Abspaltungen, Madhabs und Sekten

Kategorien: Gesellschaft,Theologie & Auslegung

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verstoßenen Teufel,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

Gleich zu Beginn ein Kommentar zum Wort „Sekte“. Mir ist sehr wohl bewusst, dass dieses Wort eine negative Konnotation besitzt und meistens in einem abwertenden, rhetorischen Kontext verwendet wird. Ich möchte deshalb an dieser Stelle klar und deutlich erwähnen, dass ich gegen eine überhebliche Haltung gegenüber Andersdenkenden bin.

Eine Sekte (lat. secta „Denkschule, Partei, Gefolgschaft“, von sequi ‚folgen‘; secare „abschneiden, trennen“) bezeichnet im wissenschaftlichen Sprachgebrauch häufig eine religiöse Organisation, die durch ein Schisma oder die Abspaltung von einer etablierten Religion entstanden ist.

Sowohl der Sunnismus als auch das Schiitentum sind in diesem Sinne Sekten oder Abspaltungen, in denen die jeweiligen Führer bewusst sektiererische (ihrer Sekte zugehörigen) Deutungen und Gedanken anführen. Beispielsweise existieren vier Madhabs (Rechtsschulen) im Sunnismus, die sich gegenseitig in der Theorie zwar anerkennen, aber in der Praxis einander direkt widersprechen. Al Ghazali hat des Weiteren gemäß diesem Sektendenken auch das rationale Denken verteufelt. Beispiele hierzu ließen sich viele finden.

Was ich mit ‚Sekte‘ anspreche ist nicht etwa das mir Abfällige, sondern das, worauf beharrt wird. Wahrheit ist ein Wandelgestirn, das eben vorbeirückt. Wenn wir also auf den Punkt starren, wo Wahrheit noch vorhin erstrahlte, starren wir oftmals ins Leere.

Sekten haben die Eigenart, irrationale Dogmen festzulegen und dann an sie bis in die Ewigkeit festzuhalten. Ein Teil der Leute hinter submission.org beispielsweise beharrt auf den Ahadith von Rashad Khalifa, die Sunniten auf die ihrige Sammlung der Ahadith und die Schiiten auf ihre Version der Hadith-Sammlung.

Sektierer sind Menschen, die außerhalb der göttlich-autoritativen Schrift Dogmen für wahr erklären, die aber nur menschlich sind und sein können. Aber aufrichtige Anhänger einer Sekte, die ihren Verstand nicht abgeschaltet haben, machen sich auch stets Gedanken, die diesem Gedankenschema ihrer Sekte widersprechen.

 

Spaltung der Religion

Nach dem Tode Muhammads spalteten sich die Gläubigen, weil sie sich über die Person des Nachfolgers Muhammads nicht einigen konnten. Eine der Abspaltungen sind die:

Sunniten

Die ersten rechtmäßigen Kalifen nach Muhammads Tod (632) sind nach sunnitischem Verständnis:

  1. Abû Bakr (632-634)
  2. Umar (634-644)
  3. Uthman (644-656)
  4. Alî (656-661)

Leiter der Gemeinde ist der Kalif. Ein Kalif muss zum Stamm des Propheten gehören, muss sich in den religiösen Quellen auskennen und muss politische Eignung besitzen. Aufgrund theologischer Differenzen und widersprüchlichen Ansichten in Recht und Wissenschaft spalteten sich die Sunniten wiederum in sogenannte Madhabs oder zu Deutsch Rechtsschulen, von denen die vier bekanntesten sind:

  1. Hanafi
  2. Hanbali
  3. Maliki
  4. Shafi

Es gibt noch zahlreiche weitere Gruppierungen wie etwa die Wahhabiten, Salafiten, Nurdschus, Dschaririya (Tabari), Zahiriya, Naqschibandiya usw. Es ist möglich, eine Auflistung von über 100 Gruppierungen aufzustellen.

