Kindererziehung.

Schicksalsglaube und Fatalismus

Ist das mein Schicksal? Das, was Gott für mich vorgesehen hat? Dem Urteil eines traditionalistischen Takfīrīs nach heißt die Antwort an dieser Stelle eindeutig: „ja. Gott wolle uns damit nur prüfen und sehen, ob wir standhaft bleiben.“ Es handelt sich um eine Sicht der Dinge, die in mir mittlerweile tiefsten Abscheu auslöst und mich mehrmals dazu animierte, den Islam zu verlassen, weil ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, wie ein Gott vor der Schöpfung der Menschen willkürliche, mehr oder minder starke Feuertaufen für den Einzelnen festlegt, nur um zu schauen, ob derjenige das aushalten kann oder nicht. Obwohl Gott es aufgrund Seiner Allwissenheit sowieso schon vorab weiß, wie der eine oder andere Traditionalist weiter argumentiert. „Das kann es einfach nicht sein“, denke ich mir. „Was soll das Ganze dann überhaupt noch?“ Sadisten gibt es unter den Menschen genug. Ein barmherziger Gott, wie er im Islam unentwegt bezeichnet wird, kann nicht auch so sein. Das macht das Leben einfach nicht lebenswert. Darüber hinaus ist Fatalismus – der Glaube an eine als unabänderlich hingenommene Macht des Schicksals, die das eigene Handeln bestimmt – etwas, was ich schon immer aus tiefster Überzeugung ablehne und für unvereinbar mit dem Islam halte. Meines Erachtens ist er ein gefährlicher Virus, der vor vielen Jahrhunderten Eingang in die islamische Anschauung fand, muslimisches Denken über weite Strecken verseuchte und das geistige Leben unzähliger Menschen forderte. Jeder, der eine fatalistische Haltung einnimmt, läuft dem zuwider, wofür der Islam meiner Überzeugung nach an allererster Stelle steht: Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung. Es sind ebendiese Werte, die meinen Glauben an den Gott des Islams am Leben hielt. Mein Weg zu dieser Einsicht und letztlich zur Gottergebenheit war ein langer und beschwerlicher. Denn ich musste zunächst zusehen, dass ich nicht mehr in jenes Loch stürzen würde und die Scherben des bisherigen Lebens hinter mir lassen kann. Heute weiß ich, dass ich trotz all der Erfahrungen und Erlebnisse ein Leben lang gebrandmarkt werden bleibe und dass es längst an der Zeit ist, sich von den alten, rostigen Ketten der Vergangenheit zu befreien und das restliche Leben so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Und im Zuge dessen gibt es meiner Meinung nach zwei Zauberwörter, die als Leitplanken fungieren: Kommunikation und Offenheit.

Kommunikation und Offenheit als Ausweg

Ich bin der Überzeugung, dass es nur dann effektiv mit der muslimischen Community voran, wenn sich der Einzelne dazu bereit erklärt, Erlebnisse und Erfahrungen – gute wie auch schlechte – in einem offenen und ehrlichen Diskurs miteinander zu kommunizieren. Das Wohl des Einzelnen ist direkt gekoppelt an das der Gemeinschaft und umgekehrt genauso. Sie sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Durch die daraus resultierende Horizonterweiterung können wir voneinander nur profitieren, sodass unsere Handlungsmöglichkeiten zunehmen und wir Wege finden können, wie wir der Community insgesamt und dem einzelnen Gläubigen das geben, was sie in der heutigen Zeit am meisten verdienen: ein würdiges Leben und eine gerechte Teilhabe in der Gesellschaft. Wir müssen schlicht und einfach begreifen, dass prägende Erlebnisse, wie ich sie in meinem Fall kurz angerissen habe, weder Einzelschicksale sind oder der Vorherbestimmung Gottes entsprechen können. Muslimischer Fatalismus ist eine Seuche, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss, und das ihm zugrundeliegende, muslimische Gottesbild muss sich paradigmatisch verändern – weg von einem sadistischen Gott, dem Selbstverherrlichung und uneingeschränkter Gehorsam weitaus mehr bedeutet als unser Werdegang und unsere Stellung hier auf der Welt gemessen an den Möglichkeiten und Fähigkeiten, wie wir als Menschen besitzen können. Ich möchte damit nicht sagen, dass ausnahmslos jeder in der muslimischen Community ein solches Gottesbild in sich trägt oder dass es DEM Islam gleicht und somit per se schlecht ist. Man darf dem Islam nicht die Schuld für die Misere geben, in der sich die muslimische Community befindet. Man darf ihm auch nicht die Verantwortung für den seelischen Zustand der nahestehenden Menschen geben, wenn es um Einzelschicksale geht. Doch wenn man sich weite Teile der muslimischen Gemeinschaft hier im deutschsprachigen Raum anschaut, dann scheint ein solches althergebrachtes Gottesbild nicht nur gebilligt, sondern von den meisten auch im Inneren wehmütig akzeptiert zu werden, weil man sich eine derartige Veränderung des Gottesbildes im kollektiven Gedächtnis der Muslime nur schwer vorstellen kann. „Wie kann ich als Einzelner eine solch große Veränderung bewirken?“, heißt es dann oder: „Das bringt doch eh nichts. Es ist, als würde man einen Sieb mit Wasser voll machen wollen! Ich konzentriere mich lieber auf mich selbst und auf meine Karriere – Dinge, die ich wirklich in die Hand nehmen kann!“ Und spätestens jetzt wird klar, warum Kommunikation und Offenheit so wichtig sind. Sie sind in meinen Augen unerlässlich, da sie Möglichkeiten der Begegnung schaffen und Erfahrungsaustausch und Kompetenzbündelung ermöglichen. So können auch individuelle Bedürfnisse erkannt und befriedigt werden, die von gleichermaßen gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung sein können.

Zeitgemäßer muslimischer Glaube und die Bedeutung der Gottergebenheit

Der Islam ist nicht per se schädlich oder menschenfeindlich. Einzelschicksalen liegen meist wissenschaftliche Zusammenhänge zugrunde und die Probleme, die ich in der muslimischen Kultur insgesamt sehe, sind keine genuin islamische oder von Gott gewollte, sondern in erster Linie psychologische und von Menschen gemacht. Das heißt, es gibt für uns Muslime, die in dieser Welt ihr Leben fristen, unglaublich viel zu lernen – viele Möglichkeiten der Erkenntnis. Und mit der Erkenntnis kommt die nötige Veränderung, die wir so dringend brauchen. Erkenntnis und Veränderung – dahinter steckt ein Gottesbild, das meiner Überzeugung am ehesten entspricht und das ich für äußerst vielversprechend halte, wenn es darum geht, einen zeitgemäßen muslimischen Glauben zu charakterisieren: ein Gott, bei Dem Allwissenheit nicht gleichbedeutend mit Vorherbestimmung ist, Der dem Menschen eine mentale Stütze im eigenen Wirken ist und Der uns den Koran als Orientierungshilfe zur Verfügung stellt, mit dem das Richtige erkannt werden kann. Denn der Mensch ist grundsätzlich fähig, sein Leben selbstbestimmt zu führen, indem er stets dazu lernt und selbstständig das Richtige erkennt. Das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet: Ein Gott, Der dem Menschen wohlwollend gegenüber steht, sich nichts aus blindem Gehorsam macht und dem Menschen dabei hilft, Mensch zu werden.

Nun mag der eine oder andere fragen: „Was ist denn eigentlich das Richtige?“ Im Grunde genommen gibt es hierfür auch keine allgemeingültige, objektive Antwort, die ich an dieser Stelle präsentieren werde. Eine solche kann es auch gar nicht geben – zumindest nicht in dieser Welt. Wenn ich sage „Selbstverwirklichung durch Eigenverantwortung sind die obersten Werte im Islam!“ oder „Erkenntnis und Veränderung charakterisieren zeitgemäßen muslimischen Glauben!“, dann gelten diese Antworten zunächst nur für mich. Doch gerade dies ist der Charakter des diesseitigen Lebens, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zur Wirklichkeit hat und kraft seines freien Willens berechtigt dazu ist, zu deuten, zu interpretieren und dementsprechend zu handeln. Was den Menschen zum Menschen macht, sind Erkenntnisleistung und schöpferisches Handeln. Diese würden übergangen werden, wenn auf der anderen Seite heiligen Texten, insbesondere dem Koran, der Anspruch gestellt wird, eine abschließende Antwort dafür zu liefern, was das absolut Richtige im Leben ist. Dies würde einerseits den Wert des Menschen schmälern, indem er zu einem willenlosen Vasallen degradiert würde. Andererseits wäre auch der Koran nicht mehr wert als die Ge- und Verbote, die uns zum konkreten Handeln zwingen, und die Geschichten und Gleichnisse, die die restlichen Seiten füllen, wären lediglich „nice to have“. Der Gegenteil ist meiner Meinung nach der Fall. Der Koran, jenes Buch mit seinen 604 Seiten und seinen 6236 Versen, seinen Geschichten und Gleichnissen, seinen Ge- und Verboten, in all ihren Formen und Variationen, ist eine Sammlung von Mitteln der Erkenntnis (6:104), die uns von Gott zur Verfügung gestellt werden, damit wir uns als Menschen selbst verwirklichen und unsere Stellung in der Welt erarbeiten. Dieses Verständnis vom Koran deckt sich mit dem Bild des Menschen als erkennendes, schöpferisch handelndes Wesen und spricht jenem Buch den Wert der Universalität insofern zu, als dass es fähig ist, zu jeder Zeit und an jedem Ort angemessene Antworten auf die Fragen des Lebens liefern zu können. Während der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung mit jener Weltreligion verbunden wird, die die rituelle Praxis – allen voran die sog. „5 Säulen“ – an vorderster Stelle stellt, gründet dieser in meinen Augen primär in der Notwendigkeit eines gemeinsamen, menschheitsübergreifenden Werte- und Rechtekanons zur Sicherstellung, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied werden kann. Die bedingungslose Annahme dieses Kanon ist daher gleichbedeutend mit der Ergebung in Gott, Der Dem Menschen kraft seines Daseins Würde verlieh, welche durch Erkenntnisvermögen und schöpferischem Handeln zum Ausdruck kommt. Damit ist der Islam nicht nur eine Religion im engeren Sinne, sondern auf übergeordneter Ebene ein Art Lebenssystem oder Lebensordnung mit dem Koran als grundlegende Orientierungshilfe. Und das ist das, was für mich Gottergebenheit bedeutet.

Erkenntnis und Veränderung können niemals ausgehend von einer einzigen Person stattfinden, sondern nur im Kollektiv. Das zeigt, wie wichtig auch hier Offenheit und Kommunikation sind. Ich bin mir sicher, dass ein grundlegender Wandel im Verständnis dessen, was der Islam (nicht) ist, in der heutigen Zeit schnell seine Früchte tragen wird, wenn wir bedenken, dass die Probleme, in denen sich die muslimische Community befindet, hausgemacht und offenkundig sind. Wenn wir als Gemeinschaft dem Fatalismus den Rücken zuwenden und beginnen, unser Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, indem wir aktiv an unserer Zukunft arbeiten, entwickelt sich ein Bewusstsein für eigene Bedürfnisse und Ambitionen, insbesondere im religiösen Bereich, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Im Gegenteil: Sie sind von grundlegender Bedeutung. Denn Veränderung beginnt zuerst immer im Inneren (13:11). Als Gottergebener muss man sich darüber bewusst sein, dass es nicht schlimm ist, primär an seine eigenen Bedürfnisse und Ambitionen zu denken. So sehr der traditionalistische Kollektivismus seinen Reiz in der gemeinsamen Identität und im religiösen Zugehörigkeitsgefühl hat, so nachteilig wirkt es sich auf den Einzelnen aus, wenn das Individuum mit seinen Eigenheiten und seinen Talenten in der Regel auf der Strecke bleibt. Eigenen religiösen Zielsetzungen zu folgen, birgt zwangsläufig Konfliktpotential mit bestehenden traditionellen Normen und Konventionen, insbesondere dann, wenn es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes ist. Dies wurde am Beispiel des Freitagsgebets deutlich. Dies soll den Einzelnen jedoch nicht entmutigen, seinen eigenen Weg zu folgen, wenn er erkennt, dass es andere Menschen gibt, die sich auf einen ähnliche Reise begeben. Und genau hier setzt der offene und ehrliche Diskurs mit Gleichgesinnten an.

