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Bücher Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Schlusswort

Mit der hier vorgestellten exegetischen Vorgehensweise eröffnen sich teils bekannte, teils neue Betrachtungsweisen. Dieses Buch ist so Gott will das erste Buch in einer Reihe von weiteren Büchern zum Verständnis der Lesung für unsere heutige Zeit.

Wichtige Themen wie das Kontaktgebet (salāh), die Läuterung (zakāh) und die Pilgerfahrt zur Debatte (ḥadsch) müssen ebenso umfassend analysiert und zusammengestellt werden. Ein Teil dieser Analysen sind bereits auf unserer Webseite alrahman.de verfügbar.

Die islamische Theologie könnte durch interdisziplinäre Arbeiten sehr viel profitieren und sich so wiederfinden in der Fortsetzung der Blütezeit der Gottergebenheit. So zum Beispiel durch Beiträge von Logikern, die die Aussagen der Lesung logisch aufschlüsseln und analysieren. Genauso können weitere Aspekte zu weiteren Einsichten führen, wie etwa die musikalische Komponente der Lesung. Ein weiteres wichtiges Gebiet wäre eine zeitgenössische Rechtsfindung für unsere heutige Zeit ohne den unnötigen Ballast aus dem Mittelalter. Notwendig sind meines Erachtens insbesondere die Ausformulierung einer gottgefälligen Ökologie (Achtung der Schöpfung Gottes bei gleichbleibender Lebensqualität), gerechten Ökonomie (keine moderne Sklaverei im Großen durch Staatsverschuldung und im Kleinen durch zurückzuzahlende Zinsen auf Schulden bei bedürftigen Menschen), koranische Staatstheorie (eine verbesserte allgemeine Erklärung der Menschenrechte und eine verbesserte Form der Demokratie) und von theologisch begründeten Antworten zu Fragen der Bioethik und der Wissenschaftsethik allgemein, die sich aufgrund neuer Technologien stellen.

Die Zeitverschwendung mit der Auseinandersetzung von erfundenen, der Aufklärung im Weg stehenden und wissenschaftlich oft unhaltbaren und dem Propheten zugeschobenen Aussprüchen (aḥādīṯ) entfällt, wenn der Monotheismus wirklich gelebt wird, indem Gottes Wort allein als Quelle der Lebensordnung herangezogen wird.

Die in diesem Buch angeführten Beispiele können alle weiter behandelt und somit um die nötige Tiefe erweitert werden, um der Bedeutungsvielfalt der Passagen aus der Lesung gerecht werden zu können.

Ebenso muss ein Diskurs stattfinden, um die in der Lesung verwendeten arabischen Begrifflichkeiten ins Deutsche zu übertragen, ohne ihren Sinn zu entstellen. Wir können die Menschen nicht zwingen, dass sie zuerst Arabisch lernen müssen, um überhaupt erst in der Lage zu sein, die Lebensordnung Gottes kennenzulernen. Die mühselige Erklärungsnot entfällt für das Wort Muslim, wenn man einfach die deutsche Entsprechung Gottergebener verwendet. Das Verständnis ist gegeben, auch ohne dass man Arabisch können oder kennen muss.

Genauso muss die gottergebene Aufklärung theologisch untermauert werden, wie etwa durch den Ansatz, dass die eingesetzten Wissenschaften eine Begründung und Beweise für die Zeichen Gottes darstellen. Gleichzeitig muss betont werden, dass wenn wir Wissenschaft betreiben, wissenschaftliche Exzellenz das Mindestmaß sein muss, um gegen Gott keine Lügen zu erdichten. Gegen Gott Lügen zu erdichten ist eine offenkundige Sünde (4:50) und eine Handlung der Ungerechtigkeit (6:21). Wenn sich also eine wissenschaftliche Theorie als falsch erweist, so stellt dies eine gegen Gott erdichtete Lüge dar, da Gottes Wirken und Seine Gesetze und Zeichen in der Schöpfung mit einer falschen Theorie beschrieben wurde, was ein Gottergebener niemals dulden darf. Genauso darf eine wissenschaftliche Theorie nicht pauschal ohne tiefgründige Analyse oder Falsifizierung abgelehnt werden, da man ansonsten Gefahr läuft, ein mögliches Zeichen Gottes aus der Natur vorschnell abzulehnen (angelehnt an 10:38–39). Dies wird in 7:37 auch als Akt der Ungerechtigkeit beschrieben. Genauso müssen wir die Wissenschaft dahingehend vorantreiben, dass es den Dienst am Menschen in den Vordergrund rückt. Die Wissenschaft darf nicht rein der Technologie zuliebe vorangetrieben und danach dem Menschen indirekt aufgezwungen werden.

Alles in allem ist die Lesung Gottes Licht für uns in der Dunkelheit, in der wir uns Gottergebene gerade befinden. Die Aḥādīṯ verdunkeln uns den Weg noch, doch wir stehen am Anfang einer aufregenden, vielversprechenden Zeit, in der die Gottergebenen so Gott will beginnen werden, Gottes Wort wieder lebendig zu machen, damit diese die Gesellschaften, in denen sie leben, bereichern und vorantreiben.

Möge uns Gott leiten und nicht vom rechten Weg abführen und uns lehren, uns nicht durch Gelehrten oder sonstige Geistliche, die im Namen Gottes predigen und lehren, täuschen zu lassen.

Möge uns Gott den Dienst am Menschen durch seine Lebensordnung der Gottergebenheit lehren.

Möge uns Gott lehren, der Eigenschaft gottergeben würdig zu sein.

Cover Schlüssel zum Verständnis des Koran

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Offene Fragen

Jede Methodik hat ihre Stärken und Schwächen. Auch wenn ich von der Stärke der Methodik überzeugt bin und sie meines Erachtens künftig neue Wege eröffnen wird für klassische Richtungen wie die Rechtsfindung (uṣūlu-l-fiqh), so werde ich mit der Methodik nicht alle Fragen klären können. Wir haben einerseits das nützliche Wissen älterer Gelehrten wie zum Beispiel Taqī ad-Dīn Aḥmad b. Taymīya aufzugreifen und es um das Verständnis der Lesung zu erweitern. Nichtsdestotrotz müssen wir eine klare Trennung vornehmen zwischen den in der Lesung behandelten Themen und den Themen, die außerhalb der Schrift diskutiert werden. Ansonsten sehen wir uns mit der menschenverachtenden und anti-gottergebenen Problematik konfrontiert, die wir beispielsweise beim als authentisch eingestuften Ausspruch „man baddala dīnahu faqtulūhu“ (tötet den, der seine Religiön ändert) aus Buchārī erhalten.

Natürlich wird meine Methodik nicht alles erklären können und deshalb möchte ich zwei Beispiele aus den vielen vorhandenen anführen, wonach ich immer noch zu keiner Lösung gelangt bin und keine zufriedenstellende Antwort in der Interpretation fand. Ich vertraue aber darauf, dass Gott mir irgendwann in der Zukunft die Antworten gibt, so Gott will (20:114).

So Gott will werden vielleicht einige Leser dadurch angestoßen, diese Fragen weiter zu studieren und finden unter Umständen gerade dadurch die Antworten?

 

Unterschied von ʿām und sanah

In der Lesung gibt es zwei unterschiedliche Wörter, die für das Wort „Jahr“ verwendet werden:

  • ʿām (Wurzel ʿayn-wāw-mīm: 2:259, 9:28, 9:37, 9:126, 12:49, 29:14, 31:14),
  • sanah, pl. sinīn (Wurzel sīn-nūn-wāw: 2:96, 2:259, 5:26, 7:130, 10:5, 12:42, 12:47, 17:12, 18:11, 18:25, 20:40, 22:47, 23:112, 24:43, 26:18, 26:205, 29:14, 30:4, 32:5, 46:15, 70:4).

Im Moment können wir keine wirkliche Erklärung liefern, wieso es in der Schrift Gottes diese beiden unterschiedlichen Wörter gibt, die beide dasselbe meinen sollten.

Es gibt jedoch zwei Ansätze, die wir während der Erstellung der Hanif-Übersetzung erarbeitet haben.

  1. Möglicherweise wird mit diesen beiden Worten der Unterschied zwischen einem lunaren und solaren Jahr verdeutlicht.
  2. Wird womöglich das eine Wort (ʿām) eher für ein gutes, das andere eher für ein schlechtes Jahr (sanah) gebraucht?

Zum ersten Ansatz: Laut der Lesung gelten beide Kalenderformen (10:5, 55:5). So wäre ʿām für ein Mondjahr gedacht und sanah für ein Sonnenjahr. Dies begründet sich auf den Vers 17:12, wonach das Tageslicht mit der Anzahl an Sanah-Jahren zusammen erwähnt wird, die Sonne also mit sanah in Verbindung gebracht wird. Interessant und gleichzeitig problematisch für diese Betrachtung ist in dieser Hinsicht Vers 29:14, in dem beide Wörter vorkommen und nach welchem Noah 1000 Sonnenjahre minus 50 Mondjahre unter den Menschen verweilt haben soll. In Anbetracht dieser Zahl lässt sich also diese Variante hinterfragen, doch könnte mit dieser Zahl nicht die Lebensdauer gemeint sein, sondern unter Umständen die zeitliche Wirkungsreichweite der Botschaft von Noah?

Hier gibt es auch noch zusätzlich die Anmerkung gewisser Kommentatoren, dass in älteren Kulturen das Wort „Jahr“ für einen Monat nach unserem Verständnis gebraucht wurde. Insofern wären 1000 „Jahre“ also gerundet 83 Jahre nach unserem Verständnis.

Doch in 10:5 wird das Wort sinīn für beide Jahresberechnungen genommen, was diesen Ansatz wiederum in Frage stellt. Für den Moment übersetzen wir in unserer Hanif-Übersetzung die Begriffe nach diesem Ansatz.

Zum zweiten Ansatz: Die Grundlage für diese Betrachtung ist vor allem das zwölfte Kapitel der Lesung. Die Verse 12:47–49 gebrauchen die Wörter spezifisch auf eine bestimmte Bedeutung ausgerichtet:

 

12:47–49 Er sagte: Ihr baut fortwährend sieben Jahre (sinīn) an. Was ihr erntetet, lasst in seinen Ähren, außer ein wenig von dem, was ihr verzehrt. Dann kommen danach sieben harte, die das verzehren, was ihr dafür vorbereitetet, außer ein wenig von dem, was ihr aufbewahrt. Dann folgt darauf ein Lunarjahr (ʿām), in dem den Menschen geholfen wird und in dem sie beregnet werden und sie pressen

 

Auch der Vers 7:130 lässt diesen Ansatz plausibel erscheinen:

 

7:130 Und wir ergriffen bereits die Leute Pharaos mit Jahren (sinīn) mit Mangel an Früchten, auf dass sie sich entsinnen.

 

Mit diesem Ansatz ließe sich auch 29:14 erklären, wonach die Zeitspanne als Sprichwort aufgefasst werden kann: Noah verbrachte nur eine kurze Zeit der Erleichterung und der Güte, wobei die Zeit der Erschwernis viel länger dauerte. Hierbei wird auch davon ausgegangen, dass die Zahl 1000 auf Arabisch auch stellvertretend für „viel“ gebraucht werden kann. Doch dann lässt sich wiederum hinterfragen, wie man in einem durchschnittlich 80–100 (Sonnen)jahre andauernden Menschenleben die 50 jährige, gute Zeitspanne als kurz bezeichnen kann? Oder man nimmt an, dass die 50 Jahre im Gegensatz zum „viel“ dann ebenso einfach die „kleine Zahl neben 1000“ meint. Damit hätten wir keine Informationen mehr in Zahlen, sondern nur noch in der Bedeutung: Ein Großteil seines Lebens war bis auf einen kleinen Teil mühselig.

Beide Ansätze haben ihre Schwächen und müssen deshalb genauer untersucht werden. Die in diesem Buch vorgestellte Methodik hat mich bislang noch zu keinem klaren Ergebnis geführt.

 

Gottes Schwören in der Lesung

Es gibt zahlreiche Verse in der Lesung, nach denen Gott schwört. Was bedeutet das Schwören bei Gott? Wieso sollte der Schöpfer schwören?

 

89:1–5 Beim Morgenanbruch, bei den zehn Nächten, beim Ergänzenden und Anschließenden und bei der Nacht, wenn sie zurückgeht! Ist darin ein Schwur für einen sich Besinnenden?

 

Gleichgültig wie der arabische Begriff qasam für Schwur übersetzt wird, ob Schwur, Eid oder Gelöbnis, so ergibt sich stets dieselbe Problematik. Betrachten wir die 33 Stellen in der Lesung aus den 31 Versen136, so kommt die Wurzel wie folgt vor:

  • Zweimal als erster Verbstamm qasama (قسم) in 43:32: verteilen.
  • Einmal als dritter Verbstamm qāsama (قاسم) in 7:21: schwören, mitteilen (Ansicht verteilen), Anteil haben.
  • Zwanzigmal als vierter Verbstamm aqsama (أقسم): schwören, Mitteilung veranlassen, Anteil zu haben veranlassen.
  • Einmal als sechster Verbstamm taqāsama (تقاسم) in 27:49: untereinander verteilen.
  • Zweimal als das Nomen qasam (قسم) in 56:76 und 89:5: Schwur, Mitteilung.
  • Dreimal als das Nomen qismah (قسمة) in 4:8, 53:22 und 54:28: Anteil, Teilung, Teil.
  • Einmal als das passive Partizip des ersten Verbstammes maqsūm (مقسوم) in 15:44: geteilt.
  • Einmal als das plurale aktive Partizip des zweiten Verbstammes muqassimāt (مُقَسِّمَٰت) in 51:4: verteilenden.
  • Einmal als das plurale aktive Partizip des achten Verbstammes muqtasimīn (مُقْتَسِمِين) in 15:90: Die Geteilten.

Allgemein ist die sprachliche Bedeutung von der Wurzel q-s-m eher teilen, aufteilen, unterteilen, Anteil haben als schwören. So gibt es auch Wörter wie qism (pl. aqsām), die auch auf Türkisch noch verwendet werden (kısım) und Abteilung, Ausschnitt, Bestandteil, Sektion, Stück oder Teil bedeuten. Von einem Schwur ist weit und breit nirgends die Rede. Die Bedeutung „schwören“ hat sich sehr wahrscheinlich dadurch gebildet, dass man sich selbst an das Gesagte binden wollte, also seinen Anteil an der Sache haben wird. Deshalb heißt auf Arabisch qasīm auch nicht Schwörender, sondern vielmehr Partner, der seinen Anteil an der Sache hat, oder auch Teilnehmer. Die Wurzel lässt sich also mit dem Wortstamm „teil“ umschreiben (aufteilen, zuteilen, verteilen, …).

Nebst dieses klaren Bedeutungsschwerpunktes der Wurzel sahen wir uns im Hanif-Team im Zuge unserer Übersetzung noch mit folgendem Problem konfrontiert: Es gibt Verse, die werden grammatikalisch speziell behandelt, obwohl die Grammatik einfach und klar und keine Sonderbehandlung der Verse nötig ist. Gemeint ist die Verneinung des Verbs in folgendem Vers:

 

70:40 So schwöre ich nicht beim Herrn der Aufgänge und der Untergänge, da wir gewiss dazu fähig sind

 

Betrachten Sie nur einmal die Übersetzungen der anderen Übersetzer. Dieser Vers wird fast einstimmig mit einem „Nein“ eingeleitet in den übrigen Übersetzungen. Der Schwur wird nicht mehr verneint:

 

70:40 Nein, Ich schwöre beim Herrn der östlichen und der westlichen Gegenden, Wir haben dazu die Macht,137

 

In der Lesung gibt es acht Verse in dieser Form (56:75, 69:38, 70:40, 75:1, 75:2, 81:15, 84:16, 90:1). Dabei ist die Grammatik doch sehr einfach: lā uqsim. Ein Verb in der Gegenwart wird verneint, indem das Verneinungspartikel lā vorangestellt wird. Die Bedeutung ist also klar: Ich schwöre nicht / ich teile nicht mit.

Natürlich gibt es die Erklärungen alter Kommentatoren wie Ibn Kaṯīr, von dem ich gelinde gesagt nicht viel halte, oder Zamachscharī (gest. 1143) oder auch die Erklärung in Lisān al-ʿarab, die diese Verse erläutern, dass damit ganz sicher ein „ich schwöre“ gemeint sei. In Kapitel lām in lisān al-ʿarab steht das Beispiel aus Vers 75:1 und wird so kommentiert, dass es unter den Menschen keine Uneinigkeit gegeben habe in der Bedeutung dieses Verses als „ich schwöre beim Tag der Auferstehung“.138 Zamachscharī hingegen sieht in dem Ausdruck „lā“ auch eine erhöhte Verstärkung der Bedeutung (مزيدة مؤكدة), womit die Bedeutung in etwa als „Nein, ganz bestimmt schwöre ich!“139 wiedergegeben werden könne. Er gibt hierfür Vers 57:29 als Beispiel an, ohne diesen Vers wiederum weiter zu erklären. Des Weiteren wird das Verneinungspartikel auch als nichtssagender Zusatz verstanden. Dieses Phänomen ist bekannt als redundante Negation oder als pleonastische Verwendung (laghw). Das heißt, dass man diese Verneinungszusätze genauso gut auslassen könnte, da sie keine zusätzliche Information im Satz tragen. Doch wieso sollte Gott aus rhetorischen Gründen eine nichtssagende Verneinung einsetzen? Wieso gerade bei so einem gewichtigen Verb wie schwören?

Darüber hinaus gibt es die Behauptung, dass am Anfang eines Satzes diese Verneinung als ein Ausdruck der Antwort auf etwas Vorhergehendes verstanden werden sollte.140 Dabei spiele es auch keine Rolle, wenn das Verneinungspartikel am Anfang eines Kapitels steht, denn die gesamte Lesung sei auch als Einheit aufzufassen.

Diese Erklärungen sind sehr mager begründet, denn einerseits ist ein Argument wie die Behauptung „keine Uneinigkeit unter den Menschen“ geradezu sinnlos und historisch gesehen falsch, andererseits begründet Zamachscharī seine Meinung fadenscheinig und gibt nur die Mehrheitsmeinung wieder ohne tiefgreifende Analysen aufzuzeigen. Dabei gibt es für den Ausruf der Verneinung „Nein!“ bereits andere Wörter in der Lesung wie kallā (كَلّا – Beispielverse: 70:39, 78 :4 oder 83:15), bal im Sinne von „jedoch“ (بل – Beispielverse: 85:21, 87:16 oder 84:22) oder balá ebenso im Sinne von „doch, aber“ (بلى – Beispielverse: 57:14, 75:4 oder 84:15). Wieso sollte also Gott, dessen Wortschatz unermesslich reich ist, verschiedene Wörter für dieselben sprachlichen Ziele verwenden und die Vielfalt einschränken und Verwirrung stiften?

Auch die Behauptung, dass das Verneinungspartikel am Anfang eines Kapitels oder Satzes als Ausdruck der Antwort verstanden werden sollte, scheitert am Beispiel 75:1, wonach die vorhergehenden Verse 74:53–56 keinen direkten thematischen Bezug zu 75:1 aufweisen.

Es gibt demnach keine stichhaltige Begründung für die Übersetzung „Nein, ich schwöre“ – ganz zu schweigen vom Schwören überhaupt, auch wenn es laut 89:5 die Menschen zum Nachdenken anregen sollte, auf dass sie die besonderen Umstände und Zeichen bedenken mögen. Es soll also unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand des Schwurs lenken. Dennoch ist das Schwören Gottes eine wichtige theologische Frage, ob Er wirklich schwört. Bedeutet dieses Verb nicht eher etwas mitteilen?

Um den Vorwurf „Wir leben heute über 1400 Jahre später und die damaligen Araber werden es sehr wohl besser gewusst haben, wie die arabische Sprache, insbesondere die arabische Sprache der Lesung zu verstehen sei“ gleich vorneweg aus dem Weg zu räumen, möchte ich einen sehr bedeutenden Gelehrten und großartigen Grammatiker anführen in dieser Thematik: Abū Hayyān Al-Gharnāti (gest. 1344). Er war beispielsweise bezüglich Vers 90:1 auch der Meinung, dass die Verneinung (nafiy) und nicht eine versteckte andere Bedeutung gemeint sei, weil die Angelegenheit so klar ist, dass Gott nicht zu schwören braucht.141

Deshalb finden Sie in unserer Hanif-Übersetzung die folgende Übertragung der Verse 89:1–5 aufgrund des klaren Wurzelschwerpunktes und der offensichtlichen Grammatik:

 

89:1 Und der Morgenanbruch
89:2 Und zehn Nächte
89:3 Und das Ergänzende und das Anschließende
89:4 Und die Nacht, wenn sie zurückgeht
89:5 Ist darin eine Mitteilung für einen sich Besinnenden

 

Dennoch ist die Diskussion um die Bedeutung des Mitteilens/Schwörens nicht vollends abgeschlossen.

Ebenso ließe sich in diesem Zusammenhang diskutieren, ob das „wa“ in der Lesung überhaupt als Schwören verstanden werden kann, wenn es andere Beispielschwüre gibt, wie in 12:85 ersichtlich ist:

 

12:85 Sie sagten: “Bei Gott! (ta-allāh) Du hörst nicht auf, Josef zu erwähnen, bis du dich verzehrt hast oder zugrunde gehst”

 

Das „ta“ in Ta-allāh erfüllt dieselbe Funktion wie „bei“ auf Deutsch in einem Schwur, wie es in 12:85 verwendet wird. Wieso also auch das „wa“ als Einleitung für einen Schwur verstehen? Dieser Frage stehen zunächst andere Verse gegenüber, die sprachlich genauer untersucht werden müssen, bevor wir zu einem Schluss gelangen. Ein Beispiel sei angegeben:

 

19:68 Doch, bei deinem Herrn, wir werden sie versammeln, auch die Satane. Danach werden wir sie um die Hölle kriechend bringen.

Transliteration:
fawarabbika lanaḥschurannahum wasch-schayāṭīn ṯumma lanuḥḍirannahum ḥawla dschahannam dschiṯiyyan

 

In diesem Vers wird „wa“ als eine leichte Schwurform verwendet, zumindest aber um eine rhetorische Bekräftigung zu erwirken. Der Satz ließe sich schwer als „Doch und dein Herr“ übersetzen ohne merklich die Bedeutung zu verwässern. Deshalb muss eine umfassende Betrachtung dieser Verwendungsart nach den in diesem Buch beschriebenen Regeln und Prinzipien vorgenommen werden, um die Unterschiede zu klären und um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 4 – Buch und Weisheit: Eine Einheit

3:81 Und als Gott den Bund der Propheten annahm für das, was ich euch an Schrift und Weisheit brachte, kam darauf zu euch ein Gesandter, das bestätigend, was mit euch ist. So glaubt an ihn und helft ihm. Er sagte: Habt ihr zugestimmt und diesbezüglich meine Bürde angenommen? Sie sagten: Wir haben zugestimmt. Er sagte: So bezeugt und ich bin mit euch unter den Bezeugenden

 

Es ist leider so, dass ein erheblicher Großteil der Sunniten und Schiiten glaubt, dass einerseits mit „Schrift“ das Buch, also die Lesung selbst gemeint sei, andererseits die Weisheit etwas anderes sei, was wir erst durch die Aussprüche in den Ḥadīṯ-Büchern erfahren könnten. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn hier begründet sich die theologische Argumentation vieler klassisch-orthodoxer Sunniten oder Schiiten und ihren Anhängern, die damit der Tradition Gewicht verleihen möchten. Diese Tradition beinhaltet unter anderem auch die Steinigung, die Apostasie-Strafe für Abfällige von der Religion, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frau und viele weitere Abscheulichkeiten. Deshalb müssen wir diesem Missbrauch der Verse aus der Lesung Einhalt gebieten.

Dass diese Idee, die Weisheit sei in der traditionellen Sunna, auf einem Fehlverständnis der Lesung beruht, werde ich im Anschluss gleich zeigen. Leider hat dies alles damit angefangen, dass ein mittelalterlicher Gelehrter, nämlich Asch-Schāfiʿī meinte, er müsse die auf Vermutungen, Lügen und Hörensagen begründeten Überlieferungen zu einer Offenbarung (waḥiy) erheben, um so der angeblich prophetischen Sunna Legitimität zuschreiben zu können. Diese Leute des Hadīṯ (ahlu-l-ḥadīṯ) waren dermaßen überzeugt von ihrer eigenen Ansicht und sehr aggressiv, dass sie diese Überlieferungen, welche dem Propheten angedichtet wurden, faktisch höher ansahen als die Lesung selbst. Zumindest wurde die Lesung nicht als kategorisch epistemologisch erhabener als ihrer Meinung nach zuverlässige Aussprüche angesehen. Es wird von ihnen auch folgender Spruch überliefert:

 

جاءت السنة قاضية على الكتاب وليس الكتاب قاضياً على السنة

dschā’at as-sunnatu qāḍiyatan ʿalá al-kitābi wa laysa al-kitābu qādiyan ʿalá as-sunnah

Die Sunna kam als Richtende über das Buch (die Lesung) und nicht das Buch als Richtender über die Sunna.118

 

Natürlich werden die heutigen Gelehrten diesen Satz relativieren und sagen, dass damit gemeint sei, die angeblich prophetische Sunna sei dazu da, um eine Erklärung für die in der Lesung „nicht erklärten“ Verse anzubieten. Den ersten Fehler, den sie hierbei begehen: Sie nehmen an, das Buch Gottes hätte nicht bereits die Erklärung in sich für diese Verse (siehe 25:33). Den zweiten Fehler, den sie begehen: Die meisten Aussprüche, selbst wenn sie in der Überliefererkette (Isnad) und im Inhalt oder Text (Matn) beide als authentisch (ṣaḥīḥ) gelten, sind und bleiben immer eine Vermutung und Gottes Lebensordnung kann nicht auf Vermutungen begründet werden. Die Lesung wird nicht durch Vermutungen begründet, sondern durch sich selbst, indem wir Verse im Lichte anderer Verse betrachten.

Die Wurzel ḥā-kāf-mīm (ح ك م), von welcher das arabische Wort für Weisheit abgeleitet ist, beherbergt als Grundbedeutung die Idee der „Weisheit“. Sie kommt in der Lesung in 189 Versen insgesamt 210 Mal vor.119 Aus diesem Grunde werden für Wörter wie „Richter“ oder „Urteil“ Ableitungen dieser Wurzel verwendet, da beispielsweise eine ausgebildete Richterin ohne die eigenen Gefühle ins Zentrum zu stellen bedacht, vernünftig und gerecht Urteile fällen muss. In anderen Worten muss sie weise handeln. Die in der Lesung verwendeten Wortformen sind:

  • 45 Mal als ersten Verbstamm ḥakama (حَكَمَ): urteilen/richten
  • 30 Mal als das Verbalnomen des ersten Verbstammes ḥukm (حُكْم): Urteil
  • Fünfmal als aktives Partizip des ersten Verbstammes ḥākimīn (حَٰكِمِين): Urteilende/Richtende
  • Zweimal als zweiten Verbstamm yuḥakkimu (يُحَكِّمُ): Jemanden zum Richter ernennen
  • Einmal als das aktive Partizip des dritten Verbstammes ḥukkām (حُكَّام): (strafrechtlich) Verfolgender / die rechtlich Zuständigen / Richter
  • Zweimal als vierten Verbstamm uḥkimat (أُحْكِمَتْ): stärken, etwas klar machen
  • Zweimal als passives Partizip des vierten Verbstammes muḥkamāt (مُّحْكَمَٰت) und muḥkamah (مُّحْكَمَة): klar gemacht
  • Einmal als sechsten Verbstamm yataḥākamu (يتََحَاكَمُ): sich gegenseitig vor den Richter bringen, Urteil verlangen
  • Zweimal als die Steigerungsform oder als Elativ aḥkam (أَحْكَم): weiser als / weisest. In der Lesung nominal verwendet als „der Weiseste“ (95:8)
  • Dreimal als das Nomen ḥakam (حَكَم): Schiedsrichter/Vermittler
  • 20 Mal als das Nomen ḥikma (حِكْمَة): Weisheit
  • 97 Mal als das Adjektiv bzw. das Nominal ḥakīm (حَكِيم): weise / der Weise

Wir werden in den nächsten Abschnitten sehen, dass in Tat und Wahrheit die Weisheit und das Buch eine Einheit bilden, die Weisheit also der Lesung innewohnt.

Es gibt viele Arten, wie diese Wurzel in der Lesung verwendet wird. Eins ist aber immer klar: Die Weisheit ist stets Gott und Seiner Offenbarung zu verdanken und die einzige Quelle der Weisheit ist Gott mit Seinem Wort und Wirken.

Wenn wir uns mit der Frage befassen, wie der Prophet urteilte und warum man in der Gottergebenheit nur mit der Offenbarung urteilen darf, so lesen wir:

 

5:48 Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So urteile (uḥkum) zwischen ihnen nach dem, was Gott herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist.

 

Hier ist es eindeutig, dass nur nach der Offenbarung zu urteilen erlaubt ist, dass es demnach nur eine Sunna geben kann, nämlich Gottes Sunna. Der Prophet urteilte also nach der Lesung (vgl. auch 7:203) und zwar nur nach dieser. Daraus können wir schließen, dass auch alle vorherigen abrahamitischen Religionen nach ihren jeweiligen Büchern zu urteilen hatten, denn laut der Lesung ist die Gottergebenheit keine neue Religion, sondern die Bestätigung der vorangegangenen Bücher. Bereits Abraham nannte sich und seine Mitgläubigen Gottergebene (22:78).

 

3:79–80 Nicht gebührt es einem Menschen, dass Gott ihm die Schrift, die Weisung (al-ḥukm) und die Prophetie zukommen lässt, und der danach zu den Leuten sagt: Seid mir Diener anstelle Gottes. Sondern: Seid ein Vorbild dabei, wie ihr die Schrift zu lehren und wie ihr zu studieren pflegtet. Und nicht befiehlt er euch, dass ihr die Engel und die Propheten als Herren nehmt. Befiehlt er euch etwa das Ableugnen, nachdem ihr Ergebene seid

 

Wir erinnern uns daran, dass ein „und“ in der Lesung nicht zwangsläufig bedeutet, dass hierbei unterschiedliche Einheiten in einer Aufzählung gemeint wären. Vielmehr sