Weisheit

Dschihad im Islam: Sei ein barmherziger Samariter!

Ich suche Zuflucht beim Herrn vor dem verstoßenen Satan,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

 

96:1 Lies, im Namen deines Herrn, der erschuf.

 

Dieser Satz soll gemäß Volksglauben den ersten offenbarten Vers der Lesung (arabisch: Koran) verkörpern. Doch die Mehrheit der Gottergebenen (arabisch: Muslimūn) hat diesen „ersten“ göttlichen Ratschlag vergessen. Wir sind nicht mehr geübt im Lesen der Zeichen und Verse (āyāt) der Lesung und der Natur. Die Gottergebenen müssten die Literatur, die Dichtkunst und das Schreiben allgemein wie auch die technologischen, geistigen und naturwissenschaftlichen Bereiche anführen, wenn sie den Worten Gottes wahrhaftig folgten. Aber wir kennen meistens nicht einmal unsere eigene Religion oder die Lebensordnung (dīn) der Gottergebenheit (islām) aus der Lesung gut genug, so dass sich in manchen Gesichtern ein Ausdruck des Unglaubens entfaltet, wenn sie mit den Worten Gottes konfrontiert werden. Sie sind überrascht, weil die Offenbarung Gottes ihrem traditionellen, kulturell beeinflussten Glauben widerspricht.

Nicht zuletzt aus diesem Grund lassen sie es zu, dass arabische Wörter wie Dschihad ihrer positiven Bedeutung beraubt und zu etwas abgewandelt werden, das dem Wesen der Offenbarung widerspricht. Sie lassen es zu, dass die offizielle Religion gegen die von Gott offenbarte Lebensordnung verwendet wird, obwohl uns der Barmherzige ausdrücklich davor warnt:

 

31:33/35:5 und lasst die Täuschung euch nicht in Gott täuschen!

 

Diese Aussage ist so wichtig, dass sie nicht nur einmal, sondern in gleichem Wortlaut auch in 35:5 vorkommt und sinngemäß in 57:14 wiederholt wird. Doch wir ließen uns leider täuschen, und Gott wusste das.

 

57:14 Sie rufen ihnen zu: Waren wir etwa nicht mit euch. Sie sagten: Doch, aber ihr verführtet euch selbst, ihr wartetet ab, zweifeltet und die Wünsche täuschten euch, bis der Befehl Gottes kam. So ließ euch die Täuschung in Gott täuschen

82:6 Du Mensch! Was hat dich bezüglich Deines großzügigen Herrn täuschen lassen?

 

Wir haben die Pflicht, unsere Augen zu öffnen, die Täuschung zu erkennen und zur Gottergebenheit zurückzukehren (5:105). Wir werden, so Gott will, zu einer neuen Generation von Gottergebenen, welche es nicht mehr zulässt, dass Dinge im Namen Gottes angeordnet werden, die Gott nie angeordnet hat.

 

42:21 Oder haben sie etwa Beigesellte, die ihnen von der Lebensordnung als Scharīʿah bestimmt haben, was Gott nicht erlaubt hat? …

 

Welch eine Wortwahl ist in diesem Vers doch zu erkennen, die die Weisheit Gottes zeigt! Im Vers wird das Verb „scharaʿa“ (verordnen, besitzt den gemeinsamen Wortstamm wie scharīʿah) im Zusammenhang mit der Lebensordnung (dīn) verwendet. Somit vermischen diese Täuscher ihre eigene Lebensweise mit den Geboten Gottes aus der Lesung. Sie reden so, als ob sie fromme Gläubige seien, doch in Wahrheit entfernen sie uns von Gott. Die von den Menschen erfundene Scharīʿah wird von Gott höchstpersönlich abgelehnt! Darüber hinaus wird sie mit der Beigesellung (schirk) in Verbindung gebracht. Den aufmerksamen Gottergebenen, die die Schrift kennen, läuten hier sämtliche Alarmglocken, da die Beigesellung die einzige unverzeihliche Sünde darstellt (4:48, 4:116).

Es ist deshalb an der Zeit, dass wir die menschliche, irreführende Verordnung, die sie auch Scharīʿah nennen, trennen von den Anordnungen, der Scharīʿah Gottes. Es ist an der Zeit, dass wir zur Gottergebenheit zurückkehren – zur Gottergebenheit aus der von Gott offenbarten Lesung. Dies erreichen wir, indem wir die Begrifflichkeiten aus der Lesung politisch und theologisch zurückerobern. Es ist an der Zeit, die an uns offenbarte Schrift von den falschen Gelehrten, Autoritäten und den Tyrannen zurückzuerobern, die sie missbrauchen!

 

Den Dschihad lieben lernen

Das Wort „Dschihād“ wird selbst auch von Gottergebenen oft missverstanden. Es ist für den Kenner offensichtlich, dass Dschihad kein „blutrünstiger Kampf“ oder ein „heiliger Krieg“ ist. Diese Fehlübersetzungen sind nicht einmal in der Nähe der wörtlichen Bedeutung. „Kampf“ ist qitāl (قتال) und „heiliger Krieg“ lautet al-ḥarbu l-muqaddasah (الحرب المقدسة) auf Arabisch. Sehen Sie hier irgendwo eine Ähnlichkeit zum Wort Dschihad? Nein? Gut, ich nämlich auch nicht.

Der Dschihad ist vielmehr die Bemühung gegen jegliche blutrünstige Kämpfe. Dschihad ist der schnellste Weg zum Frieden und zur Barmherzigkeit. Dschihad ist ein Ausdruck des Mitgefühls gegenüber den Bedürftigen und Schwachen. Die Quelle für Dschihad liegt in Gott und Seiner allumfassenden Liebe und Barmherzigkeit. Dschihād ist der Schutz vor dem Ungerechten. Dschihad ist – richtig verstanden – ein Segen für die Menschheit, sowohl in Bezug auf das Zusammenleben mit Anderen als auch für einen selbst.

Die Gottergebenen sind von der Vernunft (10:100, 8:22, 2:44) und der Barmherzigkeit geleitete, selbstkritische Seelen (3:134, 42:36-43, 75:2). Denn sie sind sich bewusst, dass die Barmherzigkeit sehr wichtig ist, da sich Gott selbst Barmherzigkeit vorschrieb (6:12). Diese barmherzige Seele des Gottergebenen entwickelt sich spirituell wie auch wissenschaftlich weiter (17:36, 39:18, 10:100, 35:27-28). Deshalb ist sie ein Segen für alle Menschen und nicht nur für die Person selbst, die eigene Familie oder die eigene Gemeinschaft.

Wir sind als Gottergebene verzeihend, da wir uns wünschen, dass Gott uns auch vergibt (24:22). Gott ist voller Vergebung, Liebe und Erbarmen (85:14). Unser Weg ist demzufolge auch die Barmherzigkeit (3:134, 7:199, 15:85, 41:34-35, 42:43). Und weil Verzeihen schwieriger, aber dafür umso besser ist, ist es ein Dschihad (42:37,40). Aus diesem Grund sandte Gott den Propheten Muhammad aus Seiner Barmherzigkeit heraus für alle Welten (21:107). Denn nicht die Person Muhammad selbst, sondern die Botschaft der Lesung ist eine Heilung und eine Rechtleitung für uns (41:44).

 

Dschihad als Wort

Die Wurzel des Wortes Dschihād ist dsch-h-d (‏ج ه د‎) und kommt in der Lesung insgesamt 41 Mal in 36 Versen wie folgt vor:

  • 27 Mal (2:218, 3:142, 5:35, 5:54, 8:72, 8:74, 8:75, 9:16, 9:19, 9:20, 9:41, 9:44, 9:73, 9:81, 9:86, 9:88, 16:110, 22:78, 24:53, 29:6 (2x), 29:8, 29:69, 31:15, 49:15, 61:11, 66:9) als dritter Verbstamm dschāhada (جَٰهَدَ): sich bemühen, abmühen
  • Viermal (4:95 (3x), 47:31) als aktives Partizip des dritten Verbstammes mudschāhidīn (مُجَٰهِدِين): abmühend, sich bemühend
  • Viermal (9:24, 22:78, 25:52, 60:1) als das Verbalnomen des dritten Verbstammes dschihād (جِهَاد): Bemühung
  • Einmal (9:79) als das Nomen dschuhd (جُهْد): Mühe, Engagement
  • Fünfmal (5:53, 6:109, 16:38, 24:53, 35:42) als das Verbalnomen dschahd (جَهْد): Einsatz, (intensive) Abmühung

Noch einmal zur Verinnerlichung werden die Bedeutungen dieser Abmühung, wie sie koranisch gesehen sinngemäß vorkommen, aufgezeigt:

  • sich mit aller Kraft für etwas einsetzen
  • etwas hart erarbeiten, sich anstrengen, abmühen, abrackern
  • sich kräftig, fleißig, sorgsam oder eifrig engagieren
  • mit äußerstem Einsatz mit Leib und Seele für eine Sache einstehen
  • sich abplagen, viel durchmachen, ermüden durch intensives Abmühen
  • etwas auf sich bürden, etwas ertragen
  • sich durch Schwierigkeiten quälen oder ringen

 

Dschihad als Lebensweise

Viel wichtiger als der rein sprachliche Aspekt des Wortes ist die nähere Bedeutung durch die Verwendung in der Lesung. Der wichtigste und wohl der am meisten missverstandene Ausdruck aus der Lesung ist „die Bemühung auf dem Wege Gottes“ (al-dschihād fī sabīli-llāh). Dies ist nämlich nichts anders als der Versuch, Gottes Willen zu erkennen und umzusetzen und Seiner achtsam zu sein (taqwà), während man noch auf der Suche nach der Wahrheit ist:

 

22:78 Und bemüht euch für Gott in wahrhaftiger Abmühung. Er hat euch erwählt. Und Er hat euch in der Lebensordnung keine Bedrängnis auferlegt. Dies ist die Gemeinschaft eures Vaters Abraham. Er hat euch schon früher Gottergebene (Muslime) genannt und nun in diesem (Buch), auf dass der Gesandte Zeuge über euch sei und ihr Zeugen über die Menschen seid. So haltet den Kontakt aufrecht, steuert zur Verbesserung bei und haltet an Gott fest. Er ist euer Beschützer: welch vorzüglicher Beschützer und welch vorzüglicher Helfer!

 

Die Bemühung, also der Dschihad auf dem Wege Gottes hat vor allem mit dem Kontakt (salāh) zu Gott und mit der Verbesserung sozialer Umstände (zakāh) zu tun und geschieht auch nicht nur durch Einzelne. Wir müssen uns gegenseitig darin unterstützen, für soziale Verbesserung in den Gesellschaften zu sorgen, in denen wir leben (2:215, 2:197, 3:104, 5:2, 45:15, 99:7, Kapitel 103, Kapitel 107). Dies ist die gemeinsame Abmühung, der gemeinsame Dschihad. Die Bemühung ist der Weg zur Liebe. Die Bemühung umfasst unseren Einsatz und unsere Anstrengungen, Bedürftigen Wärme, Schutz und Geborgenheit zu bieten. Dschihad ist deshalb auch schon ein freundliches Lächeln, wenn niemand lächeln will. Es ist genauso eine Bemühung, ein friedliches und freundliches Wort für jene Menschen zu haben, die uns beleidigend ansprechen (25:63). Also steht der Dschihad für eine Selbstbeherrschung im Sinne des Friedens.

 

Dschihad und Krieg?

Die sogenannten Muslime dürfen sich hier einmal selbstkritisch betrachten. Es ist nämlich viel zu einfach und meistens auch falsch „die westlichen Medien“ oder „die westlichen, politischen Mächte“ für eine „Verzerrung des Islām“ verantwortlich zu machen und plump den Satz „das hat mit dem Islām nichts zu tun“ zu wiederholen. Dadurch schieben wir die Schuld von uns und begnügen uns mit unserer eigenen Weltanschauung, ohne die Argumente durchleuchtet zu haben. Wir geben unsere Verantwortung der Selbstaufklärung und der Wissensaneignung dadurch viel zu leichtfertig ab. Deshalb seien hier zwei negative Beispiele aus der muslimischen Tradition erwähnt, um zu verdeutlichen, dass sich gewisse gewalttätige Gruppierungen eben nicht durch westliche Medien, sondern hauptsächlich durch die traditionelle Literatur beeinflussen ließen.

 

Dschihad gemäß sunnitischer Tradition

Die Frage kann gestellt werden, wieso selbst gewisse frühe Gelehrten wie Asch-Schaibānī (Das große Buch der Kriege) aus dem späten achten Jahrhundert glaubten, Dschihad sei ein Angriffskrieg zur Bekehrung von Andersgläubigen. Sie waren zumindest so weit gebildet, dass sie die gesamte Lesung studieren konnten. Die meisten Gelehrten lernten sie sogar komplett auswendig. Asch-Schaibānī ist auch keine Randfigur in der Tradition, sondern ein Mitbegründer der hanafītischen Rechtsschule, eine der vier Rechtsschulen im Sunnitentum.

Es darf nicht vergessen werden, dass die Menschen die Lesung und somit das Wort Gottes interpretieren müssen. Ohne eine schlüssige Herangehensweise an den Text kann man jedwede Art der Interpretation irgendwie rechtfertigen. Allein wenn wir das Vorgehen akzeptieren, immer den gesamten Text aus der Lesung im Zusammenhang zu berücksichtigen, können wir diese menschenfeindliche Position von Asch-Schaibani niemals als eine Gott ergebene (auf Arabisch: islamische) Haltung bezeichnen. Zu viele andere Textstellen stehen dazu im Widerspruch (alleine 2:256 reicht aus, weitere: 10:99, 18:29, 88:21-22, 60:8-9).

Ein weiteres negatives Beispiel für eine falsche Herangehensweise ist der Theologe As-Sarachsī (11. Jahrhundert). Die Meinung von As-Sarachsi zeigt, wie vorsichtig wir in der Methodik sein müssen. Er glaubte irrtümlicherweise, dass der Dschihād nur in den Anfangsphasen eine eingeschränkte Bedeutung erhielt, in der die Beigeseller nur ignoriert werden sollen. Der Dschihād sei künftig gleichzusetzen mit dem Gebot zum Kampf, wobei sämtliche Beigeseller zu bezwingen seien. Dies würdige seiner Meinung nach die Religion selbst! Und genau auf eine solche Art der Interpretation stützen sich die Extremisten.

 

Weitere traditionelle Ansichten

Es gibt natürlich auch viele andere Ansichten in der sunnitischen Literatur, welche im Mainstream-Islām verbreitet sind, wie z.B. die Unterscheidung zwischen großem und kleinen Dschihad. Der kleine umfasse die kriegerische Handlung und der große meine die Arbeit an sich selbst, das Ausmerzen von allem Schlechten, wie Wut, Zorn oder Hass. Darüber hinaus gibt es noch viele Versuche, den Dschihād zu kategorisieren in Unterbereiche wie:

  • Dschihād der Seele (dschihād bi-n-nafs)
  • Bemühung der Zunge (dschihād bi-l-lisan)
  • Dschihād des Stiftes (dschihād bi-l-qalam)
  • Bemühung des Wissens (dschihād bi-l-ʿilm)

Solche Unterteilungen können aber sehr unterschiedlich sein und sind meist nicht koranisch belegt.

Es gibt zudem einen Ausspruch (Ḥadīṯ), wonach man sich gegen „das Üble“ in folgender Reihenfolge wehren sollte: Hand, Zunge und Herz (Riyāḍ uṣ-Ṣāliḥīn Nr. 184). Zuerst sollte man aktiv das Üble mit eigener Hand ändern, wenn nicht möglich, dann gegen die Ungerechtigkeit mündlich (Zunge) protestieren und zuallerletzt im Herzen rebellieren. Dieser Ausspruch ist höchst problematisch, da er auf diese uneingeschränkte Art eine Religionspolizei einfordert, wenn es eine sunnitische oder schiitische Regierung geben sollte. Denn eine solche Regierung hat die Mittel und die Wege aktiv (Hand) vorzugehen, um in ihren Augen Übles vorzubeugen. Dadurch wären die Rechte von Andersdenkenden, Andersgläubigen, Homosexuellen nicht mehr gewährleistet, wie wir leider heute schon in gewissen Ländern beobachten können.

 

Dschihad und Verteidigungskrieg in der Lesung

Wir sehen nun die Notwendigkeit, sämtliche Verse aus der Lesung miteinander in Verbindung zu bringen. Es reicht nicht aus, einzelne Verse oder Themenbereiche in einen vermuteten, künstlich erstellten zeitlichen Rahmen zu setzen. Die historische Kontextualisierung kann also im Ansatz nur Vermutungen, weitere Verwirrungen oder mitunter gar anti-islamische Haltungen hervorbringen, wie wir soeben gesehen haben. Gott sagt uns bereits in der Lesung, dass Sein Wort dazu herabgesandt wurde, um alles zu erklären (16:89).

Es wird uns nirgends in der Lesung erlaubt, Angriffskriege zu führen. Natürlich bedeutet aber die Abmühung unter anderem auch, dass wir mit Leib und Seele für die Gerechtigkeit kämpfen müssen. Dies kann auch zur Folge haben, dass wir einen Verteidigungskrieg zu führen haben. In solch einer prekären Lage ist es auch ein Verrat an der Menschlichkeit, wenn wir die existenzielle Bedrohung von unschuldigen Menschen aufgrund eines naiven Pazifismus ignorieren. Deshalb sollten wir die Selbstverteidigung als eine Selbstverständlichkeit ansehen, auch wenn es mich eine innere Überwindung kostet, die erhöhte Wahrscheinlichkeit meines Todes eher in Kauf zu nehmen als meinen „natürlichen“ Tod. Das, obwohl wir nicht wissen können, wann wir sterben werden!

Daher kommt auch die Verknüpfung zwischen der Bemühung und einer speziellen kriegerischen Handlung zum Zwecke der Selbstverteidigung, um der Auslöschung der eigenen Existenz und der eigenen Gesellschaft entgegen zu treten (22:39-40; in diesen Versen wird das Wort für Kampf, also qitāl und nicht dschihād verwendet). Wir sollten aber stets ein friedliches Zusammenleben anstreben (2:208, 4:114, 8:61, 10:25, 60:7). Auch im Krieg gilt die Selbstbeherrschung (2:190-193) als Zeichen der innerlichen Abmühung.

 

Dschihad bedeutet Menschenliebe

Die Gottergebenheit besteht nicht nur aus der gegenseitigen Liebe zwischen Gott und Mensch, wobei Gott uns weitaus mehr liebt. Niemand ist ohne Sünde, so dass er ohne eine Vergebung seitens Gottes auskommt (35:45, 16:61). Da Gott Barmherzigkeit vor Gerechtigkeit walten lässt, können wir sicher sein, dass Er uns mehr liebt als wir Ihn (85:14, 6:12). Diese Verbundenheit sollten wir auch zwischen den Menschen pflegen. Gott ergeben zu sein bedeutet, die Menschen mehr zu lieben, als dass sie uns lieben (3:119, 59:9, 76:8-9). Weil wir ungeduldig und geizig sind, ist es umso schwieriger und eine größere Abmühung, weshalb eben diese Abmühung mit der Geduld verbunden ist (2:267, 3:92, 3:134, 3:142, 4:36).

Die Abmühung ist des Weiteren mit Empathie und Wohlwollen verbunden. Da wir großzügig von Gott beschenkt wurden, können wir diese Großzügigkeit auch den Menschen zukommen lassen (2:273, 24:22, 31:18). Dies äußert sich zum Beispiel in der Familie dadurch, dass wir unsere Eltern mit Güte behandeln müssen (29:8). Wir dürfen es aber nicht übertreiben mit der Liebe und blind werden. Wenn wir dazu gedrängt werden, die islamischen Prinzipien irgendwie weltlichen Bedürfnissen anzupassen, dürfen wir dem nicht nachgeben.

 

Dschihad bedeutet Gerechtigkeit

Wir dürfen um der Gerechtigkeit willen nicht die Menschen lieben, die tyrannisch Unschuldige aus ihren Häusern vertreiben (60:1). Liebe zu Gott bedeutet auch Liebe zur Gerechtigkeit über alle sozialen Stufen hinweg. Gott ist unser Zentrum und wir müssen mit unserem Dschihād unser Licht vervollkommnen und Gottes Barmherzigkeit verkünden. Die Vervollkommnung unserer Seele beinhaltet auch die moralische Läuterung, die Reflexion und die Kenntnis über unser eigenes Wesen. Dies führt dann dazu, dass wir unbeeinflussbar für die Gerechtigkeit einstehen (3:104, 3:110, 4:135, 5:78-81, 5:105, 7:165, 7:199, 9:71, 29:69, 99:7). Die Läuterung (zakāh) ist dermaßen wichtig, dass Gott Seine Barmherzigkeit davon abhängig macht, ob wir zur Läuterung oder in anderen Worten zur Verbesserung gesellschaftlicher Umstände beitragen oder nicht (7:156). Unser Bestreben sollte zu jeder Zeit sein, dem Frieden zugeneigt zu sein (8:61) und die Selbstvervollkommnung im Sinne Gottes anzustreben, selbst wenn wir dabei auf Feindseligkeiten stoßen:

 

5:8 O ihr, die ihr glaubtet, steht zu Gott als Zeugen für die Gerechtigkeit! Und die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht verleiten, anders denn gerecht zu handeln. Seid gerecht, das ist näher zur Achtsamkeit. Und seid Gottes achtsam, denn Gott ist kundig dessen, was ihr tut.

 

Deshalb: Liebe den Dschihād und sei ein Mudschāhid!

Oder zu gut Deutsch: Liebe die Bemühung und sei ein Bemühender, indem du ein barmherziger Samariter bist!

Bücher Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Schlusswort

Mit der hier vorgestellten exegetischen Vorgehensweise eröffnen sich teils bekannte, teils neue Betrachtungsweisen. Dieses Buch ist so Gott will das erste Buch in einer Reihe von weiteren Büchern zum Verständnis der Lesung für unsere heutige Zeit.