Mein persönlicher Weg zur Gottergebenheit

Vor 13 Jahren begann meine eigene Reise. Damals habe ich mir das erste Mal die Frage gestellt, ob Islam eigentlich auch anders gehen kann. Genug der Ungerechtigkeiten zuhause und genug der Widersprüche und Ungereimtheiten in der Tradition, die meine Intelligenz mehr oder minder beleidigten. Ich habe nicht gleich alles verteufelt, was ich mit dem traditionellen Glauben in Verbindung brachte. Doch war ich der festen Überzeugung, dass ich mein Heil woanders suchen musste, indem ich mich von der Tradition distanzierte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte mir kein Familienangehöriger und kein Imam aus einer Moschee bei den Fragen helfen, die sich bei mir immer wieder von neuem stellten. Und so begann ich meinen eigenen Weg, indem ich Kontakte knüpfte und Bücher las, in der Hoffnung, die Endstation meiner Reise zu finden. „Irgendwo da draußen muss doch die eine Antwort zu finden sein!“, dachte ich mir anfangs. Die Suche nach Eindeutigkeit trieb mich an. Ich schloss mich einer hiesigen Gemeinschaft an, die den Koran in den Mittelpunkt für religiöse Fragen stellte und eine kulturelle Einheit mit eigenen Zielsetzungen und klaren Vorstellungen, was Bildung von Kindern und Jugendlichen und das Ziel des Islams anging, bildete. Von ihnen durfte ich unheimlich viel lernen, wofür ich sehr dankbar bin. Jedoch löste sich die Gruppe im Laufe der Jahre auf und hinterließ für mich ein großes mentales Vakuum. Weiter auf die Suche machend, stieß ich auf das Buch „Rumi und die islamische Mystik“ von Yasar Nuri Öztürk und füllte jenes Vakuum zunächst wieder. Ich lernte Rumi und seine Werke kennen, die mein Horizont entscheidend erweiterten und Nahrung für meine Seele lieferten. Doch mit der Zeit verflog auch hier die rosarote Brille und die Einsicht kam relativ schnell, dass das Leben heutzutage wesentlich komplexer und vielschichtiger ist, als dass seine Werke den Anspruch der Ausschließlichkeit in den Fragen des Lebens innehätten. Schließlich lernte ich Muhammad Shahrour und sein Buch „Das Buch und der Koran“ kennen. Von seiner rationalistischen Methodik in der Koranexegese und den Ergebnissen, zu denen diese führte, war ich dermaßen beeindruckt, dass ich davon ausging, die eine Antwort endlich gefunden zu haben. So überzeugend war die Argumentation, so übereinstimmend waren die Ergebnisse mit der Lebenswirklichkeit. Doch hat es auch hier wenige Jahre gedauert, bis ich merkte, dass auch seine Werke auch Schwächen hatten.

Seitdem bin ich zum Entschluss gekommen, dass in allen Etappen meines Wegs ein Stück Wahrheit steckt, welches in mein Mindset aufgenommen werden musste: Von der hiesigen Gemeinschaft, die sich auflöste, lernte ich Organisation und Strukturierung eines kulturellen Kollektivs auf Grundlage des Korans kennen. Rumi lieferte Nahrung für die Seele, Shahrour Nahrung für den Verstand. Doch die eine Antwort auf alles gibt es nirgendwo da draußen, so lautet meine Überzeugung jetzt. Sie entsteht mit der Kraft der Gewissheit im Inneren.

6:75-79 „Und so zeigten Wir Abraham das Reich der Himmel und der Erde, – und damit er zu den Überzeugten gehöre. Als die Nacht über ihn hereinbrach, sah er einen Himmelskörper. Er sagte: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Ich liebe nicht diejenigen, die untergehen!‘ Als er dann den Mond aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr!‘ Als er aber unterging, sagte er: ‚Wenn mein Herr mich nicht rechtleitet, werde ich ganz gewiss zum irregehenden Volk gehören.‘ Als er dann die Sonne aufgehen sah, sagte er: ‚Das ist mein Herr! Das ist größer!‘ Als sie aber unterging, sagte er: ‚O mein Volk, ich sage mich von dem los, war ihr Ihm beigesellt! Ich wende mein Gesicht Dem zu, Der die Himmel und die Erde stetig wandelnd erschuf, und ich gehöre nicht zu den Beigesellern.‘“

eigene Übersetzung

Genauso wie bei der Suche nach dem Richtigen im Leben ist auch hier der Weg das Ziel und es ist die Aufgabe des Menschen, zeit Lebens Veränderung anzunehmen und eigene Erkenntnisse zu produzieren, insbesondere in der Gottergebenheit. Ganz egal, welche (familiäre und/oder psychische) Hürden es in der Vergangenheit gab und welche man hinsichtlich der eigenen Zukunft als existent glaubt: Solange wir in dieser Welt leben und noch alle Möglichkeiten des Handelns gegeben sind, müssen wir aufwachen und uns Hand in Hand den Herausforderungen stellen, die uns das Leben bietet. Denn das Schlimmste, was dem Menschen passieren kann, ist es, verpassten Chancen hinterher zu trauern. Daher ist der Weg zur Gottergebenheit immer auch ein gemeinsamer!

Weltfremdheit und Abnormität – Wie Freitagspredigten unwissentlich ihres Potentials beraubt wurden

Man stelle sich heute eine Freitagspredigt in einer beliebigen Moschee in Deutschland vor, wie sie abgehalten wird und wie dann plötzlich eine Frau unter den Sitzenden auftaucht und laut von sich gibt, dass sie nicht mit dem einverstanden ist, was der Prediger von sich gibt – ein Ding der Unmöglichkeit, so wie es heutzutage scheint. Doch das ist nicht immer so gewesen. Ein Blick in die Geschichte gibt Aufschluss darüber.

Denn zu Zeiten des Kalifen Omar ist Ähnliches passiert. Im Vorfeld hatten sich einige junge Männer beim Kalifen beschwert, dass Brautgaben so hoch geworden sind, dass sich kaum einer eine Eheschließung leisten konnte. Daher nahm Omar seine Freitagspredigt als Anlass, um bekannt zu geben, dass es von nun an einen Höchstsatz geben solle. Da sprang eine Frau aus der vor ihm sitzenden Menschenmenge auf und legte Einspruch ein, indem sie einen Vers aus dem Koran zitierte, der die Festlegung einer Höchstgrenze für nichtig erklärt:

4:20 „Und wenn ihr eine Gattin anstelle einer anderen eintauschen wollt und ihr der einen von ihnen Schatz gegeben habt, dann nehmt nichts davon zurück (…).“

eigene Übersetzung

Omars Reaktion sinngemäß: „Jeder weiß Bescheid, außer ich! Hiermit erkläre die Festlegung einer Höchstgrenze für ungültig!“

Da frage ich mich persönlich, was ist bei uns schief gelaufen, dass sowas mittlerweile undenkbar geworden ist. Schließlich heißt es in der traditionellen Lehre einhellig, dass man sich in der Ausübung der Religion an die Zeit des Propheten und seine Gefährten orientiert. Aus diesem Grund wird heute zum Beispiel auch das Feiern von Geburtstagen verboten, weil es der Prophet auch nicht täte. Doch was wäre, wenn ich sage, dass das Freitagsgebet in der Anfangszeit des Islams vor der Predigt abgehalten wurde und der einzige Grund, warum Gebet und Predigt in die uns heute bekannte Reihenfolge getauscht wurden, ein pragmatischer war, nämlich der, dass man die Gefahr sah, dass alle nur noch zum Gebet kommen und sich danach aus den unterschiedlichsten Gründen schnell wieder verabschieden würden, woraus Chaos entstehen würde? Erst recht dann angesichts der Tatsache, dass der Islam in seiner Anfangsphase schnell an Mitglieder gewann. Mittlerweile wurde das Leben des Kalifen Omar verfilmt und jeder kann die Geschichte um Omar und der zwischenredenden Frau spätestens jetzt mit eigenen Augen sehen. Wieso fragt keiner nach dem Warum? Welche Lehren können aus dieser Geschichte gezogen werden?

Die Frage nach dem „Normalen“ im Islam in Bezug auf die Freitagspredigt

Wenn wir uns noch einmal jene Geschichte vor Augen führen, dann stellt sich folgende Frage: Was ist das Normale, was das Abhalten von Freitagspredigten angeht? Wenn unsere jetzige Situation der Maßstab sein sollte, dann wird sich immer wieder die Frage stellen müssen, warum es damals anders als jetzt war. Sprich: Warum es damals üblich war, in einer Freitagspredigt dazwischen zu reden, und heute nicht. Oder warum sich Frauen und Männer damals während der Predigt gemeinsam in einem Raum aufhalten durften und heute nicht. Oder warum es nicht verpönt war, dass die Frau in Gegenwart fremder Männer ihre Stimme erheben durfte und heute schon. Darauf wird es meines Erachtens nach keine zufriedenstellende Antwort geben. Im Gegenteil: In unserer heutigen Tradition gibt es einige Überlieferungen, die die Teilnahme an der Freitagspredigt regeln, in denen es z.B. heißt, dass man während der Predigt komplett still sein soll und dass man kein Wort sagen darf, außer es ist zwingend notwendig. Geschweige denn von der dezidierten Haltung der Muslime, Männer von Frauen in der Moschee voneinander zu trennen.

Wenn aber die damalige Situation das eigentlich Normale sein sollte, dann kann es meines Erachtens nach gute Gründe geben, dies anzunehmen. Auf diese werde ich nun im Einzelnen zu sprechen kommen:

Die historische Figur Omar

In der Tradition gilt Omar als charismatischer Typ, ist grob in seiner Art und hat eine starke Persönlichkeit. Er macht für gewöhnlich keinen Hehl daraus, wem gegenüber er feindlich gesinnt ist. Bekannt war er auch für seine Nähe zu seiner Familie, seinen Gefährten und seinem Volk und orientierte sich am Wohlergehen aller. Doch war er in seinem Handeln auch harmoniebedürftig. Denn seine Ernennung zum Kalifen war alles andere als demokratisch im Sinne des bereits damals bekannten und in wichtigen Angelegenheiten, die die damalige, noch junge und in politischer Hinsicht instabile muslimische Umma betrafen, angewendeten schūrā-Prinzips. Dennoch stieg das Kalifat unter seiner ca. zehnjährigen Herrschaft zur neuen Großmacht im Nahen Osten auf und er schloss zahlreiche Verträge mit der eroberten Bevölkerung.

Sein harter und grober Umgang und sein Temperament verleiteten ihn öfter dazu, unüberlegt Absichten zu fassen und Worte in den Mund zu nehmen, die er daraufhin selbst revidiert. Dazu gehört u.a. die Absicht, den Propheten zu töten. Das war in seiner Zeit vor Annahme des Islams, denn es kam bekanntlich anders. Dazu gehört auch seine Aussage unmittelbar nach dem Tod des Propheten: „Ich töte mit diesem meinem Schwert jeden, der sagt, Mohamed sei tot!“

Diesen Angaben nach zu urteilen, klingt es für mich glaubwürdig, dass sich das Ereignis um die Frau und Omar in der Freitagspredigt so oder so ähnlich abgespielt haben muss. Omar war dem Anschein nach selbstkritisch genug. Und dass er auf die Kritik der Frau eingegangen ist und seine Anweisungen revidiert hat, zeugt von einer glaubwürdigen Autorität Omars und einer ebenso hohen Stellung der Frau. Und um sie soll es im Folgenden gehen.

Die zwischenredende Frau

Bekannt ist weder ihr Name noch, dass sie ein höheres Amt oder eine wichtige Funktion unter dem Kalifen Omar bekleidete, sodass sie zu seinen engen Vertrauten zählte. Man muss sich das noch einmal vorstellen: Eine x-beliebige Frau steht mitten in einer wichtigen Predigt auf und bietet jemandem Paroli, der nicht gerade für seine sanfte Art bekannt ist, wenn ihm gegenüber Gegenwehr geleistet wird, jemand, der eine noch junge islamische Nation führen musste und der als Oberbefehlshaber seiner Armee zahlreiche Kriege koordinierte. Wir haben zwar bereits gesagt, dass Omar sehr volksnah war und sich sehr um das Wohlergehen seiner Leute kümmerte, sodass er diesen Einwand zuließ. Dies steigert natürlich das ohnehin schon hohe Ansehen Omars in der sunnitischen Tradition als einer der rechtgeleiteten Kalifen und engen Weggefährten des Propheten. Doch die einseitige Fokussierung auf Omar tut nicht nur der Frau Unrecht, für die es anscheinend normal war, mitten in der Predigt einfach aufzustehen und ihr Wort gegen das des Kalifen zu erheben.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die islamische Religion mit ihren ca. 1,8 Milliarden Anhängern weltweit im Laufe von Jahrhunderten fest etabliert hat. Es gibt unzählige Moscheen, feste, religiöse Riten und eine überwiegend gemeinsame Weltanschauung. Jemand, der heutzutage als Muslim geboren wird, kennt die Dinge, die ihm beigebracht werden, nur auf jener Art und Weise, wie er sie dann auch überall auf der Welt sieht. Und wenn sich heutzutage eine Frau Mut fasst und während der Freitagspredigt in den Männerbereich der Moschee eintritt und lautstark sagt: „Mir passt es nicht, was du sagst!“, was würde dann passieren?

Tagelanger Aufruhr in der entsprechenden Moscheegemeinde und Umgebung, unzählige TikTok-Videos und Facebook-Diskussionen, eine Sondersendung „hart aber (un)fair“ mit null Vertretern aus dem muslimischen Alltag, eine Distanzierung des Zentralrats der Muslime von dieser Aktion, mind. fünf aufeinanderfolgende Freitagspredigten in den Moscheen Deutschlands mit dem Thema „Verhaltensweisen bei Freitagspredigten nach dem Vorbild des Propheten“ und natürlich eine Menge Kanonenfutter für Seyran, Alice und Konsortium.

Das kollektive Gedächtnis der Muslime

Der Tadel ist weder an der einzelnen Moscheegemeinde noch an den einzelnen Gläubigen gerichtet. Ohnehin richtet sich meine Kritik nicht an Personen, sondern an den Problemen, die hinter der Fassade stecken. Und das Problem, womit wir es hier zu tun haben, deckt das auf, woran die heutigen Muslime stillschweigend leiden und wo es zunächst keinen Ausweg zu geben scheint: das kulturelle, muslimische Erbe, aus dem das kollektive Gedächtnis der Muslime entspringt.

Es ist träge, blind und verschließt sich vor tiefgreifenden Veränderungen, die sowohl notwendig als auch von großem Nutzen sind. Ich betone nochmal: ich tadele nicht den einzelnen Gläubigen. Denn er kann durchaus einsichtig sein, mit dem inneren Auge sehend und er kann offen für Veränderungen sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich durch die Einsicht des Einzelnen oder mehrerer Einzelner gleichsam das kollektive Gedächtnis der Muslime verändert. Dass dieses Gedächtnis so ist, wie es ist, hat gleichwohl nicht nur mit kulturellen und religiösen Gründen zu tun, sondern auch mit gesellschaftlichen, historischen und politischen. Doch um diese soll es hier zunächst nicht gehen.

Doch es ist verblüffend, wie ich meine, dass Millionen von Menschen weltweit die Serie des Kalifen im TV sehen oder von der Geschichte mit ihm und der Frau hören, ohne dass es einen Ruck durch die Masse gibt, welches ein Bewusstsein dafür schafft, dass etwas mit uns nicht in Ordnung sein könnte. Denn, wie ich bereits ausgeführt habe, muss man sich ganz klar die Frage stellen, welches der beiden Situationen die eigentlich Normale im Islam ist: unsere jetzige oder die in dem Beispiel Geschilderte. Und wenn es Letztere ist, so gibt es heute drei Hürden, die gemeistert werden müssen und die das kollektive Gedächtnis der Muslime nachhaltig verändern dürften:

  1. Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt. Dies führt jedoch zum Konflikt mit der überlieferten Tradition.
  2. Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen.
  3. Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens.

Die Möglichkeit der Zwischenrede während der Predigt

Wenn wir nun auf die erste Hürde näher eingehen und sich Geschichte und Tradition augenscheinlich widersprechen, stehen wir vor einem elementarem Problem im Verständnis dessen, was als islamisch im religiösen Sinne gilt. Weder waren wir Zeugen der Geschehnisse um Omar und die Frau im 7. Jahrhundert noch sind wir selbst die Begründer der religiösen Tradition, wie wir sie heute kennen. Und wenn ebendiese Tradition zweifellos hergibt, dass während der Predigt absolute Stille geboten ist, dann ist der Konflikt zwischen Geschichte und Tradition ein unlösbarer. Da ist es für den Einzelnen natürlich wesentlich einfacher, sich dem Druck der Tradition zu beugen und die Dinge so in die Hand zu nehmen, wie sie seit Generationen üblicherweise gehandhabt werden, als sich religiös und sozial zu isolieren, indem persönlichen Erkenntnissen der Vorzug gewährt werden. Denn Isolation wäre die unweigerliche Folge dessen, wenn man sich in der rituellen Praxis von der Tradition löst.

Wir sagten bereits, das kollektive Gedächtnis der Muslime ist um Dimensionen träger und uneinsichtiger als der einzelne Gläubige. Doch es wäre falsch, anzunehmen, dass es sich um ein genuin islamisches Problem handelt. Vielmehr ist es ein menschliches. Auf das kollektive Gedächtnis der Muslime, seine Struktur und seine Schwächen werde ich an anderer Stelle ausführlich eingehen.

Was meiner Meinung nach zum Konflikt zwischen jahrhundertealter Tradition und individuellen Erkenntnissen passt, ist das Gleichnis von Abraham und seinem Volk in Sure 21 (Verse 51 – 73). An dieser Stelle werde ich das Gleichnis in seinen für uns wichtigsten Punkten zusammenfassen:

Abraham wird als ein besonnener Mensch beschrieben, der die Schöpfung eingehend studierte und unerschütterliche, persönliche Einsichten gewann. Sie stützen auf Gott, dem Schöpfer der Welt, und auf Seine Schöpfung, in der Abraham einen fortlaufenden Wandel erkannte1. Seine Einsichten verliehen ihm Gewissheit und Mut, woraufhin er auf Konfrontationskurs mit seinem Volk ging, das einer dezidiert traditionellen Weltanschauung angehörte, indem es sich vorzugsweise an Größen der Vergangenheit orientierte. Dieser Konflikt mündete in der Entscheidung Abrahams, die Idole der Vergangenheit bis auf den Größten von ihnen zu zerstören. Abraham zur Rede stellend, verlangte sein Volk nach einer Erklärung, ob er der Schuldige war. Da verwies er auf jenen Größten. Doch war dieser aufgrund seiner Beschaffenheit zu keiner Erklärung fähig. Daraufhin wich das anfängliche Schuldbewusstsein des Volkes Abrahams der anschließenden Selbstentlarvung, dass die Idole der Vergangenheit zu keiner Erklärung im Hier und Jetzt fähig sind (nämlich was die Zerstörung der anderen Idole oder im übertragenen Sinne den von Abraham erkannten Wandel angeht, der keinen Platz in ihrer Tradition hat). Doch war diese Selbstentlarvung kein Startschuss für einen Paradigmenwechsel seitens des Volkes. Vielmehr versuchte man mit allen Mitteln, das Althergebrachte zu schützen und Abraham zu bestrafen, was sich schließlich als erfolglos herausstellte. Denn schlussendlich gehörten sie zu den „größten Verlierern“ (21:70).

Und spätestens jetzt sieht man: Dieses Gleichnis hat einen direkten Bezug auf uns Muslime im Hier und Jetzt. Wir müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein, wenn wir feststellen, dass wir Muslime in unserer heutigen Welt einen schweren Stand haben und in ähnlicher Weise zu den größten Verlierern gehören. Nicht nur, dass die islamische Religion aus ihrer jahrhundertealten Kultur- und Religionsgeschichte entrissen und zum Spielball globaler Mächte zweckentfremdet werden konnte, mit dem politische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden, die weit jenseits denen der Muslime liegen. Vielmehr leidet die Mehrheit der Muslime in der westlichen Gesellschaft unter einer erdrückenden Fremdwahrnehmung, die gleichsam aufgezwungen wie überholt scheint und der muslimischen Diaspora keine Möglichkeit eines grundlegenden, wahrnehmbaren Paradigmenwechsels gewährt.

Zugegeben, dass Muslime während der Predigt dazwischen reden dürfen sollen, ist allein keineswegs die Rettung der Muslime aus ihrer Misere. Genauso wenig ist es ratsam, die Tradition samt ihrer überaus gehaltvollen Geschichte einfach über Bord zu werfen, sodass bloße Wortspielereien übrig bleiben, die genauso wenig erfolgsversprechend sind, wie die einseitige Fixierung auf die religiöse Tradition. Was aber von grundlegender Bedeutung für uns Muslime ist, gründet in der Tatsache, dass wir zeit unseres Lebens dem Konflikt zwischen individuellen Erkenntnissen und überlieferter Tradition ausgesetzt sein werden, das uns permanent eine Entscheidung abverlangt – eine Entscheidung, die wir selbst im besten Wissen und Gewissen basierend auf unserer Willensfreiheit im Hier und Jetzt treffen müssen. Und in der Fähigkeit, die Dinge so zu priorisieren, wie wir es für richtig und wichtig erachten, liegt meines Erachtens nach unser Heil. Das erfordert Mut, Gewissheit und ein gewisses Maß an Unerschütterlichkeit hinsichtlich der eigenen Überzeugungen, die uns dazu befähigen, unsere Tradition aus der Vogelperspektive zu betrachten und zu erkennen, dass außerhalb der hohen Mauern der Tradition eine Menge grüne Fläche für uns ist, welche wir nutzen können.

Denn das, was die zerstörten Idole im Gleichnis Abrahams symbolisieren, sind einzelne Elemente aus unserer islamischen Tradition, die bei näherem Blick widersprüchlich erscheinen und Fragen aufwerfen, wie es z.B. die Geschichte um die Frau und den Kalifen Omar bereits tat. Es gibt viele weitere Beispiele hierfür, wie etwas das Verbot von Meeresfrüchten ausschließlich für Anhänger einer bestimmten Rechtsschule oder die Existenz mehrerer Überlieferungen zu ein- und demselben Ereignis mit unterschiedlichen, ideologienbefeuernden Wortlauten. Was hat es dann mit dem Größten auf sich, der unversehrt blieb?

Das ist eine grundlegende Frage, die sich jeder von uns stellen muss: Wer ist in unserer eigenen Historie derjenige, der die Grundlage für unsere religiöse Tradition geschaffen hat, wie wir sie heute seit Generationen vererbt bekommen haben? Asch-Schāfiī mit seiner Aussage, der Prophet habe zwei Offenbarungen (nämlich Koran und Sunna) erhalten, basierend auf Sure 53 Vers 3: „und er redet nicht aus eigener Neigung.“? Oder Buchārī, der nach den strengsten Kriterien aus 600.000 Überlieferungen 2800 (ohne Wiederholungen) als Grundlage für die islamische Rechtswissenschaft, den sog. fiqh, ausgesucht haben soll? Wenn dem so ist, wo ist dann z.B. Hadith Nr. 278 in Buchārīs Sammlung einzuordnen? Doch ganz gleich, ob es Asch-Schāfiī oder Buchārī ist, sind konkrete Namen zweitrangig. Denn egal, wer es ist: Kann einer von denen uns im Hier und Jetzt helfen und uns eine Antwort darauf geben, warum die Geschichte etwas anderes hergibt, als es die Tradition vorschreibt? Oder auf die Frage, aus welchen 600.000 Überlieferungen gerade diese 2800 ausgesucht wurden und nach welchen Kriterien? Oder wie Asch-Schāfiī darauf kommt, dass der Prophet zwei Offenbarungen erhalten habe, und wie seine Koranhermeneutik aussieht? Das sind alles Erklärungen, die uns im Hier und Jetzt fehlen. Wir Muslime müssen im Namen Gottes ehrlich genug mit uns selbst sein und müssen konstatieren, dass die Probleme, in denen wir uns heutzutage befinden, bis zu einem gewissen Grad hausgemacht sind. Und es ist diese offene Kritik, die wir Muslime annehmen müssen und die ein Anlass dafür sein soll, unsere religiösen Regeln neu zu definieren, auf dass wir bald zu einer ähnlichen Selbstverständlichkeit und Entschlossenheit gelangen, die auch die Frau im Beispiel Omars in sich trug. Denn das, was die Frau und Abraham gemeinsam haben, sind unerschütterliche, persönliche Einsichten.

Die Möglichkeit, dass Männer und Frauen gemeinsam an einem Ort ohne Trennung voneinander an der Predigt teilnehmen dürfen

Die Gesundheit einer Gesellschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, wie es um das Thema Geschlechtergerechtigkeit geht. Auch hier möchte ich nicht an bestehende, öffentliche Debatten anknüpfen, die den Islam per se als frauenfeindlich abzustufen versuchen o.Ä. In Wahrheit geht es mir hier noch einmal in Anlehnung an der von mir angeführten zweiten Hürde um eine Gegenüberstellung der Frau im Beispiel mit dem Kalifen Omar und der Frau, deren Vorgaben zur Teilnahme an Freitagspredigten in der Tradition streng reglementiert sind. Streng nicht nur, weil es die traditionelle, islamische Rechtslage doppelt und dreifach vorschreibt durch Heranführung von Überlieferungen des Propheten und von Konsensbeschlüssen, die von irgendwelchen Muslimen irgendwann getroffen wurden. Streng auch, weil der kulturelle (und ich sage bewusst nicht religiös!!) Druck seitens der traditionell orientierten Muslime heutzutage immens ist, wenn man auch nur im Ansatz versucht, an diesen Grundpfeilern zu rütteln. Nochmal: Hier geht es noch gar nicht darum, dass Frauen und Männer gemischt zusammen beten oder dass Frauen predigen sollen, sondern „nur“ dass Männer und Frauen gemeinsam in einem Raum an der Predigt in der Moschee teilhaben dürfen sollen. Warum ist dies so wichtig?

Einfach, weil es ein Gebot des Respekts, der Wertschätzung und der Würdigung gegenüber der Frau ist, der gleichermaßen das Recht zur Teilhabe an der Freitagspredigt gewährt werden muss, wie der Mann sie für sich als natürlich gegeben gewusst haben will, was der bekannten Aussage „Im Islam sind die Rechte von Mann und Frau gesichert!“ meines Erachtens nach den wahren Inhalt gibt. Frauen sind heutzutage Doktoren und Nobelpreisträger geworden, führen Kinderarztpraxen und leiten internationale humanitäre Organisationen und sie soll genau dann an Wert einbüßen, wenn sie erst am Hinterhof vom Hinterhof ihre eigene, 1,5 m hohe Eingangstür zur Moschee findet und 200 Treppenstufen runterläuft, bis sie ihren als Gebetsraum getarnten, miefigen Zimmer im Keller ohne Heizung oder Warmwasser findet, um dort zu beten und die Predigten zu hören? Nur um dann die Worte eines selbsternannten Imams namens bin Asyl zu hören, der in Saudi-Arabien an 20 Sitzungen teilnahm und so den „Islam“ gelernt haben will? Mit den Inhalten solcher Predigten werde ich mich ohnehin bei der dritten Hürde auseinandersetzen.

Und selbst wenn sich die Muslime irgendwann dazu durchringen sollten und den Teilnehmenden ermöglichen, während der Freitagspredigt ihren eigenen Input zu liefern, was ist mit den Frauen? Schreiben sie ihr Anliegen auf einem Zettel und lassen kleine Kinder als Mittler hin und her laufen? Oder kramt man aus dem Keller des Kellers ein seit 10 Jahren vergessenes Steckmikrofon heraus, welches sich nur zur Hälfte reinigen lässt, durch den die Frau dann in geboten leiser Stimme spricht und beim Empfänger nur Kauderwelsch ankommt? Der Wert der Frau in der Moschee ist weit mehr als nur der Zettel, auf dem irgendwelche Worte stehen, mehr als das Kauderwelsch, das aus dem Lautsprecher tönt, und mehr als der Raum, in dem sie sich befinden. Das, was viele Frauen auf dieser Welt an Würde, Standhaftigkeit und Barmherzigkeit gegenüber ihren heimlichen wie offenen Peinigern haben, ist um ein Vielfaches höher, als noch mehr muslimische Männer jemals haben werden. Mit dieser gefährlichen, einer Farce gleichenden Selbsttäuschung muss endlich Schluss sein! Da brauchen wir auch keine Feinde, die den Islam als rückständig abstempeln.

Diese meine Worte lesen sich an dieser Stelle sicherlich emotional und konfrontativ. Doch nur so, denke ich, kann endlich ein Bewusstsein für diese Misere geschaffen werden, in der wir wie in Treibsand gefangen sind. Daher halte ich dieses Problem für genauso wichtig und fundamental und dessen Folgen für unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung für genauso fatal wie der vorher beschriebene Konflikt zwischen Geschichte und Tradition.

Was die Frau in Bezug auf Freitagspredigten angeht, soll es in der Tradition eine Überlieferung geben, die besagt, dass die Pflicht zur Teilnahme an Freitagspredigten für fünf nicht vorgeschrieben sei: Die Frau, das Kind, den Kranken, den Reisenden und den Sklaven2. Andere Überlieferungen legen den Frauen nahe, lieber im eigenen Zimmer anstatt sonst irgendwo zuhause und lieber irgendwo zuhause anstatt in der Moschee der Gemeinde zu beten. Doch noch schlimmer als diese Behauptungen – so muss ich sie in aller Deutlichkeit benennen, denn ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, dass der Prophet Mohammed etwas in der Art gesagt haben soll – ist die omnipräsente Scheu vor Vermischung von Männern und Frauen in der muslimischen Community, die seltsamerweise nur dann zum Tragen kommt, wenn es in Richtung Moschee zum Gebet geht. Aber auch nur dann! Keine sonstige Veranstaltung und sei sie noch so religiös bzw. islamisch gibt Anlass genug, verstärkt auf die Geschlechtertrennung zu achten, wie es beim Beten oder bei der Freitagsgebet der Fall ist (Randgruppen ausgenommen).

Doch bleiben wir weiterhin bei der Predigt. Ein beliebtes Totschlagargument ist der Punkt mit der Ablenkung. Man könne sich nicht auf das Wesentliche, also auf den Inhalt, konzentrieren, wenn beide Geschlechter im selben Raum einer Predigt zuhören. Damit sind wir wieder beim Thema Selbsttäuschung. Warum sollte man sich als nüchterner, vernünftig denkender Mensch – und das kann jedem unterstellt werden, der sich aus freien Stücken zur Moschee begibt – genau dann ablenken lassen, wenn man sich zur Moschee begibt, um sich eine Predigt anzuhören, woraus man Nutzen zieht? Was ist mit der Ablenkung in den Vorlesungssälen und in den Laboren? In den Rathäusern und den Bibliotheken? Was ist mit den Konsumhöllen unserer Hemisphäre? Den schleichenden Indoktrinationen und den erbarmungslosen Teilenden und Herrschenden? Und außerdem: Was ist das für ein Menschenbild, das wir als islamisch propagieren? Und wo war die Ablenkung zur Zeit der zwischenredenden Frau und des Kalifen Omar in unserem Beispiel? Dieser Konformismus tötet. Wacht auf!

Die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann in allen Bereichen des Lebens

10.02.2023: Erste Freitagspredigt (Gedächtnisprotokoll) nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei mit Zehntausenden Opfern und noch mehr Verletzten:

„O ihr edlen Geschwister! Schwer getroffen hat das Erdbeben unsere Geschwister in der Türkei und Syrien und hat eine hohe Zahl an Toten und Verletzten gefordert. (…) Liebe Geschwister! Ihr müsst wissen, dass dieses Erdbeben nur eine Strafe für unsere Sünden sein kann. Sünden, die wir tagtäglich begehen, die wir nicht mal mehr registrieren und gering schätzen, wobei sie bei Gott fürwahr schlimm sind! Frauen, die keinen Kopftuch mehr tragen. Und selbst wenn sie sie tragen, dann nicht nach den Regeln der Sunna (…).“

Es sind Worte, die die perfekte Steilvorlage für die Erklärung der dritten Hürde liefern. Denn der obige Auszug aus der Freitagspredigt ist alles andere als ein Beweis dafür, dass die Frau dem Mann als ebenbürtig erachtet wird. Zumal es sich um einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen den universellen Grundsatz im Koran „Keine Seele trägt die Last eines anderen!“ darstellt, das die Opfer, insbesondere Kinder, sowie alle (Nicht-)Kopftuchträgerinnen auf der Welt auf schreckliche Weise verhöhnt, wenn sich ein selbst ernannter Imam dazu erdreistet, im Namen der Muslime ein solches Urteil über das Schicksal Tausender Menschen zu fällen, während er selbst danach das Gebet leitet im Aberglauben, Gott vergebe die Sünden seiner Diener von diesem Freitag bis zum nächsten – eine Überlieferung und gleichzeitig ein Freibrief für alles, was „nicht so gemeint“ bzw. „unabsichtlich“ gewesen sei. Wenn dem so sei und die Überlieferung stimmen sollte: Hat Gott nicht die Sünden all jener Männer und Frauen vergeben, die bei der letzten Freitagspredigt (in dem Fall ganz konkret vom 03.02.2023) dabei waren? Und wenn das Erdbeben eine Strafe wegen dieser angeblichen Vergehen sein soll, warum geschah es dann in der Türkei und Syrien mit einem höheren Anteil kopftuchtragender Frauen als in Deutschland bspw.? Hätten wir hier nicht viel mehr das Erdbeben „verdient“ nach dieser Logik? Und vor allem: Warum müssen Kinder dafür büßen?

Sicherlich kann sich jeder mit gesundem Menschenverstand wesentlich mehr über diese Aussagen des Imams über die angeblichen Ursachen für das Erdbeben auslassen. Doch hier tritt offensichtlich das zum Vorschein, woran die muslimische Community krankt: die anhaltende und übertriebene Fixierung auf eine Tradition, die gemessen an ihren Werten und Grundsätzen längst nicht mehr den eigentlichen Bedürfnissen der Muslime von heute überall auf der Welt entspricht und gleichsam einen idealen Nährboden für jene narzisstischen, rückständigen, realitätsfremden, patriarchalischen, dreisten, selbstverherrlichenden und frauenfeindlichen Äußerungen, wie der obigen, liefern. Solche Äußerungen sind keine Seltenheit. Denn die Tradition produziert im Prinzip nichts anderes als fatalistische Nachplapperer, denen die Fähigkeit, frei und eigenständig zu denken, abgewöhnt wird. Solche Äußerungen spiegeln eine Haltung wider, die stillschweigend von vielen Muslimen angenommen wird und die mithilfe der Tradition eine Parallelwelt erzeugt, die mit den tatsächlichen Lebensbedingungen der Wirklichkeit nur wenig übereinstimmt.

Ausnahmen bestätigen die Regel und es mag sicherlich den einen oder anderen geben, der zwar der Tradition als solches folgt, sich aber bewusst mit ihr auseinander setzt und einen zeitgemäßen Glauben zu etablieren versucht. Trotzdem müssen jene trotz ihrer aufstrebenden Anzahl als Randerscheinung gelten, denn sie verändern das kollektive Gedächtnis der Muslime bis dato nur in einem sehr geringen Ausmaß. Und damit wurde das Zauberwort der Heilung nach meinem Dafürhalten genannt: Veränderung.

Es braucht eine tiefgreifende, paradigmatische Veränderung im kollektiven Gedächtnis der Muslime, die es ermöglicht, den Fokus auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Muslime – ganz gleich, ob als Individuum, in der Gemeinschaft oder in der Gesellschaft – zu lenken und die erdrückende Last der Tradition zu überwinden. Diese Veränderung besteht meines Erachtens darin, die gesamte Tradition, das kulturelle Erbe der Muslime, in ihrem historischen Entstehungskontext zu setzen und ihr den religiös-konstitutiven Anspruch zu entziehen. Alle vermeintlichen Anweisungen aus dieser Tradition entstanden aus einer Zeit, deren Maßstäbe nicht denen unserer Zeit entsprechen können. Und wie wir bei der ersten Hürde gesehen haben, ist der Konflikt zwischen Tradition und Geschichte ein unüberwindbarer, wenn an Ersterer mit allen Mitteln festgehalten wird.

Nun mag man einwenden, wenn die Tradition als religiöse Quelle aufgegeben wird, verlieren wir unsere muslimische Identität. Nein! Wir verlieren eine Identität, die andere Menschen vor etwa 1300 Jahren für uns gezeichnet haben. Diese ist jedoch nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen dagegen unsere muslimische Identität neu entdecken, indem wir ganz genau in uns hineinhorchen und erfühlen, was unsere geheimsten Wünsche und Ziele als ehrliche, gottgläubige Muslime sind. Nur so kommen wir aus unserem Schlamassel raus. Die Tradition zu historisieren, bedeutet auch nicht zwangsläufig, die rituelle Praxis aufzugeben. Es geht dabei vorrangig um unseren Platz als Muslime in Kultur und Gesellschaft. Und nur so sind wir dazu in der Lage, jene frauenfeindlichen, narzisstischen und rückständigen Elemente hinter uns zu lassen und die faktische Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann zu erreichen. Denn die Tradition ist durchsät von Grundsätzen einer vormodernen, patriarchalischen, erneuerungsresistenten und rückwärtsgewandten Geisteshaltung.

Veränderung als Ausweg

Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Herbeiführen einer Veränderung die schwierigste Herausforderung ist, der man sich stellen kann. Auch hinterlässt uns die Aufgabe der Tradition ein großes, religiöses Vakuum, das es mit neuen Inhalten zu füllen gilt – Inhalte, die in einem innermuslimischen, ergebnisoffenen Diskurs besprochen werden müssen und die die wichtigen Themen unserer Zeit repräsentieren. An diesem Diskurs muss jeder – ob Mann oder Frau – beteiligt sein dürfen, dem die Zukunft der muslimischen Community am Herzen liegt. Eine solche Veränderung ist absolut notwendig und von grundlegender Bedeutung. Der erste Schritt wäre, wenn alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, wozu auch die Freitagspredigt zählt, dafür aufgewendet werden, unsere wirklichen Bedürfnisse als Mitglieder der muslimischen Community zu identifizieren und zu erfüllen. Dazu braucht es vor allem Mut und eine starke Persönlichkeit. Ähnlich wie sie die Frau in der Geschichte um den Kalifen Omar hatte. Spätestens dann, wenn kopftuchtragende Frauen für Erdbebenkatastrophen verantwortlich gemacht werden, muss es genauso Leute geben, die während der Predigt aufstehen und sagen: „Nein! Das akzeptiere ich als gottgläubiger Muslim nicht! Im Koran steht, dass keine Seele die Last eines anderen trägt!“. Das muss das neue „normal“ werden! Indem die drei Hürden überwunden werden und das Primat des überzeugendsten Arguments gemäß dem gesunden Menschenverstand herrscht. Was es braucht, sind Pioniere, die mit gutem Beispiel vorangehen und die Grenzen des Üblichen sprengen. In diesem Sinne: Lasst uns alle ein Beispiel an der Frau in Omars Geschichte nehmen!

Fußnoten:

1 vgl. auch Sure 6 Verse 74 – 79

2 https://www.islamweb.net/amp/ar/library/index.php…. Hier der entsprechende Konsensbeschluss: https://dorar.net/feqhia/1592/المطلب-الأول-من-لا-تجب-عليهم-الجمعة.

Permakultur und Islam

Permakultur ist ein Designsystem, das in erster Linie auf Landwirtschaft angewendet wird, aber darüber hinaus auch auf soziale Organisation.

Ausgangspunkt ist die Beobachtung der Natur

Hier ist schon der erste Anknüpfungspunkt zum Islam, da im Koran ja immer wieder aufgefordert wird, die Natur und die Umwelt zu beobachten. Mit الم تر (hast du nicht gesehen) wird unter anderem darauf hingewiesen, wie Gott den Regen herabsendet, mit dem Er die wie tot daliegenden Felder wieder lebendig werden lässt (22:67, 35:27, 39:21), Sonne und Mond für uns auf- und untergehen lässt (31:29) und wie sich alles in der Natur und im Weltall Gott ergibt (22:18).

Immer wieder wird auf die Zeichen ءايت hingewiesen

Die Natur als gewaltiges System regelt und regeneriert sich selbst. Alles greift ineinander, es gibt keinen Müll, nichts Überflüssiges, sondern alles, was entsteht, wird von anderen Teilen des Systems genutzt. Herabfallende Blätter werden von Würmern verdaut, deren Ausscheidungen wiederum die Pflanzen düngen. Durch unseren Atem sind wir mit den Pflanzen verbunden, weil wir das CO2 produzieren, das sie brauchen, und sie wiederum machen daraus den Sauerstoff, den wir brauchen.

Im Wald herrscht eine unglaubliche Artenvielfalt. Pflanzen nutzen die verschiedenen Ebenen, es gibt hohe Bäume, auf der mittleren Ebene Sträucher, darunter Kräuter, ganz unten Moose. Es gibt Tiere vom Hirsch bis zur Ameise. Pilze bilden unter der Erde riesige Geflechte und bringen den Bäumen Nahrung an ihre Wurzeln. Sie helfen ihnen bei der Kommunikation untereinander.

Ein Wald bedeutet im Vergleich zu einem Maisfeld in Monokultur: Lebendigkeit, Vielfalt, Nutzen und Leben für viele, statt Ertrag für wenige, den Menschen, und Tod für alle anderen durch Pestizide, durch Verhungern etc.

Verschiedene Zustände wie Keime, Blüten und Fruchtstände, die gleichzeitig bestehen, machen die Natur widerstandsfähiger. Dies im Gegensatz zur gewollten Gleichzeitigkeit zwecks einfacherer Bearbeitung und Ernte in der Monokultur.

Diese Selbstorganisation der Pflanzen wird in der Permakultur zunächst beobachtet, um sie dann so auf den Garten oder Acker anzuwenden, dass möglichst wenig eingegriffen werden muss. Die Alternative besteht also nicht mehr zwischen industrieller Landwirtschaft mit Einsatz schwerer Maschinen und harter Handarbeit, sondern durch wenige Eingriffe wird das Ausmaß Arbeit reduziert.

Einige Prinzipien der Permakultur

Wie schon erwähnt ist die Beobachtung ein Prinzip: Erst schauen, wie ein System funktioniert. Zum Beispiel:

  • Wo im Garten scheint die Sonne?
  • Welche Teile bleiben im Schatten, auch im Lauf des Jahres?
  • Wo bläst mehr Wind?
  • Welche Tiere leben in der Nähe und greifen positiv oder negativ ein (Bienen, Regenwürmer, aber auch Rehe, Wühlmäuse usw.)?

Ein weiteres Prinzip sind kleine und langsame Lösungen: Entwicklungen in der Natur gehen im Allgemeinen langsam vonstatten, jedenfalls was systemische Änderungen betrifft. Dies entspricht dem Begriff sabr (صبر), zum Beispiel in Sura 102 Al-‚Asr.

Weitere Prinzipien der Permakultur:

  • Selbstregulation, Feedback akzeptieren
  • Auf eine richtige Platzierung achten
    • Keinen Abfall produzieren: alles kann irgendwie verwendet werden
    • Vorhandene Ressourcen nutzen
  • Diversität nutzen

Das heißt, wir schauen, was wir haben und wie wir das nützen können, statt immer nach mehr zu schielen (Sura 102: Takāthur (تكاثر): ihr seid besessen von Gier nach mehr und mehr)

Jede Schlüsselfunktion wird von mehreren Elementen gestützt

Übersetzen wir das in die Sprache des Korans:

Tawhīd

Das Ganze als eine Einheit verstehen, die von gemeinsamer Spiritualität zusammengehalten wird.

Mizān

Die Waage, das Gleichgewicht, das immer gesucht wird zwischen den einzelnen Elementen. Dies bedeutet auch ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

Fitra

Die natürliche Disposition, die so funktioniert wie die Natur.

Fasad

Korruption und zerstörerische Kräfte wie Umweltzerstörung, Profitgier sowie Missachtung der Menschen und ihrer Würde beachten.

Khalīfa

Der Mensch als Statthalter, der bewahrend statt zerstörend eingreift. Unsere Verantwortung, mit den Kräften der Natur zu wirken statt gegen sie:

40:57 Größer ist die Schöpfung der Himmel und der Erde als die Schöpfung der Menschen, doch die meisten Menschen verstehen nicht.

Bedeutung für uns

Was kann das für soziale Organisationen, also auch für uns als Gruppe bedeuten?

Langsame und kleine Schritte geduldig gehen. Nicht ungeduldig werden, wenn wir keine schnellen Erfolge haben. Lieber Geduld (sabr) wie auch nachhaltiges Wachstum anstreben.

Darauf achten Ressourcen zu nutzen, keinen Abfall zu generieren und die Platzierung zu beachten: Jede:r von uns hat Qualitäten, die manchmal aufeinander prallen. Wenn wir sie an die richtige Stelle setzen, können wir sie produktiv nutzen, statt sie als Bedrohung und Hindernis zu sehen. Vielleicht ist jemand aber an der falschen Stelle oder muss zumindest vorübergehend von jemand anderem getrennt werden, damit beide besser wachsen können.

Ebenso ist die Diversität zu berücksichtigen. Wir haben zweifelsohne unterschiedliche Hintergründe, die sich oft auch in unterschiedlichen Meinungen ausdrücken. Das kann aber gerade unsere Stärke sein, wenn wir lernen, richtig damit umzugehen.

Wir dürfen uns nicht auf eine oder einzelne Personen verlassen, sondern dürfen mehrere Leute einbeziehen bei allem, was wir machen. Nicht alle müssen auf der gleichen Stufe stehen. Einige sind neu, andere lange dabei. Für alle ist Platz und für alle gibt es Aufgaben. Das bedeutet auch Neumitgliedern gleich Aufgaben zu geben, ohne sie zu überfordern.

Und, ganz wichtig:
Es kommt darauf an.

Das heißt: Es gibt keine Patentrezepte, sondern es geht um Prinzipien und Betrachtungsweisen, die in der Realität angewendet und ggf. angepasst werden.

Weitere Infos zu Islam und Permakultur wisdominnature.org (Englisch)

Gedanken zum Thema Spenden

Spenden und gegenseitige Hilfeleistung sind wichtige Themen im Koran. So wichtig, dass in der Sure 107 mitgeteilt wird:

Wehe denen, die beten, um gesehen zu werden, aber die Hilfeleistung verweigern!

Unterlassene Hilfeleistung an die Armen und Waisen, die im Koran ein Sinnbild für Bedürftige sind, wird mit einer Leugnung des dīn gleichgesetzt. Dīn bedeutet je nach Übersetzung jüngstes Gericht, Religion oder Lebensordnung.

Andere zentrale Begriffe im Koran sind bekanntlich ṣadaqa, womöglich aus der semitischen Wurzel für Aufrichtigkeit, und zakāh, aus der Wurzel für Vermehrung oder Reinigung bzw. Läuterung. Dabei meint ṣadaqa ursprünglich nicht wie im heutigen Gebrauch die freiwilligen Abgaben, sondern umgekehrt war ṣadaqa eine Art Steuer. Zakāh war eine Leistung unbestimmter Art und konnte auch aus nicht-Materiellem bestehen. Dabei kommt die Verbindung von zakāh und salāh, Hilfeleistung und Gebet, in 24 Versen vor. Einmal wird der Gegensatz zakāh und riba ([Wucher-]Zins) aufgestellt.

ṣadaqa kommt dreizehn Mal in vier verschiedenen Suren vor. ṣadaqa zu geben wird bei Pflichtverletzungen eingefordert. Diese wurde anscheinend vom Propheten Muhammad angenommen und verteilt.

9:60 Die Almosen (ṣadaqa) sind für die Armen und Bedürftigen und für die mit der Verwaltung (der Almosen) Beauftragten und für die, deren Herzen kürzlich wiedergewonnen wurden, für die (Befreiung von) Sklaven und für die Schuldner, für die Sache Gottes und für den Sohn des Weges; (Dies ist) eine Vorschrift Gottes. Und Gott ist wissend, weise.

ṣadaqa wird ebenso wie zakāh auch in Gegensatz zu riba gesetzt, wobei ṣadaqa als Verb auch im Gegensatz zu kaḏaba, leugnen, steht.

Immer wieder kommt die Frage auf, inwiefern man denen, die um Hilfe bitten, vertrauen soll. Auch hier lohnt es sich, im Koran nachzuschauen. Neben den vielen Aufforderungen, Hilfe zu leisten, finden sich einige wenige Spezifizierungen. Wir sollen nicht verschwenderisch übertreiben (6:141, 17:26, 25:67) und die wahren Bedürftigen bitten nicht oft um Hilfe (51:19).

Almosen, egal wie man es nennt, ist immer ein Ausdruck von Ungleichheit. Der Reiche lässt dem Armen ein Stück von seinem Reichtum zukommen. Das mag in der altarabischen Gesellschaft angemessen gewesen sein, aber heute geht es um mehr. Es geht um globale Gerechtigkeit, die nicht mit einem Almosen erreicht wird. Deshalb möchte ich auf einen anderen Begriff hinweisen, der im Koran ebenfalls des Öfteren vorkommt:

قسط Gerechtigkeit, so zum Beispiel in der Sure Al-Rahman:

وَالسَّمَاءَ رَفَعَهَا وَوَضَعَ الْمِيزَانَ
أَلَّا تَطْغَوْا فِي الْمِيزَانِ
وَأَقِيمُوا الْوَزْنَ بِالْقِسْطِ وَلَا تُخْسِرُوا الْمِيزَانَ ,

Übersetzung nach Bobzin:

Den Himmel hob er in die Höhe und stellte die Waage auf,
auf dass ihr beim Wiegen nicht übertretet!
So setzt das Gewicht in Gerechtigkeit, und lasst die Waage nichts verlieren!

55:7-9

Die Wurzel kommt 25 Mal in den verschiedenen Formen vor. Sie hat immer mit Gerechtigkeit zu tun, und zwar im Bild des Handels.

Heute können wir daraus lernen, auf einen fairen Handel zu achten. Das heißt nicht nur zweimal im Jahr eine Spende irgendwohin zu schicken und den Rest des Jahres bei Aldi und Kik zu kaufen. Denn dort werden die niedrigen Preise auf Kosten der Produzenten erreicht. Dies geschieht auf Kosten sowohl der Bauern in Deutschland als auch der Arbeiter in Billiglohnfabriken und auf Plantagen in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Egal ob Muslime in Pakistan und Bangladesh oder Christen in den Maquiladoras in Mexiko oder Buddhisten in China – wir haben als Menschen für alle Menschen eine Verantwortung.

So schafft man Verhältnisse auf Augenhöhe statt der Zementierung von Hierarchien.

Das sollte zuerst kommen. Wenn dann immer noch Geld übrig ist, kann man es immer noch spenden. Sonst einfach ein Lächeln oder eine Hilfeleistung verschenken.

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Schwangerschaftsabbruch

Am Thema Schwangerschaftsabbruch lassen sich einige Prinzipien des Koranverständnisses aufzeigen. 

Zunächst ist da die gute alte Forderung der Frauenbewegung „Mein Bauch gehört mir“. Kein Mann und keine andere Frau, das versteht sich von selbst, darf über den Körper einer Frau verfügen. Nur sie allein darf bestimmen, was sie mit ihm macht, was sie bereit ist zu erleiden und was nicht.

Auf der anderen Seite ist da die Forderung des Koran: Tötet eure Kinder nicht aus Armut (6:151). Wobei Armut stellvertretend für all die Notlagen steht, in die Menschen kommen können. Was also tun? Lassen sich die beiden Forderungen versöhnen und wenn ja, wie?

Gott bleibt im Koran nicht bei der Forderung stehen. Noch im selben Vers macht Gott ein Versprechen: Wir sorgen für euch und für sie. 

An anderer Stelle unterscheidet Gott zwischen den sich Ergebenden – muslimun – und den Vertrauenden – mu’minun; oft als Gläubige übersetzt. Die Wurzel hamza-mim-nun weist aber eher auf Sicherheit, festes Vertrauen und Verlässlichkeit hin. So wie in Bezug auf die Kinder wirbt Gott im Koran an vielen Stellen um das Vertrauen der Menschen, mit Hinweis auf die Perfektion der Schöpfung, in welcher der Regen herabfällt, um das Land wiederzubeleben, all die Nahrungsmittel, die uns gegeben wurden. Auch im Folgevers zu Vers 6:151 folgt der Forderung nach Gerechtigkeit das Versprechen, niemanden über seine/ihre Kräfte hinaus zu belasten.

Gott kennt uns, ist uns näher als unsere Halsschlagader (50:16), und weiß, dass das Vertrauen in Gott die Voraussetzung dafür ist, auch in schwierigen Situationen dem Din (Entscheidung, Lebensweise, Verpflichtung) zu entsprechen. Deshalb gibt es auch keinen Zwang im Din (2:256), weil Zwang und Vertrauen sich ausschließen. Dieser Vers ist also nicht nur eine Forderung, es soll keinen Zwang im Din geben, sondern auch die einfache Feststellung, dass Zwang in keiner Weise den Din herstellen kann.

Um auf die Frage der Schwangerschaft bzw. Schwangerschaftsunterbrechung zurückzukommen, bedeutet dies also, es ist besser, das Kind auszutragen, aber das setzt (in schwierigen Situationen) Gottesvertrauen voraus. Kein Mann und keine Frau hat das Recht, eine andere dafür zu verurteilen, wenn dieses Vertrauen nicht vorhanden ist. Umgekehrt ist die Gesellschaft verpflichtet, Situationen zu schaffen, die das Vertrauen zumindest auf materiell-psychisch-sozialer Ebene herstellen. Das heißt: keine Verurteilung, Herabsetzung, Verspottung der Schwangeren, die es nicht geschafft habe zu verhüten, die nur auf ihren eigenen Spaß aus sei, kein Versperren der Bildungschancen und eine finanzielle Sicherung sowieso.

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Muslimische weibliche Gelehrsamkeit

Viele Frauen prägten die muslimische weibliche Gelehrsamkeit. Doch waren sie deswegen auch Feministinnen? Allzu schnell werden westliche Konzepte muslimischem Schaffen überstülpt – dennoch lohnt es sich, den Koran als Inspiration für eine gendergerechte Theologie zu sehen. Ein Versuch, Wege zu entkolonialisierten Islam-Verständnissen aufzuzeigen.

Die muslimische Geschichte brachte viele bedeutende weibliche Gelehrte hervor, besonders auch was die formative Phase des Islams, also grob zugeordnet das erste Jahrhundert nach Hidschra (7. Jh. n. Chr.) betrifft. So etwa Amrah bint Abdur Rahman, die eine Juristin und Hadith-Expertin war. Sie korrigierte Richter in ihren Entscheidungen, wenn sie befand, dass diese auf falscher juristischer Grundlage ihr Urteil gefällt haben sollten. Ein Beispiel dafür ist in der Sammlung des berühmten Mālik ibn Anas, dem Gründer der mālikitischen Rechtsschule, zu finden. Auch Rābiʿa al-ʿAdawiyya ist als legendäre muslimische Mystikerin bekannt. Sie gilt als eine der ersten einflussreichen Frauen, welche die Liebe und Freundschaft zu Gott lehrten. Sie prägte den Sufismus maßgeblich.

Eine weitere Gelehrte Umm Darda lehrte sowohl in Damaskus in der großen Umayyaden-Moschee als auch in Jerusalem. Sie lehrte Imame, Juristen und Hadith-Gelehrte, unter anderem auch den Kalifen Abdul Malik b. Marwan. Diesem wird nachgesagt, dass er ihr ohne irgendwelche Vorbehalte half und sie unterstützte.

Karima bint Ahmad b. Muhammad b. Hatim al-Marwaziyya, die in Mekka im zehnten bis elften Jahrhundert lebte, war eine Bukhari-Expertin und nach heutigem Verständnis Hadith- und Rechtswissenschaftlerin. Sie spielte eine wichtige Figur in der Futuwwa-Bewegung der Frauen, die von Khadidscha al-Dschahniyya als Antwort auf die männliche Futuwwa-Gesellschaft gegründet wurde. Am Ende ihres hundertjährigen Lebens galt sie als renommierte Lehrerin und Gelehrte.

Die als Großgelehrten betrachteten Männer der früheren Zeit wurden also durch Frauen unterrichtet. Sie verdanken ihr Wissen unter anderem diesen Frauen.

Dieser Umstand zieht sich immer wieder durch die muslimische Geschichte. Frauen wie Hafsah spielten bei der Zusammenstellung des Korans eine wichtige Rolle. Im achten Jahrhundert nach Hidschra (14. Jh. n. Chr.) lebte Fatima bint Ibrahim b. Jowhar. Sie ist eine Lehrerin beider Imame Dhahabi und Subqi, die bei ihr die Hadith-Sammlung Bukhari studierten. Sie lehrte ebenfalls in der Prophetenmoschee in Medina. Aischa bint Abdul Hadi lehrte ebenso zur Sammlung Bukharis in der großen Moschee in Damaskus. Kein geringerer als Ibn Hadschar Al-Asqalani, für viele Sunniten eine Koryphäe unter den Experten zu Bukharis Sammlung, studierte bei ihr zahlreiche Bücher.

Sukayna schloss ihre eigenen Eheverträge

Ein Beispiel aus der muslimischen Geschichte sticht für mich besonders heraus: Sukayna (671-737). Die Urenkelin des Propheten ist ein Symbol für den Widerstand von Frauen in der Anfangszeit des Islams gegen das Patriarchat. Als Tochter einer Poetin erhielt sie die Bezeichnung «Barza», also eine Person, die sich weigert den Schleier zu tragen.

Als gebildete muslimische Gelehrte traf sie Männer hohen politischen oder wissenschaftlichen Ranges und diskutierte mit ihnen über religiöse, juristische und politische Angelegenheiten. Sie empfing bei sich zuhause auch Männer. Sukayna schloss ihre eigenen Eheverträge. Darin verlangte sie, dass sie ihrem Mann weder gehorchen müsse noch dessen Recht zur Polygynie anerkenne. Sie zögerte auch nicht, ihre Ehemänner für deren Untreue vor Gericht zu bringen. Sie liebte Kunst wie Musik und förderte DichterInnen wie auch SängerInnen.

Viele männliche Gelehrte verdanken ihr Wissen den gebildeten Frauen

Diese und unzählige weitere ungenannten Ereignisse belegen eindeutig, dass Frauen bereits früh in den wichtigsten Moscheen und an den wichtigsten Plätzen den männlichen Großgelehrten maßgeblich zu ihrem heutigen Ruhm verhalfen. Der aktuelle Zustand ist in vielen Moscheen hingegen eher mitleiderregend. Nicht wenige Gelehrte diskutieren darüber, ob Frauen überhaupt fürs Gebet zur Moschee kommen dürfen!

Leider sind viele muslimische Gläubige unwissend, was das eigene muslimische Erbe betrifft. Viele Strömungen behaupten, sie kehrten zurück zur Essenz und Tradition des frühen Islams. Doch sie zeigen durch ihre Haltung auf, dass sie durch diese erst im Laufe der Jahrhunderte aufgekommene Einstellung von der Tradition und der Praxis der früheren Generationen abweichen.

Nicht selten behaupten zeitgenössische Gelehrte wie auch Moscheegänger aufgrund gewisser dem Propheten unzulässig zugeschriebenen Hadithe (z.B. Abu Dawud 4679, andere Nr. je nach Ausgabe), dass der Intellekt einer Frau dem eines Mannes unterlegen sei. Früher fragten Gelehrte gebildete Frauen nach ihren Meinungen, bevor sie sich ein umfangreiches Urteil bildeten. Natürlich gab es auch Meinungsverschiedenheiten. Jedoch gehörten Bescheidenheit und Offenheit für Wissen – ohne dabei zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden – bei den meisten Gelehrten zum wissenschaftlichen Usus.

Der Beitrag von Frauen zur vergangenen islamischen weiblichen Gelehrsamkeit ist eindeutig enorm. Dieser hatte wiederum Einfluss auf das Selbstverständnis der damals lebenden Frauen und deren Gelehrsamkeit. Nicht minder wichtig sind deshalb die zeitgenössischen Gelehrten. Namen wie etwa Amina Wadud, Riffat Hassan, Asma Lamrabet, Asma Barlas, Kecia Ali, Sa’diyya Shaikh oder Fatima Mernissi gehören mittlerweile zu den bekannteren im Feld der islamischen Studien und viele weitere könnten wir hier noch anführen.

Problematik kolonialistisch-eurozentrischer Diskurse

Im Jahre 1916 schrieb der Orientalist Dr. Max Horten im Vorwort seiner Übersetzung Muhammedanische Glaubenslehre – Die Katechismen des Fudali und Sanusi:

Manche Europäer brüsten sich mit einigen Kenntnissen äußerer Formen des Islam und treten dann dem Orientalen mit dem Selbstbewusstsein gegenüber, Sinn und Geist seiner Religion verstanden zu haben. In diesem Gebaren mancher Europäer liegt eine schwere Verletzung des Ehrgefühls und des religiösen Bewusstseins des Muslim. Er, wenn er auch nur ein Halbgebildeter ist, hat ein tieferes Verständnis der Lehre (Dogmatik und Moral seiner Religion), als der oberflächlich gebildete Europäer auch nur zu begreifen imstande ist. Er empfindet, dass der Europäer von den vielfach so großzügigen Gedanken der islamischen Religion auch nicht den Schatten eines Verständnisses hat und in Ermangelung eines solchen glaubt, der Islam bestehe aus nichts anderem als kultischen Äußerlichkeiten und Ähnlichem.

Hortens Worte sind auch heute noch aktuell, leider mit zusätzlichen Themenfeldern wie dem Vorwurf des fehlenden Feminismus, der angeblich noch nötigen Aufklärung und unaufhörlichen Aufforderungen nach Reformen des Islams zu «moderaten» Strömungen. Dies ist ein vor allem eurozentrischer Blick, der dem kolonialen sowie imperialen Denken entspringt und so nur kurzsichtig bleiben kann. Wann haben wir in der Gesellschaft das letzte Mal die Forderung nach modernen oder progressiven christlichen Strömungen breit diskutiert? Aber auch Hortens Worte sind zu vereinfachend und teilweise vereinnahmend.

Ebenfalls dürfen wir christlich-theologisch geprägte oder eurozentrische Begriffe wie «Gottesstaat», «heiliger Krieg», «liberal», «säkular», «Aufklärung» oder «reformiert» nicht einfach mit Begrifflichkeiten anderer Religionen gleichsetzen. Schon der Ausdruck Religion entspricht nicht dem arabischen Wort Dîn. Dîn bedeutet je nach Kontext eher eine freiwillige Hingabe oder auch schuldmäßige Verpflichtung zu einer friedfertigen Lebensweise oder Lebensordnung. Jede Religion hat ihren eigenen Wortschatz. Wir erzeugen einen verzerrten Blick, wenn wir das eigene religiöse, kulturelle Vokabular für eine andere Religion voraussetzen. Ein Kalifat ist zum Beispiel nicht ein «Gottesstaat». Dschihād ist mit Engagement zu übersetzen anstelle eines «heiligen Krieges» und in vielfältigen Bedeutungsnuancen zu differenzieren!

Gerade auch Vorstellungen von Reinheit, Sexualität und Schönheit haben sich kulturell gegenseitig beeinflusst. Viele als religiös gedachte Meinungen wie eine Homosexuellenfeindlichkeit in der heutigen Form oder Moralvorstellungen zur Sexualität widerspiegeln eher eine viktorianisch-christliche Haltung, die sich in vielen muslimischen Gesellschaften durchsetzte und die gläubige Menschen übernahmen, als eine traditionell religiöse.

Der sogenannte weiße Feminismus

Nicht wenige muslimische weibliche Gelehrte distanzieren sich deshalb vom Begriff des «Feminismus». Sie sehen darin eine eingeschränkte und nicht selbstreflexive Weltanschauung bzgl. der Frauen. Es ist schlicht unmöglich diese unter dem Begriff «feministisch-islamische Studien» oder andere ähnliche Wortgebilde zusammenzufassen. Dieser Feminismus steht für gewisse dieser Frauen im Allgemeinen für die Befreiung eines Typs von Frau: die weisse Frau aus der Mittelschicht – der sogenannte weiße Feminismus.

Dies betrifft auch andere Lebensbereiche, die von Klassismus wie auch Rassismus betroffen sind. So sind nun weitere Feminismen entstanden, die PoC (People of Color), queere oder marginalisierte Frauengruppen als weitere wesentliche Basis nehmen. Dadurch entstehen entkolonialisierte Feminismen. Sie sind darum bemüht, den imperialistisch orientierten Perspektiven auf gesellschaftliche Zusammenhänge bessere Modelle gegenüberzustellen. Diese berücksichtigen zudem die Intersektionalität.

Typischer Streitpunkt: Tragen des Schleiers

Nehmen wir das Tragen des Schleiers als Beispiel. Der weiße Feminismus betrachtet den Schleier als eine Unterdrückung und die Frau muss teils missionarisch drauf hingewiesen und befreit werden, damit sie ihre Haut und Haare zeigen kann. Ein entkolonialisierter Feminismus vertritt die Position, dass wenn sich eine Frau aus freien Stücken verschleiert, sie feministisch und eben nicht unterdrückt ist; sie entscheidet sich aus eigener Handlungskompetenz heraus für ihr Kopftuch. Erst wenn sie tatsächlich gezwungen wird, aus welchen Gründen auch immer, ist sie als unterdrückt zu betrachten.

Auch frühere weibliche Gelehrte zeitversetzt als «Feministinnen» zu bezeichnen, wie etwa das Beispiel Sukaynas weiter oben, zeigt einen Mangel an Verständnis über kulturellen Kontext. Sie als Beispiel anzuführen und zu verlangen, dass alle Frauen wie Sukayna sein müssten, um als Feministin zu gelten, wäre wiederum ein kolonialistisches, anachronistisches Denken und stelle ein großes Missverständnis Sukaynas und ihrer Motive dar.

Den islamischen Feminismus neu definieren

Andererseits gibt es wiederum viele, die den Begriff des islamischen Feminismus für sich neu definieren und bewusst beanspruchen. Persönlich kenne ich viele Musliminnen, die sich auch bewusst Feministinnen nennen. Auch gibt Versuche neue Begriffe zu definieren und zu verwenden. Es geht für mich schließlich darum, dass wir lernen Begriffe nicht trennend, sondern einigend zu verwenden. Gott möchte von uns Einheit in der Vielfalt (Koranverse 3:102-105, 6:159, 11:118-119, 42:8). Lila Abu-Lughod ruft in ihrem Aufsatz zu einem differenzierten Vorgehen auf:

«Ich argumentiere, dass wir stattdessen eine ernsthafte Wertschätzung der Unterschiede unter den Frauen dieser Welt entwickeln – als Ergebnis unterschiedlicher Geschichten, Erscheinungen verschiedener Umstände und Ausdrucksformen andersartig strukturierter Wünsche.»

Do Muslim Women Really Need Saving?

Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, dass nur europäische Geistliche und Philosophien schuld an den Miseren wären. Es gibt viele muslimische Gelehrte, die eindeutig sehr frauen- oder sexualitätsfeindlich waren, etwa die berühmten Gelehrten As-Sarachsi oder Ibn Dschawzi. Wichtig ist hierbei jedoch, dass die muslimische Gelehrsamkeit im Generellen lange eine Kultur der Ambiguität pflegte und viele Positionen gleichzeitig diskutierten. Diese Pluralität und Mehrdeutigkeit gingen durch die Moderne leider verloren, indem westliche Narrative der Suche nach Eindeutigkeit ebenfalls übernommen wurden. In jüngster Zeit sind glücklicherweise Aufbrüche zu mehr Ambiguität in europäischen Diskursen zu beobachten.

Koran als Inspiration für eine gendergerechte Theologie

Viele argumentieren, dass der Koran eine Inspiration für eine gendergerechte Theologie bietet. Dieser Überzeugung bin ich auch. Jedoch müssen wir dazu den Koran in seinem historischen, sowie altarabisch-sprachlichen Kontext verorten. So können wir dann aus dem Text ableiten, dass Partner ihre Beziehung auf Augenhöhe zu pflegen haben (Koranverse 2:187, 9:71, 24:26) und vor Gott die Geschlechter und ihre Taten generell gleichwertig sind (33:35, 3:195, 16:97). Partner sollen Ruhe beieinander finden können (30:21).

Unsere Gesellschaft funktioniert also besser, wenn nicht die Geschlechter untereinander im Fokus stehen, sondern, wenn wir Ruhe anbieten und aufrechterhalten können auf materieller, psycho-sozialer und individueller Ebene. Anders und vereinfacht gesagt müssen wir psychische und gesellschaftliche Sicherheit fördern.

Auch zahlenmäßig kommen Mann und Frau gleich oft vor im Koran, nämlich jeweils 24 Mal. Die Frau entsteht nicht aus den Rippen Adams, sondern alle Menschenkinder teilen sich denselben seelischen Ursprung:

Er schuf euch aus einer einzigen Seele (nafs), hierauf machte Er aus ihr ihr Partnerwesen.

4:1, 39:6

Solche Verse können so gedeutet werden, dass sämtliche Geschlechter gleichzeitig erschaffen wurden und nicht erst nacheinander. Nicht zuletzt deshalb besitzen alle dieselbe Menschenwürde als Kinder Adams, ungeachtet ihrer Taten (17:70). Ich bin würdig und würdevoll, aus dem einfachen Grund, dass ich als Geschöpf Gottes existiere. Ich muss nicht erst meine Würde beweisen.

Der Koran zugunsten der Frauen

Teilweise gibt es Unterschiede im Koran, die zugunsten der Frauen ausfallen. So hat die Frau beim Vorwurf des Ehebruchs oder der Unzucht das letzte Wort (vgl. Sura 24). Eine ähnliche Regelung gibt es nicht für Männer. Ebenfalls wird das Königtum im Koran negativ umschrieben (27:34), aber die positive Ausnahme bildet die Königin von Saba selbst. Sie wählte entgegen dem Vorschlag ihrer Berater nicht den Weg des Krieges und der Konfrontation. Der Weg des Friedens und Dialogs war ihr Weg (27:35). Sie zeigte sich standhaft, weise, reflektiert und einsichtig in gegenseitiger Übereinkunft mit dem Propheten Salomo (27:44).

Frauen wie Maria oder auch die Frau des tyrannischen und despotischen Pharaos werden als besonders rechtschaffene Gläubige beschrieben (66:11-12). Auch die Frauen des Propheten Muhammad sind nicht zu vergessen, die als Mütter der Gläubigen und somit unmittelbar als Vorbilder für alle hochgehalten werden (33:6). Individuelle Unterschiede sind keine Defizite, sondern eine Erscheinung des Menschseins an sich und als solche sind sie zu feiern und zu pflegen (49:13).

Spirituelle Räume rückerobern

Zusammengefasst gibt es also mindestens drei Ebenen, die eine große Rolle spielen. Die erste ist die Bildungs- und Aufklärungsarbeit über das muslimisch kulturelle Erbe. Die zweite Ebene ist die Entkolonialisierung der Diskurse, sodass ein ambiger, pluraler Meinungsaustausch entstehen kann. Dieser kann dann wiederum alle bereichern und berücksichtigt nicht nur eine ausgewählte Gruppe. Dabei müssen auch marginalisierte Gruppen darauf achten, dass sie nicht ihre eigene Perspektive stellvertretend zum «Feminismus» oder zum einzig gültigen Ausgangspunkt erklären oder unbewusst voraussetzen. Die dritte und nicht abschließende Herausforderung wird sein, weibliche Gelehrsamkeit in allen Bereichen wiederherzustellen und auszubauen: Imaminnen und Vorbeterinnen, Koranexegetinnen, Scharia- und Hadith-Expertinnen, Seelsorgerinnen, Theologinnen, Islamwissenschaftlerinnen, Rezitatorinnen, Ritualbegleiterinnen, Historikerinnen, Kulturschaffende in Musik, Poesie wie Literatur und darstellende Künste, Jugendarbeiterinnen und viele mehr.

Dies erfordert unter anderem die Sichtbarmachung all dieser Pionierinnen. Gewisse Frauen müssen dafür aus ihrer Komfortzone raus und die spirituellen Räume rückerobern. Auch ist eine islamisch-theologische Aufarbeitung der ideologischen Hürden vonnöten. Ein Beispiel kann sein, dass alte Fragestellungen wieder aufgegriffen werden, wie etwa die Frage nach der Selbstverständlichkeit, dass auch Prophetinnen nach islamischem Verständnis wirkten.


Weiterführende Literatur:

Kecia Ali: Sexual Ethics and Islam. Feminist Reflections on Qur’an, Hadith, and Jurisprudence. Oneworld Publications, 2016.

Zahra Ali (Hrsg.): Islamische Feminismen. Passagen, 2017.

Katajun Amirpur: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. C.H. Beck 2013.
Meine Rezension zum Buch: alrahman.de/wie-der-islam-neu-gedacht-werden-kann

Asma Barlas: Re-Understanding Islam: A Double Critique (Spinoza Lectures). Amsterdam, van Gorcum, 2008.

Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen, 2011.

Lamya Kaddor (Hrsg.): Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht. Piper, 2020.

Fatima Mernissi: The Veil and the Male Elite: A Feminist Interpretation of Women’s Rights in Islam. Addison Wesley Publishing Co., 1991.

Aisha Y. Musa: Hadith as Scripture. Discussions on the Authority of Prophetic Traditions in Islam. Palgrave MacMillan, 2008.

Muhammad Akram Nadwi: Al-Muhaddithat: The Women Scholars In Islam. Interface Publications, 2007.

Amidu Sanni: Women Critics in Arabic Literary Tradition with Particular Reference to Sukayna bt. al-Husayn. British Society for Middle Eastern Studies (July 1991): 358–366.

Annemarie Schimmel: Meine Seele ist eine Frau. Kosel Verlag, 1995.

Nimet Seker: Koran und Gender. Exegetische und hermeneutische Studien zum Geschlechterverhältnis im Koran. Hamburg: Editio Gryphus, 2020.

Lana Sirri: Einführung in islamische Feminismen. w_orten & meer, 2017.

Barbara Freyer Stowasser: Women in the Quran. Traditions, and interpretation. New York, Oxford: Oxford University Press, 1996.

Christian Ströbele, Amir Dziri, Anja Middelbeck-Varwick und Armina Omerika (Hrsg.): Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum. Friedrich Pustet, 2021.

Amina Wadud: Inside the Gender Jihad. Women’s Reform in Islam. Oxford, 2006.

Rafia Zakaria: Against White Feminism. Hanser / hanserblau, 2022.

photo of a white muslim mosque

Das Wort ‚heilig‘

Eine der Herausforderungen beim Verstehen der Lesung (Koran) ist die Einordnung von Wörtern, wie dies bspw. beim Wort heilig deutlich wird. Ein korrektes Verständnis der Mehrdeutigkeit gewisser Wörter, aber auch der Bedeutungsunterschiede und klare Abgrenzungen sind wichtig. Grammatik und Semantik sind nur zwei Bereiche. Auch die Methodik des Interpretierens ist wesentlich.

Das Wort heilig wird im Alltag in verschiedener Form gebraucht wird: der heilige Koran, der heilige Prophet, der heilige Engel, heilige Menschen usw. Wie wird das Wort im Koran verwendet? Sollten wir dabei auf unsere Wortwahl achten, religiös gesehen?

Heilig auf Deutsch und Arabisch

Als religiöses Adjektiv bedeutet heilig auf Deutsch erhaben über alles Irdische, unantastbar, von Gottes Geist erfüllt, gottgeweiht und stammt wahrscheinlich vom althochdeutschen heilagheilīg ab, was wiederum geweiht, heilbringend, zum Heil bestimmt, fromm bedeutet. Eine weitere Ausgangsbedeutung kann jmdm. ausschließlich eigen, ganz, vollständig sein. So kann dann von heiliges Wesen, göttliche Vollkommenheit, Unantastbarkeit, Heiligkeit, Frömmigkeit, Heiligtum oder Sakrament die Rede sein.

Dadurch wird die Suche nach dem entsprechenden arabischen Wort schwierig. Wörter wie muqaddas (geheiligt) oder haram (verboten, tabuisiert, unantastbar) können auch diese oben beschriebene Bedeutungsvielfalt umfassen. In dem Sinne ist es auf Deutsch nicht falsch vom heiligen Propheten zu sprechen. Die Große Moschee von Mekka wird al-masdschid al-haram genannt. Das kann aber auch daran liegen, dass der Aufenthalt in dieser Moschee mit einem direkten Kriegs- und Kampfverbot verknüpft ist. Der Frieden in der Moschee ist also ein unantastbares Tabu. Generell haben Moscheen eine wichtige Bedeutung, da es den gläubigen Menschen untersagt ist sich in Moscheen aufzuhalten, die nicht für die Gerechtigkeit (qist, adalah) und Rechtschaffenheit (taqwa, sulh, birr), also den Weg Gottes (sabîlu-llah) einstehen (9:107-109).

Die arabische Wurzel für heilig

Klassisch wird die Konsonantengruppe qâf-dâl-sîn (q-d-s) als Ausgangswurzel genommen. In der Lesung (Deutsch für Koran) wird die Wurzel wie folgt verwendet:

  • Einmal in 2:30 als zweiter Verbstamm qaddasa, um Gottes Souveränität zu verehren
  • Dreimal (5:21, 20:12, 79:16) als passives Partizip des zweiten Verbstammes muqaddas/ah, um den geweihten Zustand eines Ortes zu betonen:
    • Zweimal als al-wâdi al-muqaddas = das geheiligte Tal (Tuwa)
    • Einmal al-ard al-muqaddasah = die geheiligte Erde
  • Viermal in Verbindung mit dem Geist der Heiligkeit (nicht Heiliger Geist): rûh al-qudûs
  • Zweimal als Gottesname al-quddûs: Der Heilige

So wird klar, dass auch in der Lesung semantische Bedeutungsnuancen des Wortes heilig verwendet werden im Sinne von ganz, ungeteilt, vollständig, vollkommen oder auch gesund.

Außerdem werden in arabischen Wörterbüchern wie dem Lisanu-l-‚arab (Die Sprache der Araber) für die Bedeutung des Begriffs muqaddas auch Umschreibungen wie mubârak (gesegnet) und mutahhar (rein, sauber) wiedergegeben. Diese beiden Eigenschaften werden direkt im Zusammenhang mit der Offenbarungsschrift erwähnt:

Dies ist ein Buch, das Wir zu dir hinabsandten, gesegnet, damit sie über seine Zeichen nachsinnen und damit die Einsichtigen es bedenken.
kitâbun anzalnâhu ilayka mubârakun liyaddabbarû ‚âyâtihi wa-l-yatadhakkara ‚ûlû l-albâb

38:29

Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorträgt
rasûlun min Allahi yatlû suhufan mutahharatan

98:2 Hanif-Übersetzung

Der Begriff gesegnet wird auch für Gesandte, Friede sei auf allen, gebraucht, z. B. in 19:31 oder 37:113; ebenfalls für Orte, z. B. in 23:29, oder auch für einen Baum als besondere Energiequelle in 24:35. Der Ausdruck rein oder gereinigt wird auch für Menschen gebraucht, siehe bspw. in 3:42, 3:55, 5:41, 8:11 oder besonders in 9:108.

Abgrenzung zur deutschen Sprache

Alles in allem hat zwar die Umschreibung heilig auch eine christliche Konnotation. Dennoch ist dieser Begriff auch im Sinne der Alltagssprache auch für die Lesung (Koran) und die Gesandten nicht fragwürdig. Im Alltag sagen wir ja auch Herr Abdullah. Aber im religiösen Sinne ist Gott allein unser aller wahrhaftiger rabb (Erhalter, Herr). Dennoch ist es auch religiös gesehen nicht falsch, Herr Abdullah zu sagen.

Muqaddas stellt ein passives Partizip des zweiten Verbstammes dar, bedeutet also geheiligt und nicht heilig. Aus gutem Grund wird der Geist der Heiligkeit mit qudus (قُدُس) erwähnt. Es ist sprachlich falsch hier vom Heiligen Geist zu reden, richtig ist der Geist der Heiligkeit. Gott wird mit Al-Quddûs (الْقُدُّوسُ), also der Heilige beschrieben. Die Engel heiligen Ihn direkt in 2:30 (nuqaddisu laka, kein Passiv). Das Land hingegen wird in passiver Form als geheiligt (muqaddas) beschrieben. Das Adjektiv heilig wird nirgends für irgendeinen Propheten oder Gesandten gebraucht im Koran. Der einzig Heilige und die Quelle aller Heiligkeit ist somit Allah, unser formloser, geschlechtsloser, unerschaffener Schöpfer.

Hier können wir einwenden, dass all dies sprachliche Spitzfindigkeiten sind. Dennoch finden wir diese wichtig, da kein Wort in der Lesung (Koran) zufällig gewählt ist. Aus demselben Grund sagen wir auch nur zu Gott mawlânâ (unser Beschützer, Meister, Verbündeter, Schutzpatron). Dieses Wort dient in der Alltagssprache im religiösen Kontext als Ehrentitel für Menschen. Sufis weltweit sagen zum Mystiker Rumi mevlana (türkische Schreibweise). Ebenfalls nennt man gewisse Religionsgelehrte in manchen Ländern so. In der Schrift kommt dieses Wort nur für Gott alleine vor.

Fazit

Synonyme aus den Wörterbüchern bedeuten nicht, dass diese Wörter miteinander gleichzusetzen sind. Linguistisch sollten wir also exakt bleiben. So ist haram auch nicht einfach heilig, sondern die Wurzel H-r-m hat in der Grundbedeutung mit einer Tabuisierung, z. B. im Sinne einer Unantastbarkeit zu tun. Aus dieser Grundbedeutung heraus entspringen dann Ableitungen wie haram (verboten, „tabuisiert, etwas zu tun/sagen/konsumieren“) oder hurma (z.B. Respekt, im Sinne von „es ist ein Tabu, respektlos zu sein“). Haram mit heilig gleichzusetzen führte zu merkwürdigen Widersprüchen, etwa dass Schweinefleisch dann auch plötzlich heilig sein könnte und deshalb nicht zu essen wäre. Die Haram-Moschee ist eine Moschee, bei der es laut Koran ein Tabu ist zu kriegen: ein Ort der spirituellen und körperlichen Unantastbarkeit.

Sprache ist jedoch nie absolut präzise und es gibt Überlappungen. Heil sein bedeutet in dem Sinne auch gesund und intakt sein – aber das ist dann wiederum eine Vermischung von deutschen und arabischen Sprachlichkeiten, die voneinander getrennt sind. Heilen oder heil sein ist nicht dasselbe wie heiligen. Heil sein im Sinne von gesund ist auf Arabisch eher unversehrt, also salîm (سَلِيم), da Unversehrtheit besser passt. Heilsam, heilend, gesund ist dann auf Arabisch eher sihhy (صِحِّي). So ist die HEILung auf Arabisch eher schifâ‘ (شِفَاءٌ).

Wichtig: Wir sagen nicht, dass es absolut unislamisch ist, wenn jemand das Wort heilig in einer anderen Form für sich in seinem Glauben verwendet. Sonst machen wir uns des Takfîrs schuldig, was schon ein Tabu an sich ist. Möge uns davor unser gnädige Schöpfer bewahren.