Die zweitgrößte Abspaltung dreht sich um die:

Schiiten

Laut schiitischem Verständnis ist nur Alî, der Vetter und Schwiegersohn Muhammads und spätere vierte Kalif, rechtmäßiger erster Nachfolger Muhammads. Leiter der Gemeinde ist der Imâm. Ein Imâm muss ein Nachkomme Alîs sein. Wegen unterschiedlicher Ansichten über die Gestalt des Imâm spalteten sie sich wieder in weitere Gruppen:

  • Größte schiitische Strömung bilden die Zwölferschiiten oder Imamiten: Der 12. Imâm, Muhammad ibn Hasan al-Mahdi (Mitte 9. Jhdt.) lebe in der Verborgenheit weiter und werde als Mahdi zurückkehren. Der Mahdi (außerkoranisches Konzept aus den Ahadith) ist für die Schiiten frei von Sünde und Irrtum und wird eine gerechte Gesellschaft errichten. Während seiner Abwesenheit sollen qualifizierte Theologen die Leitung der Gemeinde übernehmen. Vor allem in Iran verbreitet. Dieser Strömung gehört die Rechtsschule der Dschafariya an.
  • Zweitgrößte Gruppe sind die Ismailiten oder Siebener-Schiiten: Der schon vor seinem Vater „verstorbene“ Sohn des 6. Imâms, Ismail ist der rechtmäßige 7. Imâm. Er lebe in der Verborgenheit weiter und werde eines Tages als Mahdi auf die Welt zurückkehren. Heute verbreitet in: Jemen, Iran, Indien, Syrien.
  • Zaiditen oder Fünfer-Schiiten: lehnen die Vererbung der Imâm-Würde und den Mahdi-Glauben ab.
  • „Extreme“ Schiiten: Gott wohnt direkt in den Imâmen. Kleine Gruppe, z.B. in Syrien.
  • Aleviten: dem Ursprung nach schiitisch beeinflusste Strömung, da auch bei ihnen die Verehrung der 12 Imame und insbesondere von Ali (deshalb auch der Name Aleviten aus dem Arabischen von ʿalawī) im religiösen Leben bekannt ist. Sie verstehen sich auch gern als Anhänger eines Schamanismus oder einer Naturreligion. Nicht zu verwechseln mit den…
  • Alawiten oder Nusairer: Sie gehen auf Ibn Nusair zurück. Von zwölfer-schiitischer Seite werden sie als Übertreiber betrachtet.

Auch bei den Schiiten gibt es noch weitere Gruppierungen. Als letzte und meist unbekannte dritte Abspaltung des Islam gelten die

Ibaditen

Die Ibaditen sind der einzig übrig gebliebene Zweig der Charidschiten, einer der frühen Glaubensrichtungen des Islams neben den Sunniten und Schiiten. Die Lehre stand bzw. steht den Sunniten näher als den Schiiten. Heute vor allem in Oman verbreitet. Die Sunniten erkennen die Ibaditen als weitere Rechtsschule an, jedoch nicht innerhalb der gegenseitigen Akzeptanz wie unter den vier größten Rechtsschulen der Sunniten. Oft werden sie als „extrem“ bezeichnet.

 

Unterschiede zwischen den Richtungen

Zu diesem Thema eine gute und knappe Darstellung von Hans Küng:

Die Spaltung des Islam

Nicht Glaubensstreitigkeiten um die Orthodoxie, sondern Streitigkeiten um die wahre Nachfolge des Propheten waren Anlass zu dem im Koran streng verbotenen ersten muslimischen Bürgerkrieg, ja, zur Krise des ur-islamischen Gemeindeparadigmas (PI) und zur bis heute bestehenden Spaltung der Umma in drei „Parteiungen“:

– die sunnitische Partei, welche bis heute die übergroße Mehrheit der Muslime umfasst, die sich an die Sunna und alle vier rechtgeleiteten Kalifen halten wollen;

– die schiitische, die „Partei“ (shia) Alis, des ermordeten Vetters und Schwiegersohns Muhammads, die bis heute die Minderheit (ca. 10%) der Muslime (im Iran, Irak und Libanon) ausmacht und die allein Ali als rechtmäßigen Nachfolger des Propheten anerkennt;

– die harigitische, die „Auszügler“ (Kharidschiten), die unabhängig von jeglicher Stammes- oder Familienzugehörigkeit nur den besten Muslim (und sei es ein abessinischer Sklave) als Nachfolger akzeptieren wollen, die lange Zeit mit ihrer puritanischen Ausrichtung den sunnitischen Kalifen erbitterte Kämpfe lieferte und heute nur noch unter den Berbern, in Oman und in Sansibar vertreten ist.

Nach verlustreichen Kämpfen gegen die schiitische Partei, setzt sich die ursprünglich Muhammad feindlich gesinnte mekkanische Familie der Umaiyaden durch. Mit ihnen siegt die Mehrheitspartei der Sunniten. Die Umaiyaden verlegen die Residenz des Kalifen nach Damaskus und machen Syrien zur islamischen Vormacht. Der erste der 13 Umaiyaden-Kalifen, Muawiya, einigt die arabischen Stämme und etabliert anstelle der arabischen Stammesföderation einen zentralisierten und bürokratisierten Staat mit Armee, Kanzlei, Post- und Nachrichtendienst.

Hans Küng – Spurensuche
Die Weltreligionen auf dem Weg 2: Judentum, Christentum, Islam
Seite 164 f., Ungekürzte Taschenbuchausgabe, November 2005, © 1999 Piper Verlag GmbH, München

Zu den größten Verursachern dieser Abspaltungen zählen die Ahadith. Denn nicht zuletzt deshalb streiten sich die Schiiten und die Sunniten über konkrete theologische oder philosophische Ideen. Jede Gemeinschaft hat ihre eigene Kollektion von Hadith-Büchern und jede Gemeinschaft greift die Gewährsmänner und Tradenten der anderen Gemeinschaft in Bezug auf ihre Loyalität, Tadellosigkeit und Rechtsgültigkeit an. Während beispielsweise Abu Huraira und Mu’awiya bei den Sunniten Ansehen genießen und respektiert werden, sind diese gerade bei den Schiiten im Fokus der Kritik. Mu’awiya wird zum Beispiel als Usurpator (Person, die sich widerrechtlich der Herrschaftsgewalt im Staat bemächtigt) betrachtet.

In anderen Worten ist ein von den Sunniten als ’sahih‘ eingestufter Hadith bei den Schiiten im seltensten Falle ebenfalls ’sahih‘. Es bestehen große theologische Differenzen im Verständnis und der Ausübung der Religion des Islam. Als einzelnes Beispiel sei hier erwähnt, dass Schiiten beim Kontaktgebet (Salâh) ihre Hände nicht aufeinander gelegt auf den Oberkörper drücken, sondern ihre Hände frei und lose runterhängen lassen.

Wohlgemerkt geht jede Sekte davon aus, dass sie die ursprüngliche Variante befolgen, die angeblich der Prophet selber verrichtet hätte.

 

Der Koran über Abspaltungen

Der Koran verbietet es den Gläubigen, sich abzuspalten und Gruppierungen oder Sekten zu folgen. Der Islam des Koran erkennt die Religions- und Meinungsfreiheit an, jedoch verbietet er, sich in sektiererischen Handlungen zu begeben. Selbst mit den Glaubensgemeinschaften vorheriger Schriftvölker wie etwa Christen und Juden sollten wir auf Anordnung Gottes zu ein und demselben Wort kommen (3:64), zu einer gemeinsamen Grundlage.

Einer der Gründe liegt auch darin begründet, dass Abspaltungen auch politische Zerwürfnisse nach sich ziehen können und Instabilität im Lande fördern. Auch vor dem blinden Drang nach Wahrheitsbesitz und selbstsüchtigem Neid wird auf diese Weise gewarnt (42:14). Im Gegenteil verlangt Gott von uns, dass wir nicht zerfallen sollen, sondern im Hinterkopf stets das Aufrechterhalten der Einheit behalten müssen (3:102-105), da dies den ursprünglichen Zustand beschrieb (10:19). Mit Sektierern hat der Islam nichts zu tun (6:159), denn Sektierer sind Parteien, die sich immer über das freuen, was sie selbst haben (30:32) und in ihrer Haltung stur und starr sind. Deshalb sollen sie in Ruhe in ihrem Irrtum gelassen werden (23:52-56). Des Weiteren werden die Sekten als „untereinander zerstritten“ charakterisiert (21:92-93), während die echten Gläubigen eine einzige Gemeinschaft bilden wollen und sollten.

Es gehört jedoch auch zum Willen Gottes, dass es unterschiedliche Gemeinden gibt (11:118-119, 42:8), weil Er uns prüfen und uns unterscheiden will. Eines der Anzeichen, dass Gott mit einem Volk unzufrieden ist, lässt sich auch darin beobachten, dass dieses Volk in zerstrittene Parteien aufgespalten wird (6:65).

Diejenigen, die eine bestimmte Madhab oder eine bestimmte Sekte als Gottes Religion verkaufen, werden mit diesen Versen angesprochen. Leider wurden professionelle Gelehrte während unserer ganzen Geschichte die größten Feinde des Monotheismus und Gottes! Jene, die in die Hölle eintreten, haben diesen Entscheid aus freiem Willen in dieser Welt selbst gefällt. Gewisse Anhänger von Gelehrten, die ihre Gelehrten idolisieren (9:31; 42:21), insbesondere in Pakistan und Indien, rufen die Gelehrten als „Mawlana“ an, was wörtlich „unser Beschützer/Verbündeter“ bedeutet, und sie akzeptieren dies als eine religiöse Berufsbezeichnung. Solch ein Sektierer- und Götzentum stellt einen solchen Entscheid als Beispiel dar.

Den vielen Sekten, die alle ihre eigene Variante des Islam erfunden haben, entspringen unzählige Handlungen, die dem aus dem Koran beschriebenen Götzentum entsprechen. Weil sich jede Partei darüber freut, was sie hat, steigert sie sich immer weiter in das hinein, was sie hat. Regeln zu Kleidung, Ernährungsvorschriften, eine eigene “Gruppensprache”, Reglementierung von zwischenmenschlichen Beziehungen, Abstellen von Skepsis und Zweifeln (allgemeine Feindschaft gegenüber Vernunft und vernunftorientiertes Fragen).

Von Gottes Weisheit direkt empfangenden und weiterleitenden Sufis, selbsternannten Mahdis und Ayatollahs, in der Macht unbegrenzte Kalifen (zum Teil als Stellvertreter Gottes angesehen) oder Imame, die behaupten, Gott wohne in ihnen, bis hin zu Menschen, die für den Jüngsten Tag auf die Fürsprache von vergänglichen Menschen wie den Propheten erhoffen, die die Propheten öfters gedenken als Gott, die die Propheten in ein Wettbewerb stecken, wer von ihnen der von Gott am meisten geliebte sei, die ihre Vernunft abstellen und lieber blinden Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen üben, die ungerechtfertigte Politik im Namen der Religion ausüben, die Frauen unterdrücken und ihre natürlichen Menschenrechte entziehen (und ebenso Frauen, die dies noch freiwillig akzeptieren), die mit einem bestimmten Fuß das Bad betreten und mit dem anderen es wieder verlassen, die Aberglauben nachjagen wie etwa der Vorstellung, dass man von Magie und Gift nicht beeinflusst werde, äße man nur sieben Datteln aus Ajwa… all dies sind Auswüchse der Sekten und dessen, was sie bei sich als Quelle haben.

Aufgrund dieser Auswüchse und aufgrund dieses Götzentums bleiben die angeblich muslimischen Massen in soziologischer, ökonomischer, politischer und wissenschaftlicher Hinsicht in krassem Rückstand gegenüber anderen Völkern, die mittels dem Gebrauch von Vernunft zu denselben Schlüssen in Fragen wie über die Form des Rechtsstaates, die Wissenschaft, die Bildung und ihren Wert gelangen, die seit über 1400 Jahren bereits im Koran stehen.

Es ist an der Zeit, dass wir unseren Zustand selbst ändern (13:11), es ist an der Zeit die sektiererischen Spaltungen zu ignorieren und zu einer Einheit in der Vielfalt zu gelangen. Es ist an der Zeit, Gottes Ratschläge und Weisheit aus dem Koran in die Praxis umzusetzen. Es ist an der Zeit, das Gute zu gebieten und Recht zu üben, statt sich auf Sekten einzulassen. Denn ansonsten werden wir aufgrund der Gesetze, die Gott in die Natur gelegt hat, uns selbst ins Verderben führen.

30:41 Verderbnis ist gekommen über Land und Meer um dessentwillen, was die Hände der Menschen gewirkt, auf dass Er sie kosten lasse die (Früchte) so mancher ihrer Handlungen, damit sie umkehren.

42:30-31 Was euch an Unglück treffen mag, es erfolgt ob dessen, was eure Hände gewirkt haben. Und Er vergibt vieles. Ihr könnt euch auf der Erde (seinem Zugriff) nicht entziehen. Und außer Gott habt ihr weder Freund noch Helfer.

4:79 Was dich an Gutem trifft, kommt von Gott, und was dich an Schlimmem trifft, kommt von dir selbst…