Wichtige Themen wie das Kontaktgebet (salāh), die Läuterung (zakāh) und die Pilgerfahrt zur Debatte (ḥadsch) müssen ebenso umfassend analysiert und zusammengestellt werden. Ein Teil dieser Analysen sind bereits auf unserer Webseite alrahman.de verfügbar.

Die islamische Theologie könnte durch interdisziplinäre Arbeiten sehr viel profitieren und sich so wiederfinden in der Fortsetzung der Blütezeit der Gottergebenheit. So zum Beispiel durch Beiträge von Logikern, die die Aussagen der Lesung logisch aufschlüsseln und analysieren. Genauso können weitere Aspekte zu weiteren Einsichten führen, wie etwa die musikalische Komponente der Lesung. Ein weiteres wichtiges Gebiet wäre eine zeitgenössische Rechtsfindung für unsere heutige Zeit ohne den unnötigen Ballast aus dem Mittelalter. Notwendig sind meines Erachtens insbesondere die Ausformulierung einer gottgefälligen Ökologie (Achtung der Schöpfung Gottes bei gleichbleibender Lebensqualität), gerechten Ökonomie (keine moderne Sklaverei im Großen durch Staatsverschuldung und im Kleinen durch zurückzuzahlende Zinsen auf Schulden bei bedürftigen Menschen), koranische Staatstheorie (eine verbesserte allgemeine Erklärung der Menschenrechte und eine verbesserte Form der Demokratie) und von theologisch begründeten Antworten zu Fragen der Bioethik und der Wissenschaftsethik allgemein, die sich aufgrund neuer Technologien stellen.

Die Zeitverschwendung mit der Auseinandersetzung von erfundenen, der Aufklärung im Weg stehenden und wissenschaftlich oft unhaltbaren und dem Propheten zugeschobenen Aussprüchen (aḥādīṯ) entfällt, wenn der Monotheismus wirklich gelebt wird, indem Gottes Wort allein als Quelle der Lebensordnung herangezogen wird.

Die in diesem Buch angeführten Beispiele können alle weiter behandelt und somit um die nötige Tiefe erweitert werden, um der Bedeutungsvielfalt der Passagen aus der Lesung gerecht werden zu können.

Ebenso muss ein Diskurs stattfinden, um die in der Lesung verwendeten arabischen Begrifflichkeiten ins Deutsche zu übertragen, ohne ihren Sinn zu entstellen. Wir können die Menschen nicht zwingen, dass sie zuerst Arabisch lernen müssen, um überhaupt erst in der Lage zu sein, die Lebensordnung Gottes kennenzulernen. Die mühselige Erklärungsnot entfällt für das Wort Muslim, wenn man einfach die deutsche Entsprechung Gottergebener verwendet. Das Verständnis ist gegeben, auch ohne dass man Arabisch können oder kennen muss.

Genauso muss die gottergebene Aufklärung theologisch untermauert werden, wie etwa durch den Ansatz, dass die eingesetzten Wissenschaften eine Begründung und Beweise für die Zeichen Gottes darstellen. Gleichzeitig muss betont werden, dass wenn wir Wissenschaft betreiben, wissenschaftliche Exzellenz das Mindestmaß sein muss, um gegen Gott keine Lügen zu erdichten. Gegen Gott Lügen zu erdichten ist eine offenkundige Sünde (4:50) und eine Handlung der Ungerechtigkeit (6:21). Wenn sich also eine wissenschaftliche Theorie als falsch erweist, so stellt dies eine gegen Gott erdichtete Lüge dar, da Gottes Wirken und Seine Gesetze und Zeichen in der Schöpfung mit einer falschen Theorie beschrieben wurde, was ein Gottergebener niemals dulden darf. Genauso darf eine wissenschaftliche Theorie nicht pauschal ohne tiefgründige Analyse oder Falsifizierung abgelehnt werden, da man ansonsten Gefahr läuft, ein mögliches Zeichen Gottes aus der Natur vorschnell abzulehnen (angelehnt an 10:38–39). Dies wird in 7:37 auch als Akt der Ungerechtigkeit beschrieben. Genauso müssen wir die Wissenschaft dahingehend vorantreiben, dass es den Dienst am Menschen in den Vordergrund rückt. Die Wissenschaft darf nicht rein der Technologie zuliebe vorangetrieben und danach dem Menschen indirekt aufgezwungen werden.

Alles in allem ist die Lesung Gottes Licht für uns in der Dunkelheit, in der wir uns Gottergebene gerade befinden. Die Aḥādīṯ verdunkeln uns den Weg noch, doch wir stehen am Anfang einer aufregenden, vielversprechenden Zeit, in der die Gottergebenen so Gott will beginnen werden, Gottes Wort wieder lebendig zu machen, damit diese die Gesellschaften, in denen sie leben, bereichern und vorantreiben.

Möge uns Gott leiten und nicht vom rechten Weg abführen und uns lehren, uns nicht durch Gelehrten oder sonstige Geistliche, die im Namen Gottes predigen und lehren, täuschen zu lassen.

Möge uns Gott den Dienst am Menschen durch seine Lebensordnung der Gottergebenheit lehren.

Möge uns Gott lehren, der Eigenschaft gottergeben würdig zu sein.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 4 – Buch und Weisheit: Eine Einheit

3:81 Und als Gott den Bund der Propheten annahm für das, was ich euch an Schrift und Weisheit brachte, kam darauf zu euch ein Gesandter, das bestätigend, was mit euch ist. So glaubt an ihn und helft ihm. Er sagte: Habt ihr zugestimmt und diesbezüglich meine Bürde angenommen? Sie sagten: Wir haben zugestimmt. Er sagte: So bezeugt und ich bin mit euch unter den Bezeugenden

 

Es ist leider so, dass ein erheblicher Großteil der Sunniten und Schiiten glaubt, dass einerseits mit „Schrift“ das Buch, also die Lesung selbst gemeint sei, andererseits die Weisheit etwas anderes sei, was wir erst durch die Aussprüche in den Ḥadīṯ-Büchern erfahren könnten. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn hier begründet sich die theologische Argumentation vieler klassisch-orthodoxer Sunniten oder Schiiten und ihren Anhängern, die damit der Tradition Gewicht verleihen möchten. Diese Tradition beinhaltet unter anderem auch die Steinigung, die Apostasie-Strafe für Abfällige von der Religion, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frau und viele weitere Abscheulichkeiten. Deshalb müssen wir diesem Missbrauch der Verse aus der Lesung Einhalt gebieten.

Dass diese Idee, die Weisheit sei in der traditionellen Sunna, auf einem Fehlverständnis der Lesung beruht, werde ich im Anschluss gleich zeigen. Leider hat dies alles damit angefangen, dass ein mittelalterlicher Gelehrter, nämlich Asch-Schāfiʿī meinte, er müsse die auf Vermutungen, Lügen und Hörensagen begründeten Überlieferungen zu einer Offenbarung (waḥiy) erheben, um so der angeblich prophetischen Sunna Legitimität zuschreiben zu können. Diese Leute des Hadīṯ (ahlu-l-ḥadīṯ) waren dermaßen überzeugt von ihrer eigenen Ansicht und sehr aggressiv, dass sie diese Überlieferungen, welche dem Propheten angedichtet wurden, faktisch höher ansahen als die Lesung selbst. Zumindest wurde die Lesung nicht als kategorisch epistemologisch erhabener als ihrer Meinung nach zuverlässige Aussprüche angesehen. Es wird von ihnen auch folgender Spruch überliefert:

 

جاءت السنة قاضية على الكتاب وليس الكتاب قاضياً على السنة

dschā’at as-sunnatu qāḍiyatan ʿalá al-kitābi wa laysa al-kitābu qādiyan ʿalá as-sunnah

Die Sunna kam als Richtende über das Buch (die Lesung) und nicht das Buch als Richtender über die Sunna.118

 

Natürlich werden die heutigen Gelehrten diesen Satz relativieren und sagen, dass damit gemeint sei, die angeblich prophetische Sunna sei dazu da, um eine Erklärung für die in der Lesung „nicht erklärten“ Verse anzubieten. Den ersten Fehler, den sie hierbei begehen: Sie nehmen an, das Buch Gottes hätte nicht bereits die Erklärung in sich für diese Verse (siehe 25:33). Den zweiten Fehler, den sie begehen: Die meisten Aussprüche, selbst wenn sie in der Überliefererkette (Isnad) und im Inhalt oder Text (Matn) beide als authentisch (ṣaḥīḥ) gelten, sind und bleiben immer eine Vermutung und Gottes Lebensordnung kann nicht auf Vermutungen begründet werden. Die Lesung wird nicht durch Vermutungen begründet, sondern durch sich selbst, indem wir Verse im Lichte anderer Verse betrachten.

Die Wurzel ḥā-kāf-mīm (ح ك م), von welcher das arabische Wort für Weisheit abgeleitet ist, beherbergt als Grundbedeutung die Idee der „Weisheit“. Sie kommt in der Lesung in 189 Versen insgesamt 210 Mal vor.119 Aus diesem Grunde werden für Wörter wie „Richter“ oder „Urteil“ Ableitungen dieser Wurzel verwendet, da beispielsweise eine ausgebildete Richterin ohne die eigenen Gefühle ins Zentrum zu stellen bedacht, vernünftig und gerecht Urteile fällen muss. In anderen Worten muss sie weise handeln. Die in der Lesung verwendeten Wortformen sind:

  • 45 Mal als ersten Verbstamm ḥakama (حَكَمَ): urteilen/richten
  • 30 Mal als das Verbalnomen des ersten Verbstammes ḥukm (حُكْم): Urteil
  • Fünfmal als aktives Partizip des ersten Verbstammes ḥākimīn (حَٰكِمِين): Urteilende/Richtende
  • Zweimal als zweiten Verbstamm yuḥakkimu (يُحَكِّمُ): Jemanden zum Richter ernennen
  • Einmal als das aktive Partizip des dritten Verbstammes ḥukkām (حُكَّام): (strafrechtlich) Verfolgender / die rechtlich Zuständigen / Richter
  • Zweimal als vierten Verbstamm uḥkimat (أُحْكِمَتْ): stärken, etwas klar machen
  • Zweimal als passives Partizip des vierten Verbstammes muḥkamāt (مُّحْكَمَٰت) und muḥkamah (مُّحْكَمَة): klar gemacht
  • Einmal als sechsten Verbstamm yataḥākamu (يتََحَاكَمُ): sich gegenseitig vor den Richter bringen, Urteil verlangen
  • Zweimal als die Steigerungsform oder als Elativ aḥkam (أَحْكَم): weiser als / weisest. In der Lesung nominal verwendet als „der Weiseste“ (95:8)
  • Dreimal als das Nomen ḥakam (حَكَم): Schiedsrichter/Vermittler
  • 20 Mal als das Nomen ḥikma (حِكْمَة): Weisheit
  • 97 Mal als das Adjektiv bzw. das Nominal ḥakīm (حَكِيم): weise / der Weise

Wir werden in den nächsten Abschnitten sehen, dass in Tat und Wahrheit die Weisheit und das Buch eine Einheit bilden, die Weisheit also der Lesung innewohnt.

Es gibt viele Arten, wie diese Wurzel in der Lesung verwendet wird. Eins ist aber immer klar: Die Weisheit ist stets Gott und Seiner Offenbarung zu verdanken und die einzige Quelle der Weisheit ist Gott mit Seinem Wort und Wirken.

Wenn wir uns mit der Frage befassen, wie der Prophet urteilte und warum man in der Gottergebenheit nur mit der Offenbarung urteilen darf, so lesen wir:

 

5:48 Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So urteile (uḥkum) zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist.

 

Hier ist es eindeutig, dass nur nach der Offenbarung zu urteilen erlaubt ist, dass es demnach nur eine Sunna geben kann, nämlich Gottes Sunna. Der Prophet urteilte also nach der Lesung (vgl. auch 7:203) und zwar nur nach dieser. Daraus können wir schließen, dass auch alle vorherigen abrahamitischen Religionen nach ihren jeweiligen Büchern zu urteilen hatten, denn laut der Lesung ist die Gottergebenheit keine neue Religion, sondern die Bestätigung der vorangegangenen Bücher. Bereits Abraham nannte sich und seine Mitgläubigen Gottergebene (22:78).

 

3:79–80 Nicht gebührt es einem Menschen, dass Gott ihm die Schrift, die Weisung (al-ḥukm) und die Prophetie zukommen lässt, und der danach zu den Leuten sagt: Seid mir Diener anstelle Gottes. Sondern: Seid ein Vorbild dabei, wie ihr die Schrift zu lehren und wie ihr zu studieren pflegtet. Und nicht befiehlt er euch, dass ihr die Engel und die Propheten als Herren nehmt. Befiehlt er euch etwa das Ableugnen, nachdem ihr Ergebene seid

 

Wir erinnern uns daran, dass ein „und“ in der Lesung nicht zwangsläufig bedeutet, dass hierbei unterschiedliche Einheiten in einer Aufzählung gemeint wären. Vielmehr sehen wir in diesem Vers auf deutliche Art und Weise, dass sie miteinander eng verbunden sind. Die Prophetie besteht darin, das Buch Gottes als Offenbarung zu erhalten und die darin innewohnende Weisheit den Menschen zu verkünden.

Die Verse 3:79–80 sind auch eine eindeutige Ansage, sich die Propheten nicht zu Herren zu nehmen und sich ganz auf Gott und Sein Wort zu konzentrieren – geradeaus direkt mit Gott die Verbindung aufzubauen, ohne Nebenwege einzuschlagen in religiösen Belangen! Sollten andere ins Zentrum gestellt werden, wo Gott doch die Quelle allen Heils ist? Würde Gott uns die Beigesellung und Ableugnung anordnen? Die einzige Autorität ist und bleibt Gott:

 

42:10 Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil (al-ḥukm) darüber steht Gott zu. Dies ist doch Gott, mein Herr. Auf Ihn verlasse ich mich, und Ihm wende ich mich reuig zu.

 

Auch hier sehen wir wie eben dargelegt, dass das Urteil bei Uneinigkeiten in religiösen Dingen Gott allein obliegt, dass sich der Prophet nur auf Gott verlässt und sich Ihm in Reue zuwendet – sich also ganz auf Ihn einstellt. Ist nicht dies der Monotheismus in seiner schönsten Weise, von unseren Propheten vorgelebt? So folgen wir seinem prophetischen Beispiel und verlassen uns allein auf Gott.

 

4:105 Gewiss, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest (litaḥkuma) auf Grund dessen, was Gott dir gezeigt hat. Sei kein Verfechter für die Verräter!

 

Gott gibt also dem Propheten das Buch, damit er zwischen den Menschen richte. Der Satzteil „was Gott dir gezeigt hat“ bezieht sich auf die in der Lesung vorhandenen moralischen, ethischen wie auch sozialen Prinzipien, die gemäß der Wahrheit offenbart wurden. Dies wird in der Betonung der Wahrheit im Vers sichtbar, die dem Buch innewohnt. Hier wird nochmals die Einheit Gottes ersichtlich, nämlich dass Gott in religiösen Angelegenheiten die einzige Autorität (6:114) und unser einziger Lehrer ist (55:1–2).

Die Lesung liegt uns heute vollständig vor und Gott hat uns dort  alle Urteile, die religiöse Belange betreffen, zu seiner Vollkommenheit mitgeteilt. Gott will im vorangegangenen Vers 4:105 dem Propheten nahelegen, nicht seinen Neigungen gemäß zu handeln. Denn das Buch und ihre Urteile sind eine Sache, die Durchführung und die damit verbundene Konsequenz eine andere. Der Prophet war nämlich nur ein Mensch (18:110) mit allen damit verbundenen Stärken und Schwächen. Denn der Vers 4:105 betont diese Haltung im letzten Satz: „Sei kein Verfechter für die Verräter!“

Und als nächstes muss man sich fragen, wie soll sich eine menschliche Sunna mit den oben behandelten Versen verstehen lassen, die nur der Offenbarung Platz einräumen? Und wieso wird in der Lesung nur Gottes Sunna erwähnt? Darüber hinaus muss die Quelle für die Religion rein und ohne Makel sein und wir finden in der Lesung selbst gleich mehrere Beispiele, die die Sünden des Propheten behandeln (47:19, 48:2). Die Offenbarung selbst wird hingegen als rein bezeichnet:

 

98:2 Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorliest

 

Wir sehen, eine Offenbarung muss ohne Makel sein und die traditionell gelehrte Sunna ist es nicht. Die traditionelle Sunna ist menschlichen Ursprungs, da bisher niemand behauptet hat, Buchārī oder Konsorten seien ebenso Gesandte Gottes, die in Seinem Namen gehandelt hätten. Allein diese Umstände verunmöglichen es, der traditionellen Sunna irgendeine religiöse Autorität zu verleihen.

Wir fassen das Bisherige zusammen:

  • Gott lehrte den Propheten die Lesung (55:2) und nur die Lesung.
  • Der Prophet wie auch alle Gläubigen dürfen nur dem Herabgesandten, also der Lesung folgen (7:3, 7:203).
  • Der Prophet selbst ist keine weitere Quelle, kein weiterer Herr, wie es 3:80 und 6:19 und auch weitere Verse klar machen.
  • Gott allein steht das Urteil zu (6:114, 5:44 usw.).

Es ist also sehr deutlich, dass der Prophet nur nach dem offenbarten Buch urteilte und keine andere Quelle benutzen durfte und dass nur Gott urteilen darf in religiösen Angelegenheiten. Der Vers 6:114 wird tiefgreifend mit dem Monotheismus verknüpft, denn der Vers sieht nur einen Schiedsrichter vor – Gott allein. Seine Gesetze sind im Buch, die ohne Sekundärquellen auskommen. Die Lesung wurde hier als „ausführlich dargelegt“ beschrieben, somit erübrigt sich die Frage, ob die Lesung Einzelheiten ausgelassen habe, die durch die traditionelle Sunna ergänzt werden müssten. Durch die rhetorische Frage des Verses wird jegliche Quelle außer Gott für überflüssig und auch ungültig erklärt.

 

6:114 Soll ich denn einen anderen Schiedsrichter (ḥakam) als Gott begehren, wo Er es doch ist, der das Buch, ausführlich dargelegt, zu euch herabgesandt hat?

 

Außerdem sagt Gott von der Lesung:

 

11:1 Alif-Lam-Ra. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Weisen und Kundigen.

41:3 Ein Buch, dessen Zeichen ausführlich dargelegt sind, als eine arabische Lesung, für Leute, die Bescheid wissen

 

Es lässt sich aber die Frage stellen, ob Gott denn Seine Befehlsgewalt weiter delegiert und sie in dem Sinne dann indirekt wirken lässt? Gibt es also noch andere Verse, die die Einheit und alleinige Autorität Gottes untermauern und somit die vorige Frage verneinen? Es folgen Verse, die besonders die alleinige Autorität Gottes hervorheben, indem gerade betont wird, dass Er seine Befehlsgewalt nicht aufteilt:

 

18:26 Sag: Gott weiß am besten, wie (lange) sie verweilten. Sein ist das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie vorzüglich ist Er als Allsehender, und wie vorzüglich ist Er als Allhörender! Sie haben außer Ihm keinen Schutzherrn, und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden.120

11:12 Vielleicht möchtest du einen Teil von dem, was dir offenbart wird, verlassen und deine Brust ist dadurch beklommen. Dies, weil sie sagen: „Wäre doch ein Schatz auf ihn herabgesandt worden oder ein Engel mit ihm gekommen!“ Du bist aber nur ein Warner. Und Gott ist Sachwalter über alles.

12:40 Anstelle seiner dient ihr nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet. Dafür ließ Gott keine Ermächtigung herabsenden. Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Er befahl, dass ihr keinem außer ihm dient. Dies ist die wertvolle Lebensordnung, doch die meisten Menschen wissen nicht

6:57 Sag: Ich halte mich an einen klaren Beweis von meinem Herrn, während ihr Ihn der Lüge bezichtigt. Ich verfüge nicht über das, was ihr zu beschleunigen wünscht. Das Urteil gehört allein Gott. Er berichtet die Wahrheit, und Er ist der Beste derer, die entscheiden.121

 

Die vier oben genannten Verse machen mit Aussagen wie „Das Urteil (al-ḥukm) ist allein Gottes“, „Und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden“ oder „Und Gott ist Sachwalter über alles“ klar, dass weitere Quellen neben Gottes Worten keine Autorität haben können. Sie unterstreichen die alleinige Autorität Gottes und zeigen auf, dass es nur die Sunna Gottes gibt. Wenn wir uns die Frage stellen, welche Befugnisse der Gesandte durch Gottes Worte, also durch die Lesung erhält, so finden wir unter anderem folgende Verse dazu:

  • Dem Gesandten obliegt nur die Verkündigung. (5:92, 64:12)
  • Der Gesandte ist nur ein Warner. (88:21, 79:45, 13:7, 11:12)
  • Der Gesandte hat die Botschaft klar zu übermitteln. (16:44)

Es gibt noch viele weitere Verse, die die alleinige Autorität Gottes hervorheben, ich will hier nur mit drei Versen diese Angelegenheit ein letztes Mal verdeutlichen:

 

12:67 … Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Auf Ihn vertraue ich und auf Ihn sollen sich die Vertrauensvollen verlassen.

25:2 Er, Dem das Königreich der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind nahm und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hatte und alles erschuf und ihm sein Maß wohlbemessen gegeben hat.

28:70 Und Er ist Gott. Es gibt keine Gottheit außer Ihm. Ihm gehört das Lob im Ersten und im Letzten. Ihm gehört das Urteil, und zu Ihm werdet ihr zurückgebracht.

 

Nach diesen und anderen Versen ist es schwer eine Gewaltenteilung vorzunehmen, dass auf der einen Seite die Lesung stünde und auf der anderen Seite die menschliche Sunna (entgegen der göttlichen Sunna). Gott, „der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat“, und von sich aus sagt, dass das Urteil (ḥukm) allein Seines ist und Ihm das Richten gehört, reicht den Gläubigen aus.

 

12:80 Als sie es bei ihm aufgegeben haben, gingen sie gerettet davon. Der Älteste von ihnen sagte: Wisst ihr nicht, dass euer Vater von euch, auch bevor ihr euch von Josef entledigt habt ein verbindliches Versprechen vor Gott entgegengenommen hat. Ich werde das Land nicht verlassen, bis mein Vater es mir erlaubt oder Gott richtet (yaḥkum Allāh), und er ist der beste der Richtenden (al-ḥākimīn).

95:8 Ist Gott nicht der Weiseste der Richtenden (bi-aḥkami al-ḥākimīn)?

5:50 Erstreben sie etwa das Urteil (al-ḥukm) der Ignoranz? Wer ist ein besserer Richter (ḥukm) als Gott für ein Volk, das überzeugt ist?

 

Wir sehen also überaus deutlich, dass die Weisheit und die daraus abgeleiteten Urteilssprüche Gott allein gehören. Es gibt auch klare Aussagen in der Lesung, dass die Lesung selbst die Weisheit darstellt. Wie etwa in Kapitel 17, in welchem beginnend ab Vers 22 ethische Prinzipien und Gesetze erklärt werden, welche ein Gläubiger umzusetzen hat. Dies geht weiter bis Vers 38 und im darauffolgenden Vers lesen wir:

 

17:39 Diese sind von dem, was dein Herr dir von der Weisheit offenbarte. Und setze zu Gott keine andere Gottheit, sonst wirst du in die Hölle geworfen, verschmäht und verstoßen sein

 

Die vorhergehenden Verse werden also direkt als Teil der Weisheit des Herrn beschrieben. Insofern sehen wir in diesem Beispiel, dass die Verse ein Teil der Weisheit Gottes sind. Im nächsten Schritt werde ich aufzeigen, dass diese laut der Lesung eine Einheit sein müssen. Das Prinzip der Einheit von Buch und Weisheit wird also auch von der anderen Richtung her aufgezeigt.

 

2:231 … So nehmt euch Gottes Zeichen nicht zum Spott und gedenkt Gottes Gunst an euch und dessen, was Er aus der Schrift und der Weisheit (al-ḥikmah) auf euch herabsandte, euch damit zu belehren. Und seid Gottes achtsam und wisst, dass Gott in allen Dingen wissend ist.

 

Auf Arabisch heißt es:

 

ولا تتخذوا ءايت الله هزوا واذكروا نعمت الله عليكم وما أنزل عليكم من الكتب والحكمة يعظكم به واتقوا الله واعلموا أن الله بكل شىء عليم

Transliteration:
wa lā tattachiḏū ʾāyāti-llāhi huzuwān waḏkurū niʿmāta-llāhi ʿalaykum wa mā ʾanzala ʿalaykum min al-kitābi wal-ḥikmati yaʿiẓukum bihi wa-ttaqū-llāha wa ʾaʿlamū ʾanna-llāha bikulli schayʾin ʿalīmun

 

Das große fette Wort im Arabischen wird in der Übersetzung als „damit“ wiedergeben und transliteriert „bihi“ ausgesprochen. Wären nun die Schrift und die Weisheit zwei verschiedene Dinge, müsste für den Bezug auf diese beiden verschiedenen Dinge die Dualform benutzt werden, nämlich bihimā (بهما) oder zumindest der Plural bihim (بهم). Der im Vers verwendete Bezug ist aber singular! Somit sind die Schrift und die Weisheit eine Sache, oder anders gesagt: Die Weisheit wird als der Schrift innewohnend angenommen.

Alles in allem kann bekräftigt werden, dass die traditionelle Aufteilung in Buch als die Lesung und Weisheit als die angebliche prophetische Sunna auf einem missglückten, geradezu peinlichem Fehlverständnis des Begriffs „Weisheit“ und der Wurzel selbst beruht, wobei ich hier etliche Verse zitierte, die Gott allein Autorität zusprechen und die Gott allein als Quelle der Weisheit klarstellen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Die Werkzeuge der Vernunft

In diesem Kapitel werden wir uns den uns zur Verfügung gestellten Werkzeugen des Denkens widmen. Dieses Kapitel ist meines Erachtens eines der wichtigeren in diesem Buch, da selbst eine Vielzahl der „muslimischen“ Intellektuellen Aussagen von sich geben, die keiner mit einem gesunden Menschenverstand und einer Mindestportion an Ausbildung auszusprechen wagen würde. Wieso ich in dieser Hinsicht gerade die Logik in den Vordergrund stelle, also eine mathematische Disziplin, hat nicht nur damit zu tun, dass ich selbst Mathematik studiert habe, sondern auch damit, dass viel im Verstehen der Lesung vereinfacht wird, wenn wir zumindest die grundlegenden Prinzipien des Schlussfolgerns beherrschen und die häufigsten Fehler vermeiden.

Oder um es in den Worten Karl Mengers zu sagen:

 

Nicht etwa, daß bei größerer Verbreitung des Einblicks in die Methode der Mathematik notwendigerweise viel mehr Kluges gesagt würde, aber es würde sicher viel weniger Unkluges gesagt.

– Karl Menger

 

Hierbei werde ich keine bestimmte Logik von Grund auf neu aufbauen. Dazu gibt es viele gute Bücher auf dem Fachmarkt. Wichtig ist zu wissen, dass es nicht die, also nur eine Logik gibt, sondern mehrere. Worauf ich mich beziehen will ist die sogenannte klassische Aussagenlogik, also die Art von Logik, welche sich mit den Aussagen und deren Verknüpfungen befasst. Mithilfe dieser Logik werde ich Aussagen aus der Schrift untersuchen oder verknüpfen. Sie müssen keine studierte Mathematikerin oder ein studierter Mathematiker sein, um die wichtigsten Regeln der Aussagenlogik begreifen und anwenden zu können. Wichtig ist einfach, dass Sie Interesse haben, sich selbst nicht in die Irre zu führen durch Wunschdenken, Verleugnung oder Angst. Die Wahrheit wird uns freisetzen und uns alle zu einem friedvolleren Leben führen.

Da ich wie schon erwähnt die Regeln der Aussagenlogik nicht neu erklären will, möchte ich mich doch die wichtigsten kurz erwähnen. Eine Aussage hat entweder den Wahrheitsgehalt wahr oder falsch und es gilt das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (es gibt nichts zwischen wahr und falsch). Dieses Prinzip wird es uns vereinfachen, Aussagen auf ihre Plausibilität zu überprüfen.

Aussagen können verbunden werden durch „und“, „oder“ oder „nicht“. Aus diesen leiten sich dann auch Begrifflichkeiten wie „A genau dann, wenn B“ (Gleichwertigkeit) und „wenn A, dann B“ (Bedingung) ab für Aussagen A und B. Diese Regeln können erweitert oder auch zusammengefasst werden, wie zum Beispiel in den bekannten De Morgan Regeln.

Wichtig hierbei ist, dass Sie beispielsweise verstehen, dass die Aussage „wenn A, dann B“ gleichwertig ist zur Aussage „wenn nicht B, dann nicht A“. Überprüfen Sie diese Behauptung, um ein Gefühl dafür zu erhalten, dass Ihnen die technische Seite der Mathematik, der Formalismus zu weiteren Aspekten verhilft. Sie sehen das Eine, denken aber an das Andere und erhalten das Dritte aus der ganzen Sache!

Wieso kümmern wir uns also um die Logik? Was bringt die Logik mir in meinem Alltag? Bedeutet Logik, dass ich meine Gefühle und Instinkte total abschalte? Nein!

Die Logik ist zuerst einmal eine Worthülse, wenn wir nicht genauer definieren (oder es zumindest versuchen zu definieren), was sie bedeutet. Viele von uns denken bei der Logik an die Alltagslogik, die mit der Disziplin der mathematisch-philosophischen Logik nur am Rande etwas zu tun hat. Dass einem etwas „logisch erscheint“ sagt nur etwas darüber hinaus, dass dieser Gedanke oder diese Idee einem selbst gefällt. So sagt die Alltagslogik mehr über die Person aus als über den Wahrheitsgehalt der Idee selbst.

Durch die Regeln des logischen Schlussfolgerns können Sie Aussagen kombinieren und sie auch hinterfragen. Im besten Falle können Sie herausfinden, ob Ihre Aussage es überhaupt wert ist, diese zu überprüfen und ihr nachzugehen, oder ob sie von vornherein falsch formuliert wurde. Der Nutzen der Logik ist also immens und selbst ihre Gefühle, ihre Intuition können Ihnen dabei helfen, nützliche und wertvolle Aussagen überhaupt erst zu finden. Doch die Überprüfung jeglicher Aussagen ist eine gottergebene Pflicht!

 

Seit man begonnen hat, die einfachsten Behauptungen zu beweisen, erwiesen sich viele von ihnen als falsch.

– Bertrand Russell, britischer Mathematiker

 

Trügerische Logik des Alltags

Viel wichtiger als der Bezug auf die klassische Aussagenlogik ist meines Erachtens die Kenntnis der häufigsten Fehler, die man in der Begründung der eigenen Aussagen begeht, damit man sie vermeiden kann.

Es gibt sehr viele Fallen der Alltagslogik, weshalb ich eine kurze Umschreibung der meines Erachtens häufigsten logischen Fehlern bieten will. Wer sich selbst in den Gebieten der Logik und der Wahrheitsfindung weiter entwickelt, kann das entwickeln, was ich als die rationale Gesundheit der Seele (nafs) bezeichne. Denn für eine ganzheitlich gesunde Seele braucht es nicht nur die spirituelle und emotionale Gesundheit der Seele, welche nicht nur das Herz und die Empfindungen umfasst, sondern ebenso die rationale Gesundheit, wobei der Verstand als ein unzertrennlicher Teil der Seele aufgefasst werden muss.

Insbesondere folgende logische Fehler sind leicht zu vermeiden:

Strohmann-Prinzip:

Ich erfinde eine Aussage, schiebe sie meinem Gegenüber zu und widerlege dann diese Aussage, die ich mir selbst zusammengebastelt habe zu diesem Zweck. Das Prinzip heißt deshalb Strohmann-Prinzip, weil man sich seinen eigenen Strohmann bastelt, den man leicht schlagen kann. Unterstellungen fallen in diese Kategorie, da sie scheinbar unser Gegenüber schwächen. Eine unredliche Art, die der Wahrheitsfindung nur im Weg steht und unnötig Zeit raubt.

 

Annahmen generalisieren:

Da Atome unsichtbar sind, und ich aus Atomen bestehe, bin ich selbst unsichtbar. Da ich aber nicht unsichtbar bin, gibt es keine Atome. Hier wird nicht die Annahme generalisiert, dass Atome unsichtbar sind, sondern die versteckte Annahme dahinter, dass unsere Augen das Maß aller Dinge seien

 

Falsche Kausalität (Korrelation):

Nur weil etwas miteinander korreliert, also miteinander in Bezug steht, heißt das noch lange nicht, dass sie sich gegenseitig verursachten. Nur weil in einer Studie herausgefunden wurde, dass Kaffee mit erhöhtem Krebsrisiko zusammenhängen kann, heißt das noch lange nicht, dass Kaffee die Ursache ist. Vielleicht sind Kaffeetrinker auch öfters Raucher als Nicht-Kaffeetrinker?

 

Zirkelschlussprinzip:

Die Aussage X ist wahr, weil in Y steht, dass X wahr ist. Oder ein anderes Beispiel: Die Offenbarung Gottes muss wahr und geschützt sein, weil es ja in Vers 15:9 steht!

 

Appell an die Emotion:

Etwas ist wahr, weil uns die Geschichte so berührt hat oder die vortragende Person dermaßen rührend war und man es ihr nicht zutrauen kann, dass sie lügt. Andererseits: Insbesondere der direkte Appell an die Emotionen im Sinne von „seid ihr etwa tolerant gegenüber Kinderschändern, dass ihr das Gesetz XY nicht akzeptiert?“ fällt in diese Kategorie.

 

Mehrheitsdenken:

Etwas ist wahr, weil die Mehrheit der Menschen dasselbe sagt. Dies ist leider immer noch einer der häufigeren Fehler, den viele Sunniten begehen, indem sie etwa denken: Wir als Sunniten sind zahlreicher als die Schiiten, hätte Gott dies nicht gewollt, wäre dies nicht passiert, also haben die Sunniten Recht!

 

Autoritätsdenken:

Etwas ist wahr, weil es Prof. Dr. Dr. Dr. Müller sagt oder weil es Scheich Dr. Dr. Ibrahim sagt. Auch wenn es oft stimmt, dass Fachleute auf ihrem Gebiet besser Bescheid wissen als andere, heißt das noch lange nicht, dass sie deshalb immer Recht haben müssen. Der Wahrheitsgehalt misst sich nicht an der Person, sondern an der Aussage (dem Inhalt) selbst.

 

Appell an die Natur:

Weil XY in der Natur vorkommt, ist es „natürlich“. Gemäß dieser Aussage wären also sämtliche Pädophilen und Mörder Menschen, die wir rechtlich nicht mehr belangen dürften. Ein anderes Beispiel wäre: über 1500 Tierarten in der Natur zeigen homosexuelle Züge (und nicht „sind sexuell“!), also ist Homosexualität etwas Natürliches.

 

Schlechte Begründung bedeute Behauptung sei auch falsch:

Dies ist besonders tückisch, da selbst dann, wenn eine Behauptung vom Vortragenden grottenschlecht oder gar falsch begründet wurde, dies noch lange nicht bedeutet, dass die Wahrheit der Behauptung widerlegt sei. Beispiel einer schlechten Begründung einer aber höchstwahrscheinlich wissenschaftlich gesicherten Behauptung: Die globale Erderwärmung ist von den Menschen verursacht, weil meine Tochter Verdauungsprobleme hat.

 

Von A gleich Z ableiten (schlüpfrige Argumente):

Von der Behauptung einer Sache gleich übertriebene Konsequenzen erwarten. Nur weil etwas eintrifft, das mir nicht gefällt, muss ich nicht gleich die Weltkatastrophe erwarten. Wenn etwa die gleichgeschlechtliche Heirat erlaubt werden soll, so heißt das nicht, dass damit Türe und Tore offen sind für die Heirat von Minderjährigen, Tieren oder dergleichen.

 

Ad hominem:

Die Person angreifen statt die Aussage der Person. Beispiel: „Kerem hat mit seiner Aussage XY Unrecht, weil er keine Professur in klassisch-orthodoxer Theologie des Fiqh hat.“ Ich mag zwar keine Professur innehaben, doch vielleicht sage ich etwas, das von Belang ist? Wenn ich die Unwahrheit erzähle, kann man das ignorieren, aber wieso sollte man irgendeine Person ignorieren, die die Wahrheit erzählt, nur weil die Person selbst nicht „beliebt“ ist oder diese Person keinen fachlichen Abschluss hat? Akzeptieren wir die Wahrheit nur dann, wenn sie hinter Abschlüssen und Diplomen auftaucht?!

 

Tu quoque (du auch):

Mir wird vorgeworfen, dass meine Aussage XY falsch war. Meine Reaktion darauf: Ja, Ihre Aussage YZ war auch falsch! Hier versuche ich, meinen Fehler zu vertuschen, indem ich auf den inhaltlichen Fehler des Angreifers aufmerksam machen will. Selbst dann, wenn ich Recht behalten sollte, dass sein Fehler falsch war, so möchte ich doch, wenn mein Fehler auch falsch war, dies der Wahrheit, also Gott zuliebe wissen wieso?

 

Anekdoten-und Erfahrungsbeweise:

Begründungen einer Aussage auf Anekdoten und Erfahrungen können nicht angenommen werden, weil diese nur schwer überprüf- oder wiederholbar sind. Wie kann ich den Traum eines anderen darauf überprüfen, ob der Traum tatsächlich so stattgefunden hat? Die Wahrheit ist die Wahrheit, weil sie nicht von einer Person abhängt. Da Gott die Wahrheit ist, formulieren wir das um: Gott und Sein Wirken sind nicht von einer Person abhängig.

 

„Zu komplex“, unverständlich:

Dieser Fehler ist leider gang und gäbe, insbesondere, wenn es sich um Mathematik handelt. Aussagen wie „Gott will doch von uns nicht, dass wir nach mathematischen Eigenschaften suchen, da nur wenige Menschen überhaupt Mathematik verstehen“ gehören in diese Kategorie. Nur weil man sich selbst und die Mehrheit der Menschen als zu dumm ansieht, heißt das nicht, dass die Wahrheit sich dem angeblichen Dummheitsniveau der Menschen in einem bestimmten Bereich anzupassen hat!

 

Schwarz-Weiss-Vereinfachung:

Entweder ist die Aussage wahr, oder sie ist gänzlich falsch! Dies ist ein logischer Fehler, der schwieriger zu entdecken ist, aber prinzipiell kann man mit Gewissheit sagen, dass nur weil die Gesamtaussage nicht ganz korrekt war, die Aussage nicht vollständig zu verwerfen sei. Es kann durchaus sein, dass die Aussage wahr wird, wenn man sie ein wenig inhaltlich ändert.

 

Postulieren, im Nachhinein rationalisieren oder Unwahres einfach wiederholen:

Im Nachhinein lässt sich vieles erklären und eine Ordnung (er)finden. Dies ist ein besonders hartnäckiger Fehler der Alltagslogik, weil man dazu psychologisch prädestiniert ist, sich selbst und sein eigenes Weltbild zu verteidigen und zu rechtfertigen.

 

Fragen mit unterschwelligen Annahmen:

Dies könnte auch als ad hominem aufgefasst werden. Eine Frage wie „Haben Sie Probleme mit Drogen?“ hat den unterschwelligen Ton einer Unterstellung.

 

Beweislast:

Ich behaupte, dass XY nicht möglich ist, beweise mir das Gegenteil! Hier ist der Fehler, dass der Behauptende eigentlich die Beweislast trägt und nicht der, dem die Behauptung an den Kopf geworfen wird. Dies wird dann besonders tückisch, wenn man über eine Person sagt „du kannst dies oder das nicht“, da sich diese Aussage leicht falsifizieren ließe, indem eben der andere sein Können unter Beweis stellt. Nichtsdestotrotz liegt die Beweislast beim Behauptenden.

 

Selektive Wahrnehmung:

„Jedes Mal, wenn ich an meine beste Freundin denke, ruft sie an!“ Das ist ein typischer Fehler vieler Menschen, weil sie nur das wahrnehmen, was in das entsprechende Konzept passt. Es gibt eigentlich vier Fälle, die man für diese Aussage untersuchen müsste:

  1. Ich denke an eine Person und sie ruft an.
  2. Ich denke an eine Person und sie ruft nicht an.
  3. Ich denke nicht an diese Person und sie ruft an.
  4. Ich denke weder an diese Person noch ruft sie an.

Erst die gesamtheitliche Betrachtung all dieser Fälle wird Aufschluss darüber geben, ob der Anruf wirklich immer dann eintrifft, wenn an diese Person gedacht wird. Nur einzelne Betrachtungsweisen vorzunehmen hinterlässt Lücken in der Analyse, die leicht angegriffen werden können.

 

Mehrdeutigkeit:

Wörter können mehrdeutig sein, insbesondere in Gesprächen. So kann „Dieser Bereich wird zur Verhütung von Straftaten durch die Polizei videoüberwacht.“ mutwillig falsch verstanden werden, dass die Polizei Straftaten begehe. Viel besser wäre es stattdessen nachzuhaken, was genau gemeint wurde.

 

Quellenkritik (kommt von / ist aus X, deshalb ist es wahr/falsch):

Ähnlich wie im Falle von ad hominem wird beispielsweise behauptet, dass eine Aussage XY nicht wahr sein kann, weil sie im Buch von Buchārī auftaucht. Selbst wenn Buchārī ein Mörder und Psychopath gewesen wäre, so müsste man stets seine Aussagen analysieren statt zu sagen: Weil es im Buch von ihm steht, ist es nicht richtig.

 

Der Irrtum des Glückspielers:

Ein weiterer häufiger Fehler ist der Irrtum des Glücksspielers, der aus dem Bereich der Glücksspieltheorie entstammt. Dabei wird die Erwartungshaltung beschrieben, dass man beispielsweise bei einem Münzwurf fälschlicherweise nach zwanzig aufeinanderfolgenden Treffern auf Kopf die Erwartungshaltung hat, dass beim nächsten Wurf bestimmt die Zahl kommen muss. In Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit für Kopf oder Zahl genau gleich hoch wie vorher.

 

Falsche Kompromisse:

Ein Beispiel für einen falschen Kompromiss sei wie folgt gegeben: Ich sehe ein, dass meine eigene Aussage nicht stimmt. Da mir aber die Aussage meines Gegenübers immer noch nicht passt, schlage ich deshalb einfach den Mittelweg ein. Dies ist deshalb falsch, weil die Hälfte von falsch und wahr immer noch falsch ist! Wenn man zum Beispiel damit aufhört zu sagen, dass die traditionellen Ḥadīṯ-Bücher restlos wahr seien, aber stattdessen meint, dass man ohne diese die Religion auch nicht verstehe und deshalb einen Mittelweg einschlagen muss, der begeht genau diesen Fehler des falschen Kompromisses – gleichgültig davon, ob dieser Weg richtig wäre oder nicht, die Begründung war falsch.

Ich bin mir sicher, dass ich in diesem Buch irgendwo einen dieser Fehler auch begangen habe. Besonders die Illusion, dass ich es ja „wissen muss“, weil ich Mathematik und Logik studiert habe, erleichtert es solchen Fehlern, dass sie sich in die eigenen Gedankengänge einschleichen. Auch besonders bei emotionalen Angelegenheiten können apologetische Appelle vorhanden sein. Wir müssen uns deshalb stets von neuem überprüfen, ob wir rational gesund agieren. Die rationale Gesundheit der Seele ist mindestens wie die körperliche Gesundheit zu pflegen, denn sie sind beide Geschenke des Schöpfers.

Nachdem wir nun die Probleme der Alltagslogik oder der Rhetorik kennen gelernt haben, möchten ich kurz diese Prinzipien stichwortartig zusammenfassen:

  • Strohmann-Prinzip
  • Annahmen generalisieren
  • Falsche Kausalität (Korrelation)
  • Zirkelschlussprinzip
  • Appell an die Emotion
  • Mehrheitsdenken
  • Autoritätsdenken
  • Appell an die Natur
  • Schlechte Begründung mache die Behauptung unwahr
  • Von A gleich Z ableiten (schlüpfrige Argumente)
  • Ad hominem
  • Tu quoque (du auch)
  • Anekdoten-und Erfahrungsbeweise
  • „Zu komplex“, unverständlich
  • Schwarz-Weiss-Vereinfachung
  • Postulieren, im Nachhinein rationalisieren oder Unwahres einfach wiederholen
  • Fragen mit unterschwelligen Annahmen
  • Beweislast
  • Selektive Wahrnehmung
  • Mehrdeutigkeit
  • Quellenkritik
  • Der Irrtum des Glückspielers
  • Falsche Kompromisse

 

Analytisches Denken – Kombinieren und Schlussfolgern

Die Wichtigkeit und den Nutzen des kombinierenden Denkens möchte ich an einem konkreten Beispiel aus der Lesung aufzeigen:

In der Lesung finden wir in Kapitel 47 einen Vers, in dem Gott uns versichert, dass uns im Garten Eden im Jenseits ein sogenannter köstlicher Wein zubereitet wird. Dies wirft notgedrungen die Frage auf, wieso in dieser Welt berauschende Psychostimulanzien, also Drogen jeglicher Art von Alkohol bis Cannabis, zu vermeiden sind und als Satans Werk beschrieben werden (5:90, 2:219)? Es entsteht zwar kein logischer Widerspruch zwischen diesen zwei Stellen der Lesung, dennoch erübrigt sich die Frage nicht, wieso Gott uns das eine im Diesseits als „zu vermeiden“ und als „Sünde“ zu verstehen gibt, dasselbe aber im Jenseits erlaubt sei.

Hier kommen das analytische Denken und die Fähigkeit zum Zug, verschiedene Aussagen zu kombinieren und damit Schlussfolgerungen zu erhalten.

Betrachten wir also den 15. Vers aus dem 47. Kapitel und die Verse 76:21 und 52:23, so sehen wir aus 76:21, dass das Trinkbare im Jenseits nicht berauschend, sondern reinigend ist, und nicht mit dem Berauschenden dieser Welt zu vergleichen ist, da es keine Sünde in sich beherbergt.

 

76:21 An ihnen werden Kleider von feiner, grüner Seide sein und Brokat. Und geschmückt wurden sie mit silbernen Spangen und ihr Herr gab ihnen ein reinigendes Getränk zum Trinken.

52:23 Darin reichen sie einander einen Becher, der nicht zu Geschwätz verleitet und in dem nichts Sündhaftes steckt.

 

Vers 76:21 zeigt uns, dass das Trinkbare im Garten Eden reinigende Wirkung haben kann. Dennoch heißt es im Vers, dass da „ein“ Getränk gegeben wird und nicht notwendigerweise das in 47:15 erwähnte Getränk ist. Es könnte also auch ein anderes Getränk gemeint sein. Nichtsdestotrotz wissen wir, dass die Getränke im Jenseits als rein beschrieben werden und keine Kopfschmerzen verursachen und auch nicht berauschend wirken (56:19). Berücksichtigen wir weiter, dass das Berauschende im Diesseits auch als „Sünde“ (2:219) beschrieben wird, welches zwischen den Menschen zu Feindschaft und Hass führt (5:91), so wissen wir aufgrund von 52:23, dass damit nicht dasselbe Getränk gemeint sein kann. Bedenken Sie hierbei für einen kurzen Moment, dass wir nirgends von einer allegorischen Interpretation des Verses 47:15 ausgegangen sind, was natürlich in Anbetracht der Beschreibung des Jenseits sehr plausibel wäre.

Es wäre bestimmt interessant in Erfahrung zu bringen, was dabei herauskommt, wenn man die Lesung nach sämtlichen logischen Aussagen aufteilt und inhaltliche Analysen aufgrund der Logik betreibt. So können Partikel wie „fa“ (so), „aw“ (oder), „wa“ (und), „iḏ / iḏā“ (wenn/als), „law“ (wäre) und dergleichen aus der Lesung in logische Operatoren umgewandelt werden. Ich lade die kundigen Leserinnen und Leser dazu ein, solche Analysen durchzuführen, um zu wissen, wie weit man mit solchen Gedankengängen kommen kann.

 

37:45–47 Dabei wird ihnen ein Becher aus einem Quell herumgereicht, weiß, genussvoll für die, die (daraus) trinken. Darin steckt keine heimtückische Beeinträchtigung, und dadurch werden sie nicht berauscht.84

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: 6. Nach Beispielen in der Lesung suchen

Sobald eine Bedeutung abgeleitet wurde, besteht der letzte Fehlerfreiheitstest bzw. die Überprüfung der Genauigkeit solch einer Auslegung darin, einen Vergleich mit den Geschichten anzustellen, die in der Lesung erzählt werden – falls solch eine Geschichte überhaupt gefunden werden kann. Der Grund hierfür ist, dass die Geschichten in der Lesung „lebendige“ Beispiele sind, von denen wir lernen und die Bedeutungen vergleichen können. Die Geschichten wurden nicht umsonst erklärt oder sind nicht nur für unsere Unterhaltung bestimmt (12:111). Die beste Erklärung wird nur dann erlangt, wenn wir wiederum in der Lesung nach der Antwort suchen (25:33).

 

12:3 Wir erklären dir die schönsten der Geschichten, indem Wir dir diese Lesung offenbaren, obwohl du zuvor unter denen warst, die keine Kenntnis besaßen.

25:33 Und sie bringen dir kein Beispiel, ohne daß Wir dir die Wahrheit und eine bessere Erklärung brächten.58

 

Eines der klarsten Beispiele für das Anwenden dieser Methode ist der Umgang mit Dieben laut der Lesung. Es gibt einen Vers, welcher das Gesetz für Diebe angibt und seine Interpretation kann sehr stark variieren, abhängig davon, welche Bedeutung den arabischen Wörtern zugeschrieben wird:

 

5:38 Dem Dieb und der Diebin sollen ihre Hände / Ressourcen (Einnahmen) / Macht / Besitzeigentümer / Güter (aydiyahumā) abgeschnitten / geschnitten / aufgelöst / abgetrennt (faqṭaʿū) werden als Vergeltung für das, was sie begangen haben und als abschreckende Strafe von Gott. Und Gott ist Allmächtig, Allweise.

 

Die sprachliche Untersuchung werde ich später im zweiten Teil des Buches durchführen. Die heutigen Gelehrten und die der Vergangenheit haben sich fast alle für die Bedeutung „Hand abschneiden“ entschieden und so werden wir heutzutage Zeugen von Amputationen in Ländern, wo behauptet wird, der Lesung zu folgen. Hätten sie in der Lesung nach Beispielen gesucht, um die Anwendung dieses Gesetzes zu erlernen, so kämen sie zu einer anderen Schlussfolgerung – fern von jeglichem Abhacken irgendwelcher Hände. Die Geschichte von Josef mit seinen Brüdern liefert uns das klarste und simpelste Beispiel, wie mit Dieben umzugehen ist.

 

12:73–75 Sie sagten: „Gott bewahre. Ihr wisst ja, dass wir weder gekommen sind, um im Land Verderben zu stiften, noch sind wir Diebe!“ Sie sagten: „Was ist dann seine Strafe, wenn ihr lügt?“ Sie sagten: „Derjenige, in dessen Gepäck er gefunden wird, soll selbst die Strafe sein. So bestrafen wir die Ungerechten.“ Mit diesem bildlichen Ausdruck „selbst die Strafe zu sein“ wird also das Abarbeiten oder auch das Abbezahlen im Wert des gestohlenen Guts gemeint. Der Dieb oder die Diebin muss also den Wert der gestohlenen Sache ausgleichen, ob durch Rückzahlung oder Abarbeiten.

 

Demnach wird die Bedeutung des Verses wie folgt übersetzt:

 

5:38 Dem Dieb und der Diebin sollen die Einnahmen geschnitten werden, als Vergeltung für das, was sie begangen haben, und als abschreckende Strafe von Gott. Und Gott ist Allmächtig, Allweise.

 

Solch eine Bedeutung bestätigt auch die allgemeinen Gesetze der koranischen Gerechtigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit: Die Strafe soll nicht die Tat an Maß überschreiten (16:126).

Widerlegung des Artikels „Ist die Sunna auch eine göttliche Offenbarung, die mit dem Koran gleichzustellen ist?“

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Satan,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen,

Auf der Seite antikezukunft sind zwei Artikel erschienen, welche versuchen die Grundhaltung derjenigen Gläubigen zu widerlegen, wonach man einen Islam ohne tradierte Sunna praktiziert. Der erste Artikel wird diesmal Gegenstand unserer Widerlegung. Die Widerlegung des zweiten Artikels wird in einem nächsten Artikel erfolgen. Es muss bei dieser Widerlegung vorweg erwähnt werden, dass der Autor in Bezug zu der Kritik gegenüber unserer Haltung sehr schwach argumentiert. Er hat sich in diesem Artikel mit den Argumenten der Gottergebenheit ohne traditionelle Sunna kaum auseinandergesetzt. Als Vorgeschmack soll nun folgendes Zitat des bekannten Islamwissenschaftlers Reza Aslan dienen:

 

Finde mir einen Hadith über welches Thema auch immer, gib mir 24 Stunden, und ich finde dir einen Hadith, der ihm komplett widerspricht. Fakt.

Reza Aslan (bei Twitter)

 

Im Artikel schreibt der Autor:

 

Eine weitere Besonderheit der Sunna ist, dass es viele Situationen gab, wo der Prophet die Offenbarungen erläutern oder ergänzen musste.

 

Der Autor kann keinen einzigen Koranvers aufzeigen, der diese erfundene These aufrecht erhalten kann (40:35,56). Sie widerspricht vielmehr Versen im Koran:

 

12:111 Er (der Koran) ist kein erdichteter HADITH, sondern eine Bestätigung der früheren (Offenbarungen), eine deutliche Darlegung aller Dinge und Führung und Barmherzigkeit für die Gläubigen. (Siehe auch: 16:89)

 

Natürlich geht es bei bei diesen Versen nur um religiöse Belange (5:3). Die Erklärung des Koran:

 

25:33 Und sie bringen dir kein Beispiel, ohne dass Wir dir die Wahrheit und den besten Tafsir brächten. (Siehe auch: 55:1-2, 75:18-19)

 

Man erkennt, allein Gott lehrt und erklärt den Koran. Jedoch wird hierbei gerne der Vers 16:44 missdeutet, um zu versuchen eine Erklärung des Korans durch den Propheten zu legitimieren. Diese Ansicht wurde jedoch bereits ausführlich auf unserer Homepage widerlegt. Zum Argument, dass der Gesandte dem Koran etwas hinzufügen soll:

 

10:15 … Sag: Es steht mir nicht zu, ihn von mir selbst aus abzuändern. Ich folge nur dem, was mir (als Offenbarung) eingegeben wird. (siehe auch: 6:50, 7:203, 46:9)

69:44-48 Und wenn er sich gegen Uns einige Aussprüche selbst ausgedacht hätte, hätten Wir ihn sicherlich an der Rechten gefasst und ihm hierauf sicherlich die Herzader durchschnitten, und niemand von euch hätte (Uns) dann von ihm abhalten können. Er ist wahrlich eine Erinnerung für die Gottesfürchtigen.

 

Indem man dem Koran etwas hinzufügt, ändert man ihn natürlich auch ab. Zudem muss der Autor die Frage beantworten, warum der Prophet die Offenbarung zu erklären hat, wenn er ihr doch nur folgen soll? Und nun folgender Vers:

 

6:115 Das Wort deines Herrn ist in Wahrheit und Gerechtigkeit vollständig / vollkommen. Es gibt niemanden, der Seine Worte abändern könnte. Und Er ist der Allhörende und Allwissende.

 

Wie sollen nun die Behauptungen des Autors, dass „der Prophet die Offenbarungen erläutern oder ergänzen musste“, mit den bis hierhin erwähnten Koranversen einhergehen? Dazu ist auch anzuführen, warum die Ahadith viele Punkte im Koran nicht erläutern und eben nicht alles erklären? Abgesehen davon sind die vorhandenen angeblichen Erklärungen selbst erklärungsbedürftig, voller Widersprüche und verzerren den Koran. Man ist bei diesen Quellen vielmehr mit neuen Fragen konfrontiert, als Antworten zu erhalten und überhaupt finden sie im Koran als Autorität keine Erwähnung, im Gegenteil: Sie werden verworfen im Buche Gottes selbst, wie im weiteren Verlauf aufgezeigt wird. Weiter schreibt der Autor:

 

Z. B. in Bezug auf das Gebet: Der Koran gibt keine direkten Anweisungen wann, wie oft und wie gebetet werden soll.

 

Im Koran sind drei Gebetszeiten wörtlich genannt. Der Gebetsablauf ist im Koran hinreichend umschrieben. “Ṣalāh” (Kontakt/Gebet) kommt im Koran 77 mal vor. Ausführlicher dazu folgende Artikel:

Aber die Aussage einmal zurückgeworfen: Wie betet denn unser Autor selber? Denn schon alle 4 sunnitischen Rechtsschulen beten unterschiedlich. Nach welcher Autorität soll man nun gehen? Sind zum Beispiel die Hände am Bauch oder weiter unten? Und diesen Vorgang kann man auch grenzenlos erweitern, beispielsweise wie lange ein Gebet nun genau zu dauern hat oder wie schnell man bei einzelnen Gebetsabläufen zu sein hat? Oder welche Gebete nun genau zu rezitieren sind? So muss die Sura Fatiha laut manchen Ahadith nicht verpflichtend gelesen werden und man kann beliebig andere Verse beim Gebet rezitieren (Fatiha Suresi Tefsiri 9. Aufl., S.26 Punkt 1, Prof. Yasar Nuri Öztürk, Verlag: Yeni Boyut). Was soll der Gläubige dementsprechend beim Gebet laut den Ahadith nun genau sagen? Detaillierungen sind somit weit über die Grenzen der Ahadithquellen hinaus mit Leichtigkeit herstellbar und man kann die Frage nach unnötigen Details umkehren in Bezug auf die Ahadith. Als Resümee zu dieser Thematik ist festzuhalten, dass man mit Ahadith nicht auf eindeutige Weise beten kann, da sie so unterschiedlich sind, dass man das Gebet gar nicht einheitlich ausführen könnte. Hierbei wird dann gerne das Argument entgegengebracht, dass die Unterschiede doch angeblich klein wären (wenn man mal die Schiiten außen vor lässt). Dazu muss man jedoch fragen, wer so etwas festlegen darf? Wer bestimmt kleine oder große Unterschiede (6:81, 7:71, 12:40, 53:23)? Für den Einen sind sie klein, für den Anderen etwas größer, wieder für jemand Anderen möglicherweise auch mal ganz groß oder laut Koran ausgeschlossen (42:21)! Dazu steht unmissverständlich:

 

5:101 O die ihr glaubt, fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch offengelegt werden, euch leid tun, wenn ihr nach ihnen fragt zu der Zeit, da der Koran offenbart wird, sie euch (gewiß) offengelegt werden, wo Gott sie übergangen hat. Und Gott ist Allvergebend und Nachsichtig.

 

Warum also nach Details fragen, die vielmehr verwirren als erklären und ohnehin von Gott übergangen werden? Wer hat bei dieser Frage wohl das letzte Wort? Weiter schreibt der Autor:

 

Als Nachweis für die Autorisierung der Sunna gibt Özdil die folgenden Koranstellen an: „Im Gesandten Gottes habt ihr doch ein schönes Beispiel“ (Koran 33:21)

 

Richtig, im Gesandten haben alle Gläubigen ein schönes Beispiel. Warum nennt der Autor dann nicht auch folgende Verse, die sein Beispiel im Koran veranschaulichen?

 

6:50 Sag: Ich sage nicht zu euch, ich besäße die Schatzkammern Gottes, und ich weiß auch nicht das Verborgene; und ich sage nicht zu euch, ich sei ein Engel. Ich folge nur dem, was mir eingegeben wird. Sag: Sind (etwa) der Blinde und der Sehende gleich? Denkt ihr denn nicht nach? (Siehe auch: 7:203, 10:15 und 46:9)

 

Und auch Abraham ist für die Gläubigen laut Koran ein schönes Beispiel (60:4 und 16:120-121). In welchem Hadithbuch ist nun seine Sunna nachlesbar, wenn man die Argumentation des Autors ernst nehmen will? Unabhängig davon ist hier ohnehin vom Gesandten die Rede. Die einzige Funktion eines Gesandten ist nur die Übermittlung der Botschaft (dazu: 13:40, 16:35, 16:82, 24:54), sonst nichts. So also die Gläubigen seinem Beispiel im Koran folgen sollen und nicht in massiv verderbten Quellen, in denen keiner weiß welcher nun stimmt oder nicht, aber viel wichtiger: Der Koran duldet solche Quellen nicht.

 

7:185 Haben sie nicht das Reich der Himmel und der Erde und alles, was Gott geschaffen hat, betrachtet und sich überlegt, dass ihr Ende möglicherweise nahe ist? An was für einen weiteren HADITH wollen sie denn glauben?

31:6 Unter den Menschen gibt es einige, die sich an unbegründete AHADITH wenden (und sie verbreiten), um ohne Wissen von Gottes Weg abirren zu lassen und um damit ihren Spott zu treiben. Ihnen gebührt eine entehrende, qualvolle Strafe.

 

Um die tradierte menschliche Sunna zu legitimieren schreibt der Autor weiter:

 

„Was der Gesandte euch nun gibt, das nehmt an; und was er untersagt, dessen enthaltet euch! (Koran 59:7, Was ist Islam, S. 25).

 

Der Vers in voller Länge:

 

59:7 Was Gott Seinem Gesandten von den Bewohnern der Städte als kampflose Beute zugeteilt hat, das gehört Gott, Seinem Gesandten und den Verwandten, den Waisen, den Armen und dem Sohn des Weges. Dies, damit es nicht nur im Kreis der Reichen von euch bleibt. Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch. Und fürchtet Gott. Gewiß, Gott ist streng im Bestrafen.

 

Ein klassischer Fehler, der gegen Gottergebene, die keine menschlichen, religiösen Quellen neben Gottes Wort dulden, gerne verwendet wird. Jedoch ist unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei um die Beuteaufteilung handelt, welche Gott hier selber zuteilt (siehe dazu auch Vers 8:41) und nicht, was der Gesandte generell nach eigenem Ermessen festlegt. Und selbst wenn man diesen Vers aus dem direkten Kontext reißt, bleibt hier immer noch die Rede vom Gesandten und seine einzige Aufgabe ist, wie eben erläutert, nur die Übermittlung der Botschaft, nicht die Erweiterung (13:40, 16:35, 16:82, 24:54, 5:99). Somit wäre dem Gesandten außerhalb seiner einzigen Pflicht eine weitere Aufgabe hinzugedichtet, dementsprechend koranisch unhaltbar.

Weiter führt der Autor an:

 

Bemerkenswerterweise schildert der türkische Koranexeget Mustafa Islamoglu, dass insbesondere die unkonventionelle Grundhaltung, die Sunna komplett zu leugnen, erst in dem damals kolonisierten Indien als eine bestimmte Reformbewegung hervorgetreten sei.

 

Das ist historisch falsch und zeigt, dass Mustafa Islamoglu seine eigenen Quellen nicht hinreichend studiert hat. Denn man kann schon bei Imam Shafi’is Werk  “Kitab Jima` al-`ilm” (150 nach Hidschra) nachlesen, wonach dieser mit einem Vertreter einer Schule disputiert, der die tradierte Sunna komplett negiert. Das Buch gibt es übrigens hier auf Englisch zu kaufen: Hadith as Scripture.

Anmerkung: Nachdem ich den Autor darauf hingewiesen hatte, wurde dieser Teil im Artikel von ihm abgeändert, um die zu anfangs aufgestellte Behauptung, dass Islamoglu den Ursprung unserer Richtung in Indien sieht, nicht mehr herauslesen zu können. Zu seinem Nachteil ist jedoch diese hier erwähnte Fassung in seinem Buch dementsprechend abgedruckt (siehe dazu „der Islam im Diskurs des 21. Jahrhunderts“, S. 102, des Autors Ecevit Polat). Es ist durchaus menschlich, Fehler zu begehen. Doch gerade in Bezug auf die Religion sollten wir unsere Recherchen doch gründlich durchführen! Fahren wir fort:

 

Für Islamoglu war dies ohne weitere eine Intention der Orientalisten gewesen, die bei den Muslimen den Gedanken hervorheben, die Sunna (Lebensweise und Haltung des Propheten) mitsamt ihrer Orthopraxie im Angesicht der Moderne als weit überholt verwerfen zu müssen.

 

Sonderbar erscheint diese Behauptung, nun sind auch noch „die Orientalisten“ schuld! Bemerkenswert. Vor allem ohne Belege, die eine „böse Absicht“ untermauern können. Übrigens ist dieses Spiel, ohne Belege etwas in den Raum zu stellen, koranisch gesehen verwerflich. Konzentrieren wir uns aber auf den Inhalt:

 

Doch gesteht Islamoglu unweigerlich auch ein, dass die Schuldzuschreibung zur Förderung der „Koraniten“ im damaligen Indien nicht allein auf die Orientalisten anzulasten ist: „Den Gedanken nach einem Islam im Koran, wurde unter den Einfluss des orientalistischen Projektes herbeigeführt. Aber die Verantwortung nur auf das orientalistische Projekt zu verschieben, ist auch nicht ganz richtig“ (siehe: Mustafa Islamoglu, Üc Muhammed, S. 192-194).

 

Islamoglu hat sich mit seinem „orientalistischen Projekt“ nur auf die Seite von Verschwörungstheoretikern gestellt, mehr nicht. Fakt ist, dass die meisten Gläubigen, die nur Gottes Wort annehmen, anfangs selber Traditionalisten waren. Dem Leser sei auch folgende Widerlegung von Edip Yüksel zu Mustafa Islamoglu nicht vorenthalten (leider nur auf Türkisch):

Dann ist im Artikel folgendes nachzulesen:

 

Selbst die sogenannten Rechtsbestimmungen werden im großen Umfang von der Sunna des Propheten bestimmt.

 

Die Ergebnisse kann man in den so genannten “islamischen Ländern” sich zu Gemüte führen. Zu erwähnen seien unter vielen anderen Punkten nur, dass mit dem Idschma (Konsens) aller 4 Rechtsschulen die Apostasie, also Abfall vom Glauben, mit dem Tode zu bestrafen sei oder das Abhacken der Hände bei Diebstahl wie auch Frauen zu unterdrücken (beispielsweise den Frauen das Auto fahren zu verbieten). Besondere Beachtung sei auch folgender Hadithlüge geschenkt, welcher bei Bukhary und Muslim verzeichnet ist und An Nawawi ihn mit in seine berühmten 42 Ahadith aufgenommen hat:

 

Mir ist aufgetragen die Menschen zu bekämpfen, bis sie bezeugen, daß es keinen Gott gibt außer Allah und daß Muhammad der Gesandte Allahs ist, und bis sie das Gebet verrichten und die Zakat geben. Wenn sie dies getan haben, haben sie sich dadurch von mir Schutz für ihr Blut und ihr Gut erworben, es sei denn, (sie begehen Taten, die ) nach dem Recht des Islam (strafbar sind), und ihre Anrechnung ist bei Allah, dem Allmächtigen. (Sahih Bukhary, Iman, 17; siehe weiter dazu: Sahih Bukhary Salat 28 [abweichender Wortlaut]; Sahih Muslim Buch 1, Nummer 32 und 33)

 

Koranisch gesehen ist dieser Hadith natürlich vollkommen ausgeschlossen, nicht aber wenn man diesen Quellen eine ganze oder selektive Autorität gibt. Der Autor will zudem ein Bild von einer „bestimmten klaren“ Sunna außerhalb des Koran suggerieren, welche so nicht existiert. Die höchst prekäre Situation der Quellen, aus denen der Autor diese fiktive Sunna schöpft, wird von den am Ende der Widerlegung aufgeführten Artikeln näher behandelt. Des Weiteren ist aus dem Koran klar ersichtlich, dass keine “Rechtsbestimmungen” irgendwelcher Art außerhalb Gottes Wort geduldet wird. Dazu folgende Verse:

 

5:44 Wer nicht nach dem waltet, was Gott (als Offenbarung) herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen. (Siehe auch: 5:45, 47, 42:10, Und sie sagen der Koran reich aus! (3/4))

 

Wie kann man bei solch eindeutigen Koranversen außerkoranischen Ahadith Autorität geben? Der Prophet soll nach der Offenbarung urteilen:

 

6:114 Soll ich denn einen anderen Schiedsrichter als Gott begehren, wo Er es doch ist, der das Buch, ausführlich dargelegt, zu euch herabgesandt hat? (Siehe auch: 42:10)

5:48 Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So richte zwischen ihnen nach dem, was Gott (als Offenbarung) herabgesandt hat, … (siehe auch: 5:49 oder 3:23)

 

Festzuhalten wäre hierbei, dass entsprechend der angeführten Verse, in religiösen Belangen nur der Koran alleine autoritativen Charakter besitzen darf. Fahren wir fort:

 

Ihrer interpretatorischen Funktion nach ist die Sunna jedoch mehr danach ausgerichtet, konkrete Bestimmungen zu geben oder die allgemeinen Anweisungen des Korans zu präzisieren (Prof. A. Falaturi, Grundkonzept und Hauptideen des Islam, S. 19).

 

Das ist koranisch unhaltbar. Dazu folgende Verse:

 

11:1 Alif-Lam-Ra. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Allweisen und Allkundigen. (Siehe auch: 6:97-98, 6:114, 6:119, 6:126, 7.52, 41:3, usw)

41:44 Hätten Wir ihn zu einem fremdsprachigen Koran gemacht, hätten sie sicherlich gesagt: „Wären doch seine Zeichen ausführlich dargelegt worden!” Ob fremdsprachig oder arabisch, sage: “Er ist für diejenigen, die glauben, eine Rechtleitung und eine Heilung.” Und diejenigen, die nicht glauben, haben Schwerhörigkeit in ihren Ohren, und er ist für sie (wie) Blindheit. Diese sind, als würde ihnen von einem fernen Ort aus zugerufen.

 

Der Autor meint, dass der Koran zu präzisieren sei und im Koran steht etwas völlig anderes. Interessant ist hierbei auch, dass der Autor keine dieser Verse auch nur erwähnt hat, geschweige denn widerlegen können. Die Widerlegung von „Weshalb ist es notwendig, den Koran im historischen Kontext zu verstehen?“ sei dem Leser zu dieser Thematik zusätzlich empfohlen. Weiter steht folgendes im Artikel :

 

Bereits im 14. Jahrhundert wies der andalusische Gelehrte al-Schatibi (ges. 1388) in seinem monumentalem Werk „al-Muwafaqat“ darauf hin, dass die Sunna in seiner Bandbreite den Koran umgehend erläutert.

 

Gott allein erklärt den Koran wie anfangs im Artikel aufgezeigt (25:33, 55:1-2, 75:18-19). Die Aussage, dass „eine (außerkoranische) Sunna“ den Koran umgehend erläutere, ist haltlos. Der Prophet hat so eine Quelle nicht verfassen lassen. Die Schriften, auf welche sich diese Behauptung stützt, sprechen eine diametral gegenteilige Sprache, denn: Diese tradierte Sunna ist so sehr mit Widersprüchen und Lügen versetzt, dass man mit dieser Sunna aus der Religion alles machen kann. Man kann liberal sein oder das Gegenteil, wie es eben einem gut dünkt und dies ist dann auch schlussendlich die gängige Praxis bei den Traditionalisten. Es sind alle möglichen Versionen des Islams vorhanden, welche die menschlichen Ahadith zur Verfügung stellen. Der Autor versucht dieses Dilemma zu umgehen, indem er unter dem Deckmantel einer angeblich „historisch kritischen“ Methode ganz einfach meint, die richtigen Ahadith aussortieren zu können. Doch dadurch werden Ahadith abgelehnt, falls sie nicht in die zeitgenössische Lebensphilosophie passen, mit der man diese angeblich „historisch kritische“ zu definieren versucht. Wenn es seinem subjektiven Empfinden entspricht, erklärt der Koran für ihn die Ahadith und wenn es nicht passt, umgekehrt. Dementsprechend ist ein klassischer Zirkelschluss vorprogrammiert. Die Ahadith sind ein Feld voller Widersprüche, mal zum Koran oder auch gerne unter sich. Auch dass ein Hadith als sahih eingestuft wird, kann ihn keinesfalls retten. Das ist dem Autor auch bekannt.

Selbst unter Bukharys sahih Hadithsammlungen sind ein großer Teil massiv verderbt. Niemand kann diese Quellen mehr überprüfen. Ohnehin ist dies nicht relevant, da Gott keine Ahadith außerhalb des Koran erlaubt. Die bis hierhin erwähnten Verse sind unmissverständlich eindeutig. Überhaupt stellt sich die Frage, warum der Koran eine umgehende Erläuterung benötigt, wenn er sich ohnehin als eine „Klärung aller Dinge“ (16:89, 12:111) in der Religion (5:3) beschreibt? Der Koran bezeichnet sich schon zu Zeiten des Propheten als abgeschlossen (5:3), wohingegen Ahadith erst Jahrhunderte später zusammengestellt und beurteilt wurden, deswegen auch voller Widersprüche und unvollständig in Bezug zur angeblichen wie auch unnötigen Erklärung des Koran sind. Sie verzerren vielmehr nicht selten den Wortlaut des Koran und ändern Gottes Wort somit ab. Gehen wir weiter:

 

Deshalb wäre es unter keinen Umständen hinnehmbar, die Sunna als Instrument zur Interpretation der Heiligen Schrift beiseite stehen zu lassen. Somit könnte kein Urteil aus dem Koran unter nicht Berücksichtigung der Sunna abgeleitet werden.

 

Und was sagt der Koran?

 

42:10 Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil darüber steht Gott (allein) zu. Dies ist doch Gott, mein Herr. Auf Ihn verlasse ich mich, und Ihm wende ich mich reuig zu. (Siehe auch: 6:114, 18:26, 12:40, Und sie sagen der Koran reicht aus!(3/4))

 

Wieder einmal stehen sich hier der Koran und ein Traditionalist auf Konfrontationskurs. Und weiter schreibt der Autor:

 

Al-Schatibi (gest. 1388) schreibt dazu: „Bei der Ableitung von Urteilen aus dem Koran ist es nicht möglich, die Sunna, die dessen Auslegung und Erklärung darstellt, beiseite zu lassen und sich mit der ausschließlichen Betrachtung des Korans zu begnügen. Denn der Koran ist umfassend formuliert (kulli).

 

  • Der Koran beschreibt sich wörtlich als eine “Klärung aller Dinge” (16:89, 12:111) in religiösen Belangen (5:3).
  • Der Koran erlaubt es nicht, aufgrund von Quellen außerhalb von Offenbarungen zu urteilen (5:44,45,47, 6:114, 42:10).
  • Der Koran beschreibt sich als ausführlich dargelegt (6:114, 6:119, 11:1, 41:3).
  • Der Koran wurde zur Ermahnung leicht gemacht (54:17,22,32,40).
  • Der Koran ist in der Sprache leicht gemacht worden (20:97, 44:58).
  • Der Koran beschreibt sich als deutliches Buch (12:1, 15:1, 26:2).
  • Der Koran darf nicht abgeändert werden (10:15, 69:44-48).
  • Gott teilt mit niemandem sein Urteil (6:57, 12:40, 18:26).
  • Gott erklärt den Koran (25:33, 55:1-2, 75:19).
  • Der Koran ist vollkommen / vollständig (6:115, 5:3).
  • Gott erlaubt keine weitergehende Detaillierung, die nicht dem Koran entnehmbar ist (5:101).
  • Es wurde nichts im Koran ausgelassen (6:38).

Noch viele andere Verse könnte man zu dieser Auflistung anführen, jedoch würde dies den Rahmen sprengen. Weiter steht im Text:

 

In ihm sind umfassende Dinge wie das Gebet, die Zakah (Sozialsteuer), die Pilgerfahrt und das Fasten erwähnt. Es gibt keinen anderen Weg als das Heranziehen der Sunna, die ihn (den Koran) erklärt“ (siehe hierzu: Abu Hanifa, Leben und Werk des Ehrenhaften Großgelehrten, S. 509, Muhammad Abu Zahra)

 

Vor allem haben die reichen Hadithgelehrten es sich wohl zu Eigen gemacht, die Zakah auf bestimmte Summen einzuschränken und entstellen somit den Koran. Kritik zu solchen Aushebelungen lassen sich übrigens auch unschwer im Evangelium finden. Also keine neue Angelegenheit. Die aufgeführten Punkte, um den Koran als unvollständig zu brandmarken, sind natürlich haltlos:

Weiter geht es im Text:

 

Somit wäre eine richtige Deutung des Korans ohne die Einbindung und Kenntnis der Überlieferungen auch nur annähernd nicht möglich.

 

Wie will man den Koran mit Ahadith erklären, wenn diese selbst nicht mal ansatzweise einheitlich sind, welcher nun wahr oder falsch ist und man erwiesenermaßen somit auch Ahadith selbst erklären muss? Wie soll dieser geschichtlich verfälschte historische Kontext des Koran den Gläubigen Gott näher bringen? Und das gilt natürlich auch für sahih Werke. Und die alles entscheidende Frage: Wie soll man mit jenen Koranversen umgehen, welche dem Koran Einfachheit, Klarheit (mubin), eine ausführliche Darlegung und Leichtigkeit für die Ermahnung attestieren (44:58, 20:97, 17:89, 18:54, 17:9)? In welchem Vers des Koran steht, dass dieser schwer zu verstehen ist oder mit anderen Quellen erklärt werden muss? Warum erwähnt der Koran an keiner Stelle auch nur eine einzig andere Quelle als Offenbarungen Gottes? Er kritisiert diese Quellen außerhalb der Offenbarung doch vehement? Warum geht der Autor an keiner Stelle seines Artikels auf genau jene Verse ein, die seiner Argumentation direkt widersprechen?

Denjenigen, die solche Behauptungen aufstellen, seien noch folgende Verse ans Herz gelegt:

 

6:104 Zu euch sind nunmehr Einsicht bringende Zeichen von eurem Herrn gekommen. Wer einsichtig wird, der ist es zu seinem eigenen Vorteil, und wer blind ist, der ist es zu seinem eigenen Nachteil. Und ich bin nicht Hüter über euch. (Siehe auch: 2:99, 2:118, 24:18, 2:159, 2:187, 2:219, 2:221, 6:105, 9:115, ganze Liste im Koran: corpus quran)

 

Der Autor führt Meinungen von angeblichen „Gelehrten“ vor, um die Argumente der Gottergebenen, welche ohne menschliche Sunna auskommen, zu widerlegen. Der Gottergebene wiederum zeigt dagegen Koranverse auf, um ihn seinen Irrtum vor Augen zu führen (18:57, 43:36-37, 43:1-4, 12:1-2, 26:2, 27:1, 28:2, 44:2).

Von nun an geht der Autor in die Richtung derjenigen ein, die eine menschliche Sunna mit Gottes Wort gleichsetzen (der Autor vertritt diese Meinung jedoch selbst nicht), dazu schreibt er:

 

Als Beleg für die Gleichsetzung der Sunna des Propheten mit der Offenbarung des Koran, führte asch-Schafi sämtliche Koranstellen wie diese folgende auf: „Gedenkt stets der Gaben Gottes, des euch herabgesandten Buches und der offenbarten Weisheit“ (2:231).

 

Diese Thematik wird in der Kurzanalyse „Ist Sunna eine Offenbarung?“ näher behandelt. Wie kann der Autor bei Versen wie 3:64 und 9:31 Ahadith eine Autorität geben und sich somit den Propheten oder Gelehrte zu Herren nehmen? Besondere Beachtung sei auch den Versen 3:79-80, 6:162-164, 8:64, 7:3, 31:21 und 2:170 geschenkt. Diese Verse finden unmittelbar eine Anwendung, sobald man Ahadith als eine ergänzende Autorität in die Religion einbaut! Der Prophet war laut Koran nur ein Warner (7:188) und nur ein Mensch (18:110) und kein Gelehrter, der den Koran als Einziger richtig auslegen konnte. Gott allein lehrt und erklärt den Koran. Deswegen sollen auch alle Gläubigen nach Vers 3:79 selber forschen, wie auch den Koran lehren und nicht den angeblichen Propheten in den Ahadith als Herren abkupfern. Und nun folgender Vers:

 

66:1 O Prophet! Warum verbietest du das, was Gott dir erlaubt hat, um nach der Zufriedenheit deiner Frauen zu trachten? Und Gott ist Allvergebend, Barmherzig.

 

Hier greift Gott also selber ein, obwohl der Prophet etwas verbieten will. Da die bis hierhin vorgestellten und anderen Verse so offenkundig es verbieten, dass der Prophet eigenmächtig außerhalb des Koran Ge- oder Verbote erteilen durfte, versuchen viele liberale Anhänger der tradierten Sunna die vielen Ahadith, die das Gegenteil behaupten, durch den Koran selbst zu relativieren und als Fälschung zu deklarieren. Sie würden ja dem Koran widersprechen. Diese Logik sei noch einmal ganz nüchtern veranschaulicht: Zuerst ist der Koran nicht vollständig und bedarf einer Erklärung. Um dieses angebliche Problem zu lösen, wendet man sich an Ahadith. Diese Erklärung des Koran wird dann, wenn man die Neigung dazu verspürt, wieder vom zu Erklärenden selbst, also dem Koran erklärt. Das ist natürlich, wie zuvor erwähnt, ein klarer Zirkelschluss. Dabei soll keinesfalls untergehen, dass diese Ahadith angeblich die Meinung des Propheten selbst darstellen, man in solch einem Fall sozusagen die Angelegenheit dann besser weiß als der Prophet. Zudem gibt es viele Sunnaanhänger, die Ge- und Verbote außerhalb des Koran für verpflichtend halten. Schlussendlich ist es der jeweiligen Person selbst überlassen, ob diese Ge- und Verbote außerhalb des Koran Autorität genießen dürfen oder nicht. Will man sie nicht, sagen die Befürworter dieser Ahadith, dass man den Propheten missachte. Nimmt man diese Ahadith jedoch an, sagen die Leugner dieser Ahadith, dass diese falsch wären, dem Koran widersprechen. Wobei sie jedoch an anderen Stellen diesen Quellen Autorität geben und man sich hier fragen muss, mit welchem Recht diese Gruppe hier selektiv urteilen darf und dabei den dort erwähnten fiktiven Propheten missachten kann. Diese Quellen sind nicht von Gott geschützt wie der Koran und von der Zeit des Propheten mindestens etwa 150 Jahre entfernt.

Weiter geht es folgendermaßen:

 

In den großen Hadith-Sammlungen werden nahezu hundert tausende Hadithe registriert. Wenn die Sunna als solche in ihrer Gesamtheit als Offenbarung (wahy) angesehen wird, weshalb werden diese unterschiedlich in ihrer Authentizität bewertet?

 

Weshalb werden sie überhaupt gebraucht, wenn schon allein die Zahl selbst erkennen lässt, dass die meisten nicht stimmen können und der Koran dazu eindeutig ist? Hinzu kommt, dass die vom Autor erwähnte Authentizität, zum Beispiel die Beurteilung eines Hadiths zu „sahih“, selbst unwissenschaftlich und somit höchst fraglich ist. Fahren wir fort:

 

In seinem Aufsehen erregenden Buch „Scharia-der missverstandene Gott, geht der Münsteraner Religionspädagoge Prof. Mouhanad Khorchide dieser Problematik umfangreich und detailliert nach und zeigt anhand von Primärquellen, wie prekär die Situation um die Hadithe bestellt sind (siehe „Scharia, der missverstandene Gott, S.99-118).

 

Kein Widerspruch, doch dann:

 

Khorchide wirbt für einen sensiblen und kritischen Umgang mit den Hadithen umzugehen und keinesfalls diese pauschal zu verwerfen. Auch wird nachdrücklich darauf hingewiesen, wie wegweisend Überlieferungen in Bezug auf die Ausführung religiöser Rituale sind: „Diese Ausführungen sollten die Notwendigkeit eines sensiblen und kritischen Umgangs mit den Hadithen unterstreichen, aber keineswegs die Hadithe pauschal verwerfen. Gerade solche Hadithe, die das Ausführen religiöser Rituale betreffen, sind für die Muslime unentbehrlich, da im Koran kaum Details dazu zu finden sind“ (Scharia, der missverstandene Gott, S. 118, Mouhanad Khorchide).

 

Diese Aussage widerspricht dem Koran diametral. Wenn Gott es für nötig gehalten hätte, dass man mehr Details braucht, hätte Er sie auch im Koran gegeben und nicht irgendwelchen, erst Jahrhunderte später festgelegten Schriften, die laut dem Autor selbst “in die hundert tausende” gehen, überlassen. Laut den Ahadith dauerte die Herabsendung des Koran 23 Jahre. 23 Jahre hatte Gott sich offenbart und am Ende nach über 6300 Versen, hat Er keinen vollkommenen / vollständigen (6:115, 5:3, 12:111, 16:89) Koran herabsenden können? Unabhängig davon sind selbst die als sahih eingestuften Ahadith, auch nach all diesen Überprüfungen immer noch voller Widersprüche. Die Zuverlässigkeit der Ahadith stehen nicht nur auf höchst dünnem Eis, sondern viel wichtiger: Sie werden vom Koran ausgeschlossen.

Auch die im Zitat erwähnten Rituale sind im Koran völlig hinreichend für die Praxis erklärt. Wenn man die Rituale mit Ahadith verstehen will, stößt man unweigerlich auf große Widersprüche mit dem Koran. Zum Beispiel sollen laut Ahadith der an der Kaaba angebrachte schwarze Stein neben Gott verehrt werden oder es wird die Pilgerzeit zur Kaaba stark eingeschränkt, wodurch ein großer Andrang entsteht und viele Menschen bisher deswegen dort umgekommen sind oder sich verletzt haben. Auch dass man einen Prophetenkult eingeführt hat, zum Beispiel seinen Geburtstag zu feiern und er dadurch nicht selten verheiligt wird, ist koranisch unhaltbar. Im Buche Gottes steht, wie bereits erwähnt, dass der Prophet nur ein Mensch (18:110) und nur ein Warner (22:49) ist. Auch das man unter den Gesandten keinen Unterschied machen soll, wie mehrfach im Koran erwähnt. Ahadith bringen hier schlussendlich nicht nur eine unnötige Erweiterung, sondern das zusätzlich die Religion, sich eben ganz auf Gott alleine einzustellen (zB 39:45, 7:3, 65:3 usw), verworfen wird. Weiter schreibt der Autor:

 

Auch der Gründer der Hanafitischen Rechtsschule Abu Hanifa (gest. 767) bemühte sich indessen, sorgfältig und kritisch reflektierend mit dem Überlieferungsmaterial umzugehen. Bekanntlich überlieferte Abu Huraira (gest. 678) die meisten Hadithe im sunnitischen Raum, um genau zu sagen 5374 Hadithe in der Gesamtzahl.

 

Er verlässt sich bei dieser Behauptung natürlich wieder auf Ahadith. Laut Ibn Khaldoun hat Abu Hanifa nur 17 Ahadith überliefert, die eventuell als „sahih“ gelten könnten. Bukhary hat es 100 Jahre später dann besser gewusst, als er mehrere tausend Ahadith als sahih einstufte? Fahren wir fort:

 

Obwohl Abu Huraira eine sonderliche Stellung innerhalb der sunnitischen Welt einnimmt, wird dieser ungeachtet von Abu Hanifa wegen seiner über den Inhalt nicht scharfsinnig nachgedachtes Tradieren sowie leidenschaftlich alles zu überliefern, kritisiert. Der Schüler von Abu Hanifa, asch-Schaibani (gest. 805) überliefert unverhohlen diesen besorgniserregenden Satz von seinem Lehrer: „Abu Huraira hat ohne über den Inhalt genauer zu überlegen, alles Mögliche überliefert, ohne jedoch Kenntnis von an-nasikh und al-mansukh zu besitzen!“

 

Das ist eben das große Dilemma derjenigen, die Ahadith einen Platz in der Religion einräumen wollen und dann sehen müssen, wie sie die Ahadith nun interpretieren müssen, damit es passt. Welcher Hadith hebt nun welchen auf? Warum hat der Prophet dazu keine Anleitung überliefert? Überhaupt: Warum hat er kein Sunnabuch verfassen lassen und so vielen Widersprüchen Tür und Tor geöffnet? Wieso werden jene Ahadith nicht beachtet, welche diese rigoros komplett verwerfen? Selbst die ersten vier Kalifen haben keine Ahadith geduldet, nicht ein Hadith aus der Zeit ist nachweisbar. Des Weiteren: Wer Abu Huraira nun genau war, ob er selber Ahadith hinzugedichtet hat oder jemand in seinem Namen, wird man nie hinreichend ermitteln können. Und schließlich:

 

Dr. Murad Wilfried Hofmann wies bereits in seinem Buch „Der Islam im 3. Jahrtausend“ auf die Herausforderung und der Problematik für die Muslime im 21. Jahrhundert hin. Die angeführten sechs Punkte jedoch sind bis heute weitestgehend ungeklärt: Sind Koran und Sunna beide Offenbarungen (wahy), oder ist die Sunna nur inspirierte (ilham) Rechtsleitung?

 

Wer auf diese Frage nicht antworten kann, bei so eindeutigen Koranversen, so eindeutigen massenhaften Widersprüchen in den Ahadith, der hat wohl den Koran nicht einmal gründlich gelesen, von einem lückenhaften Studium des Koran ganz zu schweigen.

 

Kann die Sunna den Koran abändern (derogieren)? Kann der Koran die Sunna abändern?”

 

Im Koran wird das Wort Sunna nur in Bezug zu Gott gebraucht. Es gibt keinen einzigen Vers, welcher eine Sunna des Propheten erwähnt. Und welche Sunna? Es sei nochmals betont: Der Prophet hat so ein Buch nicht verfassen lassen. Es gibt nicht die Sunna außerhalb des Koran, sondern viele tradierte Schriften ohne einen klaren Anfang oder Ende, welche Menschen nach eigenen Vorstellungen ausgelegt haben. Aufgrund dieser Vielfalt an Interpretationen gibt es auch über 100 Gruppierungen im Islam. Die Authentizität der Ahadith sind nicht mehr nachprüfbar, voller Widersprüche, wie der Autor auch selbst eingesteht. Man kann es gar nicht genug oft betonen: Ahadith werden im Koran ausgeschlossen.

Es soll jetzt noch ein Argument des nächsten zu widerlegenden Artikels des Autors vorweg genommen werden. Der Autor beschuldigt die Gottergebenen, welche die traditionelle Sunna komplett negieren, mit der Behauptung, dass sie wie Salafisten an den Koran subjektiv herangehen würden. Dazu schreibt der Autor in seinem Kommentarbereich  (Stand: 29.4.15, vom Autor geschrieben am 25.3.2015, 11:30 Uhr):

 

Ecevit Polat: …Baycan Yanar hat auf eine grundlegende Methodik der Salafisten und Koraniten hingewiesen (http://tavhid.de/?p=1712). Danach bedienen beide Strömungen die gleiche Herangehensweise, indem sie Koranverse selektiv entnehmen und zitieren, um ihre beabsichtigte Ideologie zu legitimieren.

Eine Anmerkung hierzu: Der erwähnte Artikel von der Homepage „Tavhid“ wurde von mir bereits widerlegt. Der Autor täte übrigens gut daran, das Wort „tauhid“ im Wörterbuch einmal nachzuschlagen. Zumal dieser Vorwurf direkt zurückgegeben werden kann, da der Autor den Vers 59:7 selektiv zitierte, um seine beabsichtigte, lückenhafte Ideologie zu legitimieren. Der Autor sei dazu eingeladen, die angeblich „selektiv entnommenen Koranverse“ in ihrem Gesamtkontext des Koran aufzuzeigen. Ansonsten ist seine Behauptung ein Ausdruck einer schwachen Rhetorik, die auf nichts fußt.

Es erfolgt jetzt zu diesem Vorwurf folgender Vergleich mit den 3 Strömungen:

Frage 1: Wird den Ahadith außerhalb des Koran Autorität gegeben?

  • Gottergebene, welche nur dem Koran Autorität geben (K): Nein.
  • Salafisten (S): Ja.
  • „Historisch krtitische Methode“ des Autors (HKM): Ja.

Frage 2: Wird der Koran durch widersprüchliche, unvollständige und selektiv ausgewählte Ahadith erklärt?

  • K: Nein.
  • S: Ja.
  • HKM: Ja.

Frage 3: Werden Gelehrte, Anhänger des Propheten oder der Prophet selbst als zweite normative Quelle zu Herren genommen und stehen dementsprechend mit 3:64, 3:79-80 und 9:31 im Widerspruch?

  • K: Nein.
  • S: Ja.
  • HKM: Ja.

Frage 4: Wird der Sunna Gottes, wonach der Prophet nur dem Offenbarten zu folgen hat (6:50, 7:203, 10:15, 46:9), Rechnung getragen?

  • K: Ja.
  • S: Nein.
  • HKM: Nein.

Anhand dieser Tatsachen erübrigt sich jegliche weitere Diskussion zu diesem Thema und es liegt mir fern, wie der Autor dies tut, ihn mit Salafismus gleichzusetzen. Dazu kommt, dass man sich im Koran keinesfalls einen subjektiven Islam zusammenbasteln kann, wie der Autor versucht uns dies hier vorzuwerfen. Dies würde sofort Widersprüche im Koran nach sich ziehen und ist unter anderem in folgendem Vers ausgeschlossen:

 

4:82 Denken sie denn nicht sorgfältig über den Koran nach? Wenn er von jemand anderem wäre als von Gott, würden sie in ihm wahrlich viel Widerspruch finden.

 

Unser Autor jedoch springt bei der Auslegung des Koran, je nach Lage, zwischen Koran und Ahadith. Ihm ist die Erschließung des Korans durch seinen eigenen Kontext allem Anschein nach fremd oder er verweigert sich den klaren Koranversen und folgt somit nicht der Tatsache, wonach Gott den Koran alleine lehrt und erklärt und der Prophet selbst der Offenbarung nur zu folgen hat (6:50, 7:203, 10:15, 46:9) und nichts anderem. Gerade mit Ahadith kann man sich seinen individuellen und somit subjektiven Islam zusammenbasteln (68:38). Denn man entstellt mit diesen Quellen den vollkommenen / vollständigen (6:115) Koran. Dies ist auch seit mehr als einem Jahrtausend leider die gängige Praxis.

 

Fazit

Der Autor hat sich schließlich mit Gottergebenen, die sich ganz auf Gott alleine einstellen, offenbar kaum auseinandergesetzt. Er hat ihre Gegenargumente nahezu ausgelassen. Der Autor hat auf Mustafa Islamoglu verweisend die Behauptung, dass diese Glaubensrichtung “eine Intention der Orientalisten gewesen” sein soll und somit alle Orientalisten ins falsche Licht gerückt werden, nicht belegen können. Ferner ist so eine Argumentation in sich selbst fehlerhaft, denn es geht nicht um „böse“ Orientalisten, sondern wie der Koran nun richtig verstanden werden will. Natürlich kommt bei dieser Behauptung auch der üble Nachgeschmack mit, dass man wohl nur als Muslim den Islam erschließen kann und Außenstehende pauschal ohne koranische Begründung ausgeschlossen werden. Vielmehr ist dem Koran entnehmbar, dass der Gottergebene allen Menschen zuzuhören hat (39:18, 10:37-39). Ausgenommen bei Gott hat der Gläubige “weder Schutzherrn noch Helfer” (4:123, 4;173, 9:116, 29:22) und im Koran steht: “Wer sich auf Gott verlässt, dem ist Er seiner Genüge“ (65:3). Auch folgender Vers ist von herausragender Bedeutung:

 

39:45 Und wenn Gott allein erwähnt wird, verkrampfen sich die Herzen derjenigen, die nicht an das Jenseits glauben. Wenn aber diejenigen erwähnt werden, die es außer Ihm geben soll, freuen sie sich sogleich.

 

Für Diejenigen, welche sich gerne in Details verrennen wollen, sei noch die Geschichte der Kuh eine Lehre (2:67-71).

Der zweite Artikel des Autors reicht qualitativ nicht viel weiter als der bereits hier Behandelte. Diese zweite Widerlegung wird dann im nächsten Artikel erscheinen, so Gott will.

Themenrelevante Artikel:

Eine Kurzanalyse: Ist die Sunna eine Offenbarung?

Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verworfenen Teufel,
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen,

Diesmal wird eine Auffassung näher behandelt, die einem Gottergebenen diametral entgegen steht. Denn Gottergebene dulden in der Religion kein Menschenwerk neben Gottes vollkommenem Wort (6:115), schon gar nicht auf gleicher Stufe. Die Haltung mancher Traditionalisten, dass die tradierte Sunna eine Offenbarung sei und somit mit dem Koran auf gleicher Stufe stehe, ist nicht nur aus religiöser Perspektive offenkundig falsch, sondern auch anhand klarer Tatsachen innerhalb der Quellen unhaltbar, aus denen sich diese Behauptung speist. Merkwürdigerweise wird dies aber immer noch von nicht wenigen Traditionalisten für wahr gehalten. Es erfolgt zu Beginn ein Exkurs in Ahadith (die Mehrzahl von Hadith), um dem Leser die behandelte Thematik verständlich zu machen, wenn man von einer traditionellen Sunna spricht. Darauf folgt dann die Beantwortung der Frage, ob diese traditionelle Sunna mit dem Koran gleichwertig sei, wie manche Traditionalisten meinen.

 

Ein Überblick zu den Ahadith

Jene Quellen, zu denen sich alle tradierten Sunnas im Islam berufen, nennt man Ahadith. Diese wurden, unter vielen anderen Beurteilungen, auch in sahih (gesunde, authentische) Ahadith unterteilt und schlussendlich in so genannten sahih Werken zusammengestellt, welche diese Ahadith nochmal in Themen ordneten (zum Beispiel zum Gebet). Sahih Beurteilungen zu Ahadith wurden jedoch erst ungefähr zwei Jahrhunderte nach dem Ableben des Propheten eingeführt. Es gab zwar laut Ahadith schon vor dieser Zeit Beurteilungen, ob ein Hadith als sicher galt oder nicht, jedoch ist eine sahih Klassifizierung erst bei Bukhary zu finden. Er selbst gibt sich dazu auch als den Ersten an. Im Gegensatz zu Koranfragmenten ist aus heutiger Zeit gesehen kein einziger Hadith von vor ca. 150 Jahren nach Hidschra mehr nachweisbar. Natürlich könnte man dem entgegen bringen, dass es aber zur Zeit der Sammlung der Ahadith frühere Quellen gab. Jedoch ist diese These zuallererst nur eine Vermutung und nicht weiter hilfreich, da die Menge der Ahadith schon zu Bukharys Zeiten enorme Größen angenommen hatte. Die Tradenten der sahih Ahadith berichten hier selbst, dass große Mengen (95-99%) schon zu dieser Zeit als nicht authentisch (sahih) eingestuft werden mussten. Die sahih Ahadith machen also nur einen Bruchteil aller Ahadith aus.

 

Problematiken der tradierten Sunna

Eines sei hier vorweg erwähnt: Das Wort „Sunna“ findet im Koran nur in Bezug zur „Sunna Gottes (sunnatullah)“ Erwähnung (siehe dazu den Artikel: (Das Konzept der Sunna). Eine andere „Sunna“ wird nirgends im Buche Gottes erwähnt.

Gerne geben Traditionalisten der verschiedenen Strömungen im Islam an, „der Sunna“ zu folgen und meinen damit die Interpretation der Überlieferungen ihrer jeweiligen Gruppe, welche neben dem Koran Autorität haben sollen, in unserem Fall gar mit dem Koran nebeneinander stehen. Es zwingt sich hierbei natürlich die Frage auf, warum gerade eine bestimmte Gruppe nun die „richtige“ Sunna haben soll und die Anderen nicht? Denn liberale wie auch konservative Strömungen nehmen ihre jeweilige Sunna, mindestens im sunnitischen Spektrum, aus denselben Quellen. Die daraus resultierende offensichtliche Problematik fällt natürlich sofort ins Auge, denn: Wie soll ich zum Beispiel als ein Liberaler, der Bukhary eine Autorität gibt, einen stark Konservativen davon überzeugen, dass sein Hadith xy nicht stimmen kann, wo ich doch meine tradierte Sunna aus der selben Quelle beziehe wie er? Will ich Ahadith mit Ahadith widerlegen, die denselben Ursprung haben? Will ich den so genannten Koransieb benutzen, wo doch die Ahadith den Koran erklären oder detaillieren sollen? Also somit die Erklärung selbst eine Erklärung braucht? Obwohl der Prophet dort als Autorität gehandelt wird? Wusste der Prophet es nicht besser? Mit welchem Recht kann ich schlussendlich manche Ahadith ausschließen andere jedoch als authentisch sehen? Selbst wenn man sich hierbei nur die Sunna der vier sunnitischen Rechtsschulen anschaut trifft man auf ein Feld, welches so umfangreich und verwirrend ist, dass eine klare Haltung zu dieser Sunna in vielen Bereichen unmöglich wird. Ein Beispiel dazu ist, dass alle vier sunnitischen Rechtsschulen unterschiedlich beten oder beispielsweise eine Rechtsschule Meeresfrüchte zum Essen verbietet, die andere aber dies erlaubt. Fragezeichen türmen sich auf bei noch so vielen anderen nicht erwähnten Beispielen und dabei werden die Widersprüche der sahih Ahadith in Bezug zum Koran noch außen vor gelassen. Die Tatsache, dass je weiter man sich von der Zeit des Propheten wegbewegt, es dementsprechend auch mehr Ahadith gibt, ist ein großer Indikator dafür, dass man sehr viele Ahadith gefälscht haben muss und diese Praxis erwiesenermaßen auch nicht vor „sahih“ Ahadith halt gemacht hat. Es ergeben sich unter anderem folgende Problematiken, wenn man Ahadith eine Autorität zukommen lassen will:

  1. Warum haben wir keinen einzigen Hadith aus der Zeit des Propheten wie Koranfragmente?
  2. Warum wartet man mindestens an die zwei Jahrhunderte und sammelt, überprüft und hält sie erst dann schriftlich fest? Somit hat man keine zuverlässige Quelle, viel schlimmer noch: eine massiv verderbte Quelle!
  3. Warum hat der Prophet seine “Offenbarungen” oder Ahadith nicht in einem Buch niederschreiben lassen, wenn sie doch unerlässlich sind und somit auch gegen Fälschungen hätte vorbeugen können, die heute überall in sahih Ahadith anzutreffen sind?

Das Gegenargument ist dann immer, dass man ja die Ahadith damals mit dem Koran hätte verwechseln können.

  • Aber: Sie sind doch in unserem Fall sowieso Offenbarung?
  • Sind sie weniger wert? Mit welcher Begründung?
  • Hinzu kommt: Wie soll der unnachahmliche Koran (17:88) verwechselt werden?
  • Und warum hat man den Koran nicht mit “Ahadithoffenbarungen” kommentiert?
  • Es wird doch gerne behauptet, dass Ahadith den Koran erklären. Waren die Menschen damals zu unwissend ein Buch zu schreiben, welches Koran und Kommentar enthalten und man diese durch Erklärungen dem Leser hätte unterscheiden lassen können? Sie haben doch den Koran überliefert.

 

Die Quellenlage am Beispiel von Bukhary

Bukhary hat ca 230 Jahre nach dem Propheten angefangen, Ahadith zu sammeln und sie schriftlich festzuhalten. Sein Werk, das aus mehreren Bänden besteht, gilt als höchste Autorität bei den sunnitischen Anhängern. Bukhary hat die Ahadith nämlich nicht nur aufgezeichnet und gesammelt, sondern auch als sahih klassifiziert. Für uns wichtig ist, dass eine sahih Beurteilung eines Hadiths erst nach ca 230 Jahren erfolgte. Jene Ahadith, die für ihn als sicher galten, stufte er als “sahih” ein. Andere wiederum als weniger authentisch. Diese Formulierung erweckt beim Leser wahrscheinlich den Eindruck, dass es sich hierbei um einen logischen und nachvollziehbaren Vorgang gehandelt haben muss, es ist in Wahrheit aber eine Mogelpackung. Denn Bukhary hat die Beurteilung eines Hadiths mit “sahih” nicht unter nachvollziehbaren und Vernunft orientierten Kriterien erörtert, zum Beispiel nach dem Inhalt des jeweiligen Hadiths, sondern anhand seiner Überlieferungskette, ob diese zum Beispiel lückenlos war oder die Überlieferer selber als zuverlässig galten, was aber schon damals zu überprüfen nicht mehr möglich war, da die Zeitspanne zum Propheten und seiner Anhänger bereits viel zu weite Dimensionen angenommen hatte. Natürlich gibt es dementsprechend zu der Beurteilung von Überlieferern der Ahadith selbst auch gerne Widersprüche. So hat ein anderer Hadith-Sammler bekannt als Muslim (und Bukharys Autorität nahe kommend), 400 Überlieferer von Bukhary als nicht vertrauenswürdig eingestuft und Bukhary umgekehrt bei Muslim 600. Ferner verhält es sich dahingehend, dass Muslim andere Kriterien für “sahih” aufstellte und dementsprechend gibt es manche Ahadith bei Muslim, welche für ihn als sahih gelten, nicht aber bei Bukhary verzeichnet sind und natürlich auch umgekehrt. Deswegen werden heutzutage auch Bände zum Verkauf angeboten, die nur Ahadith enthalten, welche von Bukhary und Muslim zusammen als sahih eingestuft wurden. Anhand dieser Tatsachen ist es kaum verwunderlich, dass man beispielsweise in Bukharys sahih Zusammenstellung auf Ahadith trifft, die sich gegenseitig ausschließen. Der nächste Punkt ist, dass die Quellenmenge, die Bukhary analysiert haben will, so groß ist, dass dies schon allein mathematisch unmöglich ist. Bukharys Werk über Ahadith, die von ihm als sahih eingestuft wurden, sind ein fester Bestandteil des sunnitischen Islam, für sie nicht wegzudenken. Um so erschreckender ist es, wie verderbt selbst diese Ahadith sind, Bukhary diese aber trotzdem mit aufnahm (siehe dazu auch die Artikel: Koranischer oder sunnitischer Mohammed?, Zuverlässigkeit der Ahadith und Frauen im Koran und in der erfundenen Religion). Schaut man sich die dort enthaltenen Ahadith an, ist die Behauptung, dass man ein authentisches Werk vorliegen hätte, nicht mal ansatzweise haltbar. Man kann Bukharys “individuelle” Vorgehensweise bei der Beurteilung von Ahadith auch an folgendem Beispiel festmachen: Bukhary hat keinen einzigen Hadith von Abu Hanifa, zu ihm sich die Hanafitische Rechtschule als Gründer beruft und mit zu einer der vier sunnitischen Rechtsschulen gehört, überliefert – schlimmer, ihn harsch verurteilt. Gerne wird dann hierbei versucht diese Ahadith durch andere zu relativieren, also ein klassischer Zirkelschluss. Es würde Bände füllen die Ahadith einmal generell zu kritisieren, denn die Missstände in diesem Feld sind so enorm groß, dass ich es hier nur anschneiden kann (zur ausführlicheren Behandlung dieses Themas, empfehle ich aus unserer Homepage die Rubrik: Hadith und Sunna). Und was sagt der Koran?

 

6:21 Und wer ist denn ungerechter, als wer gegen Gott eine Lüge erdichtet oder seine Zeichen für Lüge erklärt? Denen, die Unrecht tun, wird es sicher nicht wohl ergehen. (siehe auch: 11:18)

 

So wurde dem Leser bis hierhin ein genereller Einblick in die großen Problematiken der Ahadith gegeben, damit ihm klar wird, dass es eben nicht die bestimmte, eine, klare Sunna außerhalb des Korans gibt und man nicht mal sagen kann, wo diese Sunna anfangen oder aufhören soll. Auch welche sahih Ahadith nun wirklich authentisch sind oder nicht, kann niemand mehr nachvollziehen. Die Widersprüche und Fehler innerhalb dieser Quellen sind schlussendlich sehr groß und deshalb hier auch nur angeschnitten. Von den Folgen der Ahadith für den Islam und die Menschen mal ganz abgesehen. Überhaupt ist diese Sunna aus dem Koran nicht herleitbar, sondern im Gegenteil: der Koran duldet keine anderen Quellen. Dies ist dann auch das ausschlaggebende Ausschlusskriterium für diese Sunna. Es ist also noch nicht mal relevant ob ein Hadith authentisch ist oder nicht, er ist koranisch nicht tragbar als jedwede Autorität innerhalb der Religion. Doch trotz dieser erdrückenden Tatsachen sehen die meisten Traditionalisten diese Quellen als unerlässlich. Der Koran ist für sie nicht ausreichend. Manche stellen sie gar mit dem Koran auf die gleiche Stufe.

 

7:3 Folgt dem, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt worden ist, und folgt außer Ihm keinen (anderen) Schutzherren! Wie wenig ihr bedenkt!

 

Die koranische Haltung

Die traditionellen Sunnaanhänger, die menschliche Ahadithsammlungen mit dem Koran auf die gleiche Stufe stellen, berufen sich meist gern auf die Verse 53:1-4 des Koran. Sie argumentieren, dass Muhammad nicht aus eigener Neigung spricht, sondern Offenbarungen sein Geistesgemüt leiten. Eigentlich ein möglicher logischer Schluss, der große Haken an der Sache aber ist, was koranisch gesehen als Offenbarung gilt. Spricht der Prophet also nie aus eigener Neigung und nur aus Offenbarungen heraus? Und sind diese Dinge, die der Prophet verlautet, auf gleicher Stufe mit dem Koran? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Offenbarung, von der hier die Rede ist, nur den Koran meint? Diese Fragen wollen wir jetzt genauer klären.

Der Koran erklärt sich als ein Buch, das eine “Klärung aller Dinge” (16:89 und 12:111) in der Religion (5:3) ist. Nun werden aber die Befürworter dieser Position hier entgegenbringen, dass zwar der Koran eine „Klärung aller Dinge“ ist, jedoch laut 53:1-4 der Koran auch andere Offenbarungen mit einschließe. Schauen wir uns aber dazu mal Vers 5:101 an, dort steht:

 

5:101 O die ihr glaubt, fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch offengelegt werden, euch leid tun, wenn ihr nach ihnen fragt zu der Zeit, da der Qur’an offenbart wird, sie euch (gewiß) offengelegt werden, wo Gott sie übergangen hat. Und Gott ist Allvergebend und Nachsichtig.

 

Der Koran duldet also keine Detaillierung seiner selbst, sie werden übergangen – von Gott selbst! Somit ist eine andersartige Sunna schon jetzt ausgeschlossen, da sie außerhalb des Korans liegen müsste. Dazu muss man auch die Frage stellen, wenn denn nun eine wie auch immer gehandhabte Sunna außerhalb des Korans Autorität haben soll, die erst Jahrhunderte später gesammelt und beurteilt wurde, voller Widersprüche ist, sich mit folgendem Vers vertragen soll, der schon viel früher da war:

 

5:3 Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und Meine Gunst an euch vollendet, und Ich bin mit dem Islam (Ergebung) als Religion für euch zufrieden.

 

Der Koran jedoch enthält keine Widersprüche (4:82). Kommen wir nun zum Propheten selber. Der Prophet ist laut Koran keine vollkommene Person (9:43, 66:1, 47:19, 48:2) wird aber an anderen Stellen gelobt. Somit hatte er schlussendlich einen außergewöhnlichen Charakter, was auch im Koran Anklang findet. Der Koran fordert den Propheten auf, nicht nach seiner eigenen Neigung zu gehen:

 

2:120 Wenn du jedoch ihren Neigungen folgst nach dem, was dir an Wissen zugekommen ist, so wirst du vor Gott weder Schutzherrn noch Helfer haben. (siehe zB auch: 2:145, 5:48, 5:49)

 

Wir sehen also, dass der Prophet durchaus eine eigene Neigung hatte und dementsprechend keinesfalls sein ganzer Gemütszustand als Offenbarungsquelle gemeint sein kann, wie man es in den Versen 53:1-4 vorgeben will. Wir müssen auch beachten, dass ein Prophet und ein Gesandter nicht dasselbe sind. Somit ist in den Versen 53:1-4 nur die Gesandtenfunktion gemeint, wonach ein Gesandter wie alle Gesandten nur die Botschaft, also den Koran zu übermitteln haben (16:35). Da Offenbarungen nicht vom Gesandten selbst kommen, sondern Gott sie ihm eingibt, haben wir dementsprechend keinen Widerspruch in den Versen, wenn diese Muhammad keine Neigung attestieren. Aber ein Prophet ist nicht vollkommen, wie wir aus den eben genannten Versen entnehmen können und so wird der Prophet mit seiner Gesandtenfunktion zusammen im Koran auch dementsprechend nur als Warner gesehen:

 

7:188 Ich bin nur ein Warner und ein Frohbote für Leute, die glauben. (siehe auch: 27:92, 35:23)

 

Wir sehen der Prophet und Gesandte ist nur ein Warner. Nun, womit hat er denn gewarnt? Schauen wir auf folgende Verse:

 

32:2-3 Die Offenbarung des Buches, an dem es keinen Zweifel gibt, ist vom Herrn der Weltenbewohner. Oder sagen sie: „Er hat es ersonnen“? Nein! Vielmehr ist es die Wahrheit von deinem Herrn, damit du ein Volk warnst, zu denen noch kein Warner vor dir gekommen ist, auf dass sie rechtgeleitet werden mögen.

 6:19 Sag: Welches ist das größte Zeugnis? Sag: Gott (, Er) ist Zeuge zwischen mir und euch. Und dieser Qur’an ist mir eingegeben worden, damit ich euch und (jeden), den er erreicht, mit ihm warne. Wollt ihr denn wahrlich bezeugen, daß es neben Gott andere Götter gibt? Sag: Ich bezeuge (es) nicht. Sag: Er ist nur ein Einziger Gott, und ich sage mich von dem los, was ihr (Ihm) beigesellt. (siehe auch 42:7, 7:2-3)

 

Wir erkennen, dass die einzige Funktion Muhammads ein Warner ist und dies anhand des Korans geschieht. Es gibt keinen einzigen Vers im Koran, der Offenbarung mit etwas Anderem als den Koran oder den vorangegangenen heiligen Büchern in Verbindung bringt. Was sagt der Koran weiter über Muhammad?

 

18:110 Sag: Gewiss, ich bin ja nur ein menschliches Wesen gleich euch… (siehe auch 41:6)

 

Über Muhammad wird also mit Berücksichtigung des Kontextes gesagt, dass er nur ein Mensch, nur ein Warner ist. Der nächste Punkt ist, was vor Gott nun als Offenbarung gilt. Folgende Verse beantworten die Frage:

 

2:22-23 … So stellt Gott nicht andere als Seinesgleichen zur Seite, wo ihr (es) doch (besser) wißt. Und wenn ihr im Zweifel über das seid, was wir unserem Diener offenbart haben, dann bringt doch eine Sura gleicher Art bei und ruft eure Zeugen außer Gott an, wenn ihr wahrhaftig seid!

17:82: Und Wir offenbaren vom Qur’an, was für die Gläubigen Heilung und Barmherzigkeit ist; den Ungerechten aber mehrt es nur den Verlust. (siehe auch: 2:23, 45:1-2, 12:2, 5:48)

 

Die Bejahenden der Frage “Ist Sunna eine Offenbarung” sollen uns jetzt aus dem Koran belegen, dass es andere Offenbarungen außerhalb des Korans und den vorangegangenen Büchern gibt. Es gibt im Koran nur folgende Einwände, die man machen könnte:

 

66:3 Als der Prophet einer seiner Gattinnen eine Mitteilung im geheimen anvertraute. Als sie sie dann kundtat und Gott es ihm offen darlegte, gab er (ihr) einen Teil davon bekannt und überging einen (anderen) Teil. Als er es ihr nun kundtat, sagte sie: „Wer hat dir das mitgeteilt?“ Er sagte: „Kundgetan hat (es) mir der Allwissende und Allkundige.“

 

Gott teilt also dem Propheten etwas mit, das im Koran keine Erwähnung findet. Im Vers kommt jedoch das Wort “Offenbarung” (arabisch: vahy) hier gar nicht vor und Gott es hier nur „offen darlegt“. Deswegen hat es mit dem Status “Offenbarung”, die für uns auch relevant ist, nichts gemein. Die Details in diesem Vers sind für uns sowieso völlig hinreichend, um daraus für den Glauben die nötigen Schlüsse zu ziehen. Nächster Vers:

 

8:6-7 und sie mit dir über die Wahrheit stritten, nachdem (es) klargeworden war, als ob sie in den Tod getrieben würden, während sie zuschauten. Und als Gott euch versprach, daß die eine der beiden Gruppen euch gehören sollte, und ihr (es) lieber gehabt hättet, daß diejenige ohne Kampfkraft euer sein sollte! Aber Gott will mit Seinen Worten die Wahrheit bestätigen und die Rückkehr der Ungläubigen abschneiden, …

 

Zwar hat sich Gott hier tatsächlich den Gläubigen in der Vergangenheit mitgeteilt, jedoch wird auch dazu Offenbarung selbst nicht erwähnt. Natürlich ist der Vers selbst Offenbarung und gibt uns alle nötigen Details, damit wir als Gläubige erkennen können was hier genau in der Vergangenheit mitgeteilt wurde. Zum Einwand, dass es hier außerhalb des Korans Offenbarung geben soll, kann man folgenden Vers aufzeigen:

 

16:101 Und wenn Wir einen Vers anstelle eines (anderen) Verses austauschen – und Gott weiß sehr wohl, was Er offenbart -, sagen sie: „Du ersinnst nur Lügen.“ Aber nein! Die meisten von ihnen wissen nicht.

 

Gott hat also in 8:6-7 die letzte Form dieser Geschichte, in einer für Ihn genügenden Weise, beschrieben. Wir haben also im Koran die vollkommene (5:3), ausführlich dargelegte (6:114, 11:1, 41:3, 41:44), vollständige (auch: vollkommene) (6:115), nichts ausgelassene (6:38) und alles erklärende (16:89, 12:111) Fassung der Offenbarungen, die für uns erlaubt sind (5:44,45,47). Ich möchte auch anmerken, dass Muhammad als Prophet, also nicht in seiner Gesandtenfunktion, sich zu beraten hatte (3:159). Warum soll sich Muhammad beraten da er doch nicht aus eigener Neigung spricht? Im Koran steht doch:

 

6:57 Das Urteil gehört allein Gott. Er berichtet die Wahrheit, und Er ist der Beste derer, die entscheiden.

 

Natürlich handelt es sich in 3:159 nur um weltliche Angelegenheiten, die der Prophet mit Einbeziehung seiner Landsleute zu entscheiden hatte und nicht um religiöse Belange. Doch wenn wir sagen, dass Muhammad nur Offenbarungen von sich gab, haben wir hier einen klaren Widerspruch zu 6:57.

 

Die Weisheit, die nicht die Sunna ist

Ich möchte noch auf ein weiteres Gegenargument eingehen. Es wird in Bezug zu dieser Argumentation gerne die Behauptung aufgestellt, dass zwar Offenbarung nicht direkt mit der tradierten Sunna in Beziehung stehe, jedoch die Weisheit, welche laut Koran Muhammad gegeben wurde, diese Sunna darstellen soll. Gerne wird dabei folgender Vers präsentiert, um diesem Argument Nachdruck zu verleihen:

 

3:164: Gott hat den Gläubigen wirklich eine Wohltat erwiesen, als Er unter ihnen einen Gesandten von ihnen selbst geschickt hat, der ihnen Seine Zeichen verliest, und sie läutert und sie das Buch und die Weisheit lehrt, obgleich sie sich zuvor wahrlich in deutlichem Irrtum befanden.

 

Hier möchte ich zuallererst den Leser darauf aufmerksam machen, dass von Weisheit die Rede ist, nicht aber von einer Sunna. Im Koran ist das Wort Sunna bekannt und findet, wie anfangs erläutert, nur in Beziehung zur Sunna Gottes Erwähnung. Aber auch aus den eigenen Quellen der Sunniten kann man unschwer erkennen, dass Weisheit unterschiedlich interpretiert wurde. Wenn wir zum Beispiel einer Überlieferung von Ibn Abbas glauben schenken wollen, so hält er selbst Weisheit für Koranwissen.

Die oben zitierte Verskonstellation kommt so mehrfach im Koran vor. Jedes mal fängt es in diesen Versvarianten immer damit an, dass Zeichen (der Koran) verlesen werden. Man kann dem Argument, dass Weisheit Sunna sein soll, folgendermaßen schnell entgegnen, indem man anführt, dass der Gesandte hier das Buch und die Weisheit nur mit dem Koran weitergibt. Jetzt ist die Behauptung „eine bestimmte Sunna muss das regeln“ nur noch an einer Frage zu klären: Verliest der Gesandte die Zeichen und die Weisheit nur aus dem Koran? Für die Bestätigung unserer These und die Bejahung dieser Frage seien folgende Koranverse genannt:

 

17:39 Das ist etwas von dem, was dir dein Herr an Weisheit (als Offenbarung) eingegeben hat. Und setze neben Gott keinen anderen Gott, sonst wirst du in die Hölle geworfen, getadelt und verstoßen.

10:1 Alif-Lam-Ra. Dies sind die Zeichen des weisen Buches.

 

Insbesondere Vers 17:39 folgt nach einer Fülle von Anordnungen für die Gläubigen in den vorherigen Versen, womit ein direkter Bezug zum Koran hergestellt ist. Auch folgende Verse bestätigen nochmals unsere These:

 

27:91-92 Mir ist nur befohlen worden, dem Herrn dieser Ortschaft zu dienen, Der sie geschützt hat und Dem alles gehört. Und mir ist befohlen worden, einer der (Ihm) Ergebenen zu sein. und den Qur’an zu verlesen. Wer sich nun rechtleiten lässt, der ist nur zu seinem eigenen Vorteil rechtgeleitet. Und wenn einer irregeht, dann sag: Ich gehöre ja nur zu den Überbringern von Warnungen.

 

Weitere Betrachtungen zur Bejahung der Frage, ob Weisheit nur dem Koran entnommen werden kann, finden Sie in den am Artikelende verlinkten Beiträgen. Die Befürworter der Behauptung, dass Sunna eine Offenbarung sei, können hingegen keinen einzigen Koranvers aufbieten, in dem Weisheit eine ergänzende Sunna sein soll. Es gibt keinen einzigen Vers im Koran, der Weisheit anders erklärt als in Bezug zur Offenbarung in den abrahamitischen Büchern. Sunna selbst wird, wie eben erwähnt, im ganzen Koran nur in Bezug zu Gott verwendet. Für diejenigen Leser, die eine traditionelle Sunna nicht als Offenbarung sehen, ihr aber trotzdem Autorität geben, kann man noch folgende Argumente aufbringen: Immer steht in diesen Verskonstellationen, dass der Gesandte „sie läutert”. Wenn wir argumentieren, dass dies mit der Sunna geschehe, widerspricht das eindeutig Koranversen, in denen Gott sagt:

 

28:56 Gewiß, du kannst nicht rechtleiten, wen du gern (rechtgeleitet sehen) möchtest. Gott aber leitet recht, wen Er will. Er kennt sehr wohl die Rechtgeleiteten.

 

Deswegen kann der Gesandte nicht über eine eigene Sunna rechtleiten/läutern. Der vorletzte Punkt dazu ist, dass wieder vom Gesandten die Rede ist und das ist auch in allen anderen betreffenden Verskonstellationen der Fall. Die einzige Funktion für einen Gesandten ist überall im Koran nur die Übermittlung der Botschaft. Sollte also der Gesandte außerhalb des Koran etwas hinzufügen, widerspricht das der mehrfach im Koran erwähnten einzigen Funktion, dass der Gesandte nur die Offenbarung zu übermitteln hat.

Für die Befürworter der Behauptung, dass Sunna eine Offenbarung sei, kommt in Bezug zum eben erwähnten Vers 28:56 noch folgende Frage hinzu: Wenn der Prophet selbst nicht rechtleiten kann, wen er will, obwohl er ja nach der Meinung der Befürworter nur Offenbarungen von sich gibt, wieso kann er dann nicht rechtleiten, wen er will? Hat er jetzt doch eine eigene Persönlichkeit oder Teilpersönlichkeit? Und wenn dem so ist, wie will man das denn nun genau trennen? Gibt es einen Koranvers, der das regelt? Wohl kaum! Ich schließe den Artikel mit folgenden Versen ab:

 

43:15 Und sie stellen Ihm einen Teil von Seinen Dienern (als Seinesgleichen zur Seite). Der Mensch ist ja offenkundig sehr undankbar.

6:155 Und dies ist ein Buch, das Wir (als Offenbarung) hinabgesandt haben, ein gesegnetes (Buch). So folgt ihm und seid gottesfürchtig, auf daß ihr Erbarmen finden möget!

 

Lesenswerte und weiterführende Artikel zu dieser Thematik:

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Gott rechnet anders

Wenn wir nach Beispielen wie etwa Geschichten oder Verse in der Lesung suchen, um eine Auslegung zu überprüfen, müssen wir uns an etwas erinnern: Das in der Lesung vorgeschlagene Wertesystem wird nicht in allen Belangen, sei es soziologisch, kulturell, politisch oder auch wissenschaftlich mit der unsrigen jetzigen Zeit und vor allem unseren eigenen Empfindungen übereinstimmen. Die Offenbarung Gottes wurde in einer menschlichen, also beschränkten Sprache verkündet. Insofern ist es also nur naturgemäß, dass eine Kluft entsteht zwischen dem heutigen Empfinden von Moral, Ethik und Recht, und den Ideen in der Art und Weise, wie sie in der Lesung vermittelt wurden. Diese Kluft hat die oder der Gottergebene dadurch zu überbrücken, indem sie oder er nach bestem Gewissen und Wissen die Lesung studiert, in ihr oder sich aufsaugt, am weltlichen Leben teilnimmt und dann die Ideen der Lesung in die jetzige Zeit überträgt auf der Suche nach dem besten Verständnis und dem, was Gott näher ist (39:18). Ein Professor, der die Lesung auswendig kann, aber am alltäglichen Leben kaum teilgenommen hat, nützt uns genauso wenig wie der erfahrenste Mensch, der das Buch nicht kennt und das Verständnis dessen deshalb mit Traditionen und Kultur vermischt, welche sich als seine eigenen Neigungen zusammenfassen lassen. Nach Beispielen in der Lesung zu suchen bedeutet auch, die Weisheit zu erkennen, sie im Leben selbst zu erblicken und auch die Notwendigkeit zu erkennen, aktuelle Zustände nicht als absolut endgültig anzunehmen. Diese Menschen, die sich selbst von jeglichen gedanklichen und äußerlichen Zwängen befreien, indem sie „Keine Gottheit außer dem Gott“ bezeugen, also nichts Absolutes anerkennen außer den einzigen Absoluten, den Schöpfer, werden in der Lesung als Achtsame (muttaqī) beschrieben, die Achtsamkeit (taqwá) gegenüber Gott üben.

Wir Menschen sind soziale Individuen, die ihre Meinungen mit der Zeit ändern. Doch laut der Lesung ändert sich Gottes Vorgehen nie und ist demnach in irgendeiner uns zugänglichen Form universell.87 Einige Meinungen aber bleiben in uns angeblich wie in Stein gemeißelt in der eigenen Geisteshaltung. Der wichtigste Schritt beim Verstehen der Lesung ist es deshalb, die eigene Meinung nicht Gott überzustülpen und stets bereit zu sein, sich selbst erneut vollends Gott hinzugeben. Schließlich handelt es sich hierbei um die Worte Gottes. Dies liest sich leichter, als dass man es sich bewusst sein mag. Eine Stütze kann der folgende Gedanke bieten: Ich weiß ja bereits, wie ich denke, doch sollte ich vielmehr daran interessiert sein in Erfahrung zu bringen, was Gott von mir will, dass ich denke, fühle und lebe. Wenn ich dann einfach auf Teufel komm raus meine eigene Sicht bestätigt sehen will, so werde ich auch fündig werden und in Ermangelung der Ergebung in Gott denken, Gott wolle dies oder jenes, obwohl es nur meine eigene Sicht ist.

Die Lesung Gottes ist wie ein Spiegel: schaut ein Affe rein, so schaut ein Affe zurück, weil Gott höchstpersönlich die Hochmütigen und Achtlosen vom Verstehen der Lesung abhält (17:45–46, 18:57). Hört jemand der Lesung auch wirklich zu und ändert sich und seinen eigenen Zustand nach der Lebensordnung (dīn), die Gott für uns in der Lesung beschrieb, und stellt sicher, dass er in diesem geänderten Zustand bleibt, so erlangt dieser eher die Barmherzigkeit von Gott (7:204, 13:11, 8:53).

Ich möchte die Überschrift dieses Kapitels mit einem relativ einfachen Beispiel aus dem Evangelium erläutern:

 

Matthäus 20:1-16, Die Arbeiter im Weinberg

„Ich möchte euch ein Gleichnis erzählen“, sagte Jesus. „Ein Weinbauer ging früh morgens Arbeiter für seinen Weinberg anwerben. Er einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn und ließ sie in seinem Weinberg arbeiten. Ein paar Stunden später ging er noch einmal über den Marktplatz und sah dort Leute herumstehen, die arbeitslos waren. Auch diese schickte er in seinen Weinberg und versprach ihnen einen angemessenen Lohn. Zur Mittagszeit und gegen drei Uhr nachmittags stellte er noch mehr Arbeiter ein. Als er um fünf Uhr in die Stadt kam, sah er wieder ein paar Leute untätig herumstehen. Er fragte sie: „Warum habt ihr heute nicht gearbeitet?“ „Uns wollte niemand haben“, antworteten sie. „Geht doch und arbeitet auch noch in meinem Weinberg!“ forderte er sie auf.

Am Abend beauftragte er seinen Verwalter: „Ruf die Leute zusammen und zahle ihnen den Lohn aus! Beginne damit beim Letzten und höre beim Ersten auf!“ Zuerst kamen also die zuletzt Eingestellten, und jeder von ihnen bekam den vollen Tageslohn.

Jetzt meinten die anderen Arbeiter, sie würden mehr bekommen. Aber sie bekamen alle nur den vereinbarten Tageslohn. Da fingen sie an zu schimpfen: „Diese Leute haben nur eine Stunde gearbeitet, und du zahlst ihnen dasselbe wie uns. Dabei haben wir uns den ganzen Tag in der brennenden Sonne abgerackert!“ „Mein Freund“, entgegnete der Weinbauer, „dir geschieht doch kein Unrecht! Haben wir uns nicht auf diesen Betrag geeinigt?

Nimm dein Geld und geh! Ich will den anderen genausoviel zahlen wie dir. Schließlich darf ich doch wohl mit meinem Geld machen, was ich will! Oder ärgerst du dich, weil ich großzügig bin?“ Ebenso werden die Letzten einmal die Ersten sein, und die Ersten die Letzten.“88

 

Das finden wir ungerecht! Das ist ungerecht, mag es auch rechtmäßig zugehen – weltlich gesehen.

Gott ergeben zu sein ist wie eine schwere Arbeit. Wir müssen für die Gerechtigkeit, Liebe, Toleranz, Koexistenz und das Wissen kämpfen, wir müssen also für die Liebe Dschihad üben (uns bemühen).

Was nun im Gleichnis angeprangert wird, ist nicht der Umstand, wie viel effektiv gearbeitet wird, sondern ab wann. Hier ist natürlich zu berücksichtigen, dass ein Arbeiter, der zu einem späteren Zeitpunkt beginnt, unter Umständen effizienter arbeiten könnte als ein anderer, der früher begann. Wir haben jedoch immer die Chance zu Gott zu finden, und dann spielt es keine Rolle, ob wir bei den Ersten oder bei den Letzten sind. Es spielt für Gott keine Rolle, wann wir den Glauben annehmen, solange wir direkt Seinem Ruf, Seiner Einladung folgen. Gott rechnet anders als wir, was den Glauben angeht. Wenn wir also die Möglichkeit haben, sollten wir sie ergreifen und der Lohn steht uns zu, ganz gleich, in welchem Alter wir sind. Im Gleichnis die Arbeitswelt als Metapher zu verwenden ist wirklich trefflich.

Es ist von entscheidender Bedeutung, im richtigen Moment ein Gottergebener zu werden, falls Gott und Seine Botschaft erkannt wurden, und ebenso als einer zu sterben. Denn, wie kann Gott die Menschen bestrafen, die zuvor noch keinen wahrhaftigen Zeichen Gottes begegnet sind? Nein, Gott vergibt denjenigen, die sich im entscheidenden Moment, auch wenn kurz vor dem Tod, Gott ergeben. Dies finden wir auch in der Lesung bestätigt bei den Illusionisten aus der Zeit Pharaos, die erst kurz vor ihrem Tod Gottergebene wurden und als solche dann starben, weil Pharao sie hinrichten ließ für ihre Untreue an ihm:

 

7:118-126 Bewiesen war die Wahrheit, und ihr Trugwerk war entlarvt. So wurden sie dort besiegt und kehrten danach erniedrigt um. Und die Zauberer trieb es, in Anbetung niederzufallen. Sie sprachen: „Wir glauben an Gott, den Herrn der Welten, den Herrn von Moses und Aaron…“ Pharao sprach: „Glaubt ihr wirklich an Ihn, bevor ich es euch erlaube? Das ist eine Verschwörung, die ihr in der Stadt geschmiedet habt, um ihre Bewohner zu vertreiben. Ihr werdet bald wissen, wie ich eure Untat bestrafen werde. Ich werde eure Hände und Füße wechselseitig abhacken und euch alle zusammen kreuzigen.“ Sie sagten: „Wir werden (sowieso) zu unserem Herrn zurückkehren. Du nimmst uns nur übel, dass wir an die Zeichen Gottes, unseres Herrn, glaubten, als sie uns erreichten. Gott, unser Herr, gewähre uns viel Geduld und nimm uns als Gottergebene zu Dir!“

 

"In Gott vertraue ich und handle treu" (König Wilhelm I. von Württemberg)

Foto: Michael Molthagen , CC BY-NC-SA 2.0

Einige der LeserInnen mögen an dieser Stelle einwenden, dass sie ja dann tun und lassen können, was sie wollen, über die Schnur hauen, jeglicher Moral keines Blickes würdigen und allen Menschen im Umfeld Unrecht tun – und wenn sie dann alt seien, würden sie fromm und tiefgläubig werden. Wenn ich sage: Morgen ändere ich mein Leben – dann habe ich heute schon verloren. Woher weiß ich, ob es mich morgen noch gibt? Was, wenn ich morgen die Steine nicht mehr aus dem Weg räumen kann?

Wir erhalten mindestens das, was wir verdienen, doch im Grunde gewinnen wir mehr, als es unser Verdienst uns erlauben würde. Gott lässt Gnade vor Recht ergehen – bei uns allen. Denn würde Gott Recht vor Gnade walten lassen, würde Folgendes geschehen:

 

16:61 Und wenn Gott die Menschen wegen ihrer Frevelhaftigkeit belangen würde, würde er auf der Erde kein Lebewesen übriglassen. Aber er gewährt ihnen auf eine bestimmte Frist Aufschub. Kommt das festgesetzte Ende, kann niemand es weder vorverlegen noch aufschieben.

35:45 Und wollte Gott die Menschen strafen für alles, was sie tun, Er würde nicht ein Lebewesen auf der Oberfläche (der Erde) übrig lassen. Doch Er gewährt ihnen Aufschub bis zu einer bestimmten Frist. Und wenn ihre Frist eingetroffen ist, so ist Gott doch immer Seinen Dienern gegenüber sehend.

 

Insofern sehen wir ein, dass unser Empfinden nicht der Moral der Lesung entspricht und Gott eben anders rechnet als wir.89 Sind wir also geistig faul und träge und denken, die Wahrheit würde sich uns anpassen, statt dass wir uns der Wahrheit anzupassen haben, so werden wir aufgrund der selbstverschuldeten Achtlosigkeit die Rechtleitung verpassen und können uns zu den Verlierern zählen, die lediglich meinten, sie seien rechtgeleitet (18:103–104). Als Gottergebene müssen wir gegenüber uns selbst ständig Ehrlichkeit üben, um nicht anders zu rechnen als Gott es tut; wir haben stets an etwas zu knabbern – kurz gesagt: Es gibt immer einen Dschihad, also eine Anstrengung.

 

Römer 9:18-21 So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will. Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?

Koran 6:88 Dies ist die Rechtleitung Gottes, damit leitet ER recht, wen ER will von Seinen Dienern.

2. Thessalonicher 2:11-12 Darum sendet ihnen Gott die Macht der Verführung, so dass sie der Lüge glauben, damit gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit.

Koran 6:112-113 Wir haben den Feinden – die Satane (aus den Reihen) der Menschen und der Djinn – von jedem Propheten erlaubt, zum Trug eingebildete Wörter zu gebrauchen. Und hätte dein HERR es gewollt, hätten sie es nicht getan. Also lass ab von ihnen und ihren Erfindungen. Und das Herz derer, die nicht ans Jenseits glauben, sollen solchen Erfindungen zuhören und sie akzeptieren, damit ihre wahren Überzeugungen aufgedeckt werden.

Jeremia 18:3-6 Und ich ging hinab in des Töpfers Haus, und siehe, er arbeitete eben auf der Scheibe. Und der Topf, den er aus dem Ton machte, missriet ihm unter den Händen. Da machte er einen andern Topf daraus, wie es ihm gefiel. Da geschah des HERRN Wort zu mir: „Kann ich nicht ebenso mit euch umgehen, ihr vom Hause Israel, wie dieser Töpfer?“ spricht der HERR. Siehe, wie der Ton in des Töpfers Hand, so seid auch ihr vom Hause Israel in meiner Hand.

Koran 45:23 Hast du den gesehen, der sich seine eigene Neigung zum Gott nimmt und den Gott auf Grund (Seines) Wissens zum Irrenden erklärt und dem Er Ohren und Herz versiegelt und auf dessen Augen Er einen Schleier gelegt hat? Wer sollte ihn außer Gott wohl richtig führen? Wollt ihr euch da nicht ermahnen lassen?

Koran 18:57 Und wer ist ungerechter als der, der an die Zeichen seines Herrn gemahnt wurde, er wandte sich aber ab von ihnen und vergaß, was seine Hände vorausgeschickt hatten? Wahrlich, Wir haben Schleier über ihre Herzen gelegt, so daß sie es nicht begreifen, und Taubheit in ihre Ohren. Und selbst wenn du sie zum rechten Weg rufst, werden sie nie den rechten Weg einschlagen.

Jesaja 29:16 Wie kehrt ihr alles um! Als ob der Ton dem Töpfer gleich wäre, dass das Werk spräche von seinem Meister: Er hat mich nicht gemacht! und ein Bildwerk spräche von seinem Bildner: Er versteht nichts!

Jesaja 45:9-12 Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht denn der Ton zu seinem Töpfer: Was machst du? und sein Werk: Du hast keine Hände! Weh dem, der zum Vater sagt: Warum zeugst du? und zum Weibe: Warum gebierst du? So spricht der HERR, der Heilige Israels und sein Schöpfer: Wollt ihr mich zur Rede stellen wegen meiner Söhne? Und wollt ihr mir Befehl geben wegen des Werkes meiner Hände? Ich habe die Erde gemacht und den Menschen auf ihr geschaffen. Ich bin’s, dessen Hände den Himmel ausgebreitet haben und der seinem ganzen Heer geboten hat.

Hiob 40:2 Mit mir dem Mächtigen willst du dich streiten? Willst du mich tadeln oder gibst du auf?

Koran 6:39 Die aber Unsere Zeichen leugnen, sind taub und stumm in Finsternissen. Gott führt, wen Er will, in die Irre, und wen Er will, den führt Er auf einen geraden Weg.

Koran 6:110 Wir lassen ihre Herzen und ihren Verstand hin und her schwanken, weil sie schon beim ersten Mal nicht glauben wollten. So verharren sie in der Ableugnung, und schlagen sich so weiter im Irrtum herum.

2. Mose 33:19 Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.

Thema des Monats März 2014: Autoritäten – wer kontrolliert Ihre Gedanken?

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

Der Frieden sei mit euch liebe Leserinnen und liebe Leser, und Gottes Barmherzigkeit wie sein Segen!

So Gott will werden wir jeden Monat ein ausgewähltes Thema unseren Lesern zum Kommentieren anbieten. Damit möchten wir unseren Lesern die Möglichkeit geben, Einblicke zu erhalten, wie unterschiedlich die Menschen zum selben Thema denken können. Ähnlich einer Pinnwand, an der wir unsere Gedanken “pinnen” können. Einfach am besten spontan antworten!

 

Thema des Monats März 2014: Autoritäten – wer kontrolliert Ihre Gedanken?

Es gibt eine Krankheit, besonders bei einer überwältigenden Mehrheit der Mainstream-Muslime, die bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt die Vernunft nur soweit akzeptieren, wie sie ihre Weltsicht nicht gefährdet. So gibt es die Redewendung bei traditionalistischen Muslimen, die das selbständige Denken kritisieren, welche „die Überlieferung ist höher als die Vernunft“ lautet (an-naql ‚ala al-aql). Dieser Spruch besagt, dass die Vernunft an sich nicht die Wahrheiten erkennen könne, die doch schon bereits in der Tradition (Überlieferung) vorgedacht (vorgekaut) und niedergeschrieben wurden. So werden die früheren Gelehrten und ihre Werke zu Autoritäten erhoben, die bewusst oder unbewusst als Quellen der Weisheit fungieren und stellvertretend für uns denken.

 

9:31 Sie nahmen sich ihre Gelehrten und ihre Mönche als Herren anstelle Gottes, auch den Messias, den Sohn Marias. Und ihnen wurde nichts befohlen, außer einem einzigen Gott zu dienen. Kein Gott außer ihm. Gepriesen ist er über das, was sie beigesellen

 

Um diesen Einfluss loszuwerden, müssen wir zuerst den Irrglauben über den Haufen werfen, dass der Mensch stets jemand anderen bräuchte, der ihm die Angelegenheit X erklären muss, weil er selbst nicht dieselben „Fähigkeiten“, dieselbe „Intelligenz“ oder „Erfahrung“, dasselbe „Wissen“ oder dergleichen besitze. Um sich gedanklich zu befreien von solchen auferlegten Zwängen gibt es eine einfache Lösung: es gibt nur eine absolute, unhinterfragbare Autorität, nämlich Gott, weshalb das Glaubensbekenntnis, die Shahadah „la ilaha illa Allah“ auch wie folgt verstanden werden sollte:

Keine Autorität außer dem Gott

Widersprechen wir dieser Sichtweise, akzeptieren wir unbewusst oder auch bewusst andere Wesen neben Gott als Autoritäten über uns.

Jemand anderes kann Ihr Denken kontrollieren, wenn Sie nicht selbst das Steuerrad Ihres Denkens in der Hand halten. Woher und wieso akzeptieren wir eigentlich hervorgebrachte Definitionen von Wörtern wie „Terror“, „Demokratie“, „Freiheit“. Vieles von dem, was wir glauben, ist doch nur eine übergestülpte Ansicht der Meinungen von anderen, die wir nicht durch tiefere Einsicht gewonnen haben, oder etwa doch? Aufmerksamkeit und Bewusstsein sind die Stichworte, um diesem Effekt entgegenzutreten. Es gibt nämlich nicht nur „das“ Verständnis einer Sache, sondern ein Verständnis unter vielen, welches sich zusätzlich über Zeit noch ändern wird.

 

17:36 Und geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Augenlicht und Verstand, – für all das wird Rechenschaft verlangt.

 

Es ist doch tatsächlich so, dass das eigenständige Denken zu besseren Lösungen führt, das Auferzwingen von Meinungen im besten Falle verschwinden lässt und mehr zu einem „miteinander“ anleitet – ein sowohl-als auch statt einem entweder-oder. Wie befreit ihr euren Geist und eure Vernunft?

Die Geschichte von Moses und dem Gottesdiener

Eine im Koran sehr interessante Geschichte ist die Geschichte von Moses und einem Diener Gottes. Dieser Diener wird nicht näher benannt, doch es wurde ihm Wissen von Gott gegeben:

Dann fanden sie einen Unserer Diener, dem Wir Unsere Barmherzigkeit verliehen und den Wir Unser Wissen gelehrt hatten. [18:65]

Moses sagte zu ihm: „Darf ich dir folgen, auf dass du mich über das rechte Handeln belehrst, wie du gelehrt worden bist?“ [18:66]

Er sagte: „Du vermagst nimmer bei mir in Geduld auszuharren. [18:67]

Und wie könntest du bei Dingen geduldig sein, von denen dir keine Kunde gegeben worden ist?“ [18:68]

Er sagte: „Du wirst mich, so Allah will, geduldig finden, und ich werde gegen keinen deiner Befehle ungehorsam sein.“ [18:69]

Er sagte: „Nun gut. Wenn du mir folgen willst, so frage mich nach nichts, bis ich es dir von selbst erkläre.“ [18:70]

So machten sich beide auf den Weg, bis sie in ein Schiff stiegen, in das er ein Loch schlug. Er (Moses) sagte: „Schlugst du ein Loch hinein, um seine Mannschaft zu ertränken? Wahrlich, du hast etwas Schreckliches begangen!“ [18:71]

Er sagte: „Habe ich nicht gesagt, du würdest es nimmer fertigbringen, bei mir in Geduld auszuharren?“ [18:72]

Er (Moses) sagte: „Stelle mich nicht meines Vergessens wegen zur Rede, und sei deswegen nicht streng mit mir.“ [18:73]

So zogen sie weiter, bis sie einen Jüngling trafen, den er erschlug. Er (Moses) sagte: „Hast du einen unschuldigen Menschen erschlagen, ohne dass (er) einen anderen (erschlagen hätte)? Wahrlich, du hast etwas Verabscheuliches getan!“ [18:74]

Er sagte: „Habe ich dir nicht gesagt, du würdest es nimmer fertigbringen, bei mir in Geduld auszuharren?“ [18:75]

Er (Moses) sagte: „Wenn ich dich nochmal nach etwas frage, so begleite mich nicht weiter; von mir aus wärst du dann entschuldigt.“ [18:76]

So zogen sie weiter, bis sie bei den Bewohnern einer Stadt ankamen und von ihnen Gastfreundschaft erbaten; diese aber weigerten sich, sie zu bewirten. Nun fanden sie dort eine Mauer, die einzustürzen drohte, und er richtete sie auf. Er (Moses) sagte: „Wenn du es gewollt hättest, hättest du einen Arbeitslohn dafür erhalten können.“ [18:77]

Er sagte: „Dies führt zur Trennung zwischen mir und dir. Doch will ich dir die Bedeutung von dem sagen, was du nicht in Geduld zu ertragen vermochtest. [18:78]

Was das Schiff anbelangt, so gehörte es armen Leuten, die auf dem Meer arbeiteten, und ich wollte es beschädigen; denn hinter ihnen war ein König, der jedes Schiff beschlagnahmte. [18:79]

Und was den Jüngling anbelangt, so waren seine Eltern Gläubige, und wir fürchteten, er könnte Schmach durch Widersetzlichkeit und Unglauben über sie bringen. [18:80]

So wollten wir, dass ihr Herr ihnen zum Tausch (ein Kind) gebe, das redlicher als dieses und anhänglicher wäre. [18:81]

Und was nun die Mauer anbelangt, so gehörte sie zwei Waisenknaben in der Stadt, und darunter lag ein Schatz für sie (verborgen), und ihr Vater war ein rechtschaffener Mann gewesen; so wünschte dein Herr, dass sie ihre Volljährigkeit erreichen und ihren Schatz heben mögen – als eine Barmherzigkeit deines Herrn; und ich tat es nicht aus eigenem Ermessen. Das ist die Bedeutung dessen, was du nicht in Geduld zu ertragen vermochtest.“ [18:82]

Bei dieser Geschichte handelt es sich um die Verdeutlichung genau einer Sache,  nämlich dass nichts so sein muss, wie es auf den ersten Blick scheint. Dies zu berücksichtigen hilft zu erkennen, dass der Mensch gar nicht in der Lage ist, die Geschehnisse, auf die er keinen Einfluss hat in ihrer letzten Konsequenz als gut oder schlecht zu bewerten. Gott steuert alles und es kann auch sein, dass eine augenscheinlich schlechte Tat in sich einen guten Kern trägt. Dies zu begreifen ist sehr schwierig, vor allem dann, wenn man bereits über ein festgefügtes Weltbild verfügt und einem der Blick für das Verborgene fehlt. Selbst die Propheten kennen nicht das Verborgene. Dies ist nur Gott bekannt und denjenigen, denen er dieses Wissen zu Teil werden lässt. Dies verdeutlicht auch die allegorische Bedeutung dieser Geschichte, denn niemand von uns kann behaupten, er habe Kenntnisse über das Verborgene. Meist sind wir Betroffene und Beobachter: wir sehen, dass ein Kind stirbt und halten es für ein grundsätzlich negatives Ereignis. Dies ist es auch, doch nicht im Lichte der Barmherzigkeit Gottes, denn womöglich wird dadurch ein noch viel größeres Leid verhindert.

Überlegen wir einmal: Der Fremde tötet einen Jüngling. Entweder ist der Jüngling ein guter Mensch, so erwartet er das Paradies und ist aller Prüfungen ledig. Für ihn eine an sich positive Situation. Dies sollten – bei aller Trauer – auch die Eltern nicht vergessen. Doch ist er ein schlechter Mensch, so ist sein Tod letztlich doch eine Erleichterung für die Eltern, die sie auf Grund des Trennungsschmerzes gar nicht wahrnehmen können, doch wird sie Gott letztlich darüber informieren, worüber sie sich grämten.

Der eine oder andere übereifrige Gläubige mag möglicherweise nun dazu neigen, in einer solchen Geschichte eine Aufforderung dazu sehen, plötzlich Dinge zu zerstören oder gar Menschen zu töten, wenn er bestimmte Dinge bzw. Situationen erwartet. Dies wäre jedoch eine grundfalsche Interpretation, denn es besteht ein Unterschied zwischen der Kenntnis und der Vermutung. In Vers 65 erfahren wir, dass der Fremde Wissen von Allah hatte. Wie anders hätte er erahnen können, wem das Schiff gehört und dass ein König Schiffe beschlagnahmt? Er wusste es nicht, doch Allah wusste dies.

Ebenso verhält es sich mit dem Jüngling. An dieser Stelle wird sogar der Plural (18:80) benutzt, während ein Vers zuvor der Fremde noch auf eigene Faust handelt, wenn er das Schiff zerstört. Man kann also sagen, dass in Vers 79 das Wissen durch eigene Taten genutzt wird, für die kein direkter Befehl Gottes vorhanden ist, während in Vers 80 der Fremde lediglich den Befehl Gottes ausführt.

Denselben Fall haben wir bei dem Schatz. Es wäre Anmaßend gewesen für den Fremden, zu entscheiden, ob nun der Vater oder die Kinder den Schatz finden sollten, da er nicht weiß, was die Zukunft bringt. Womöglich wäre der Vater ob des Reichtums dem Konsum verfallen und hätte alles verschwendet. Doch der Fremde stellt klar, dass er auch hier nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hat:

„[…]und ich tat es nicht aus eigenem Ermessen.[…]“

Damit wird noch einmal ganz deutlich, dass diese Geschichte nur eine Parabel ist, die uns Demut gegenüber den Entscheidungen des Herrn lehrt. Ohne diese Demut würden wir es bei unserem Herrn nämlich nicht aushalten können, weil wir daran verzweifeln würden, da wir es  nicht greifen können. Wir stranden stattdessen bei der Frage, wieso Gott „Böses“ zulässt. Wieso er uns dieses oder jenes antut. Doch in Wahrheit ist es nur unser Denken, dass es zu etwas Bösem macht, doch alles, was Allah bestimmt ist in letzter Konsequenz doch gut und irgendwann wird Gott uns dies Deutlich machen, so wie der Fremde es auch Moses verspricht:

„[…]Wenn du mir folgen willst, so frage mich nach nichts, bis ich es dir von selbst erkläre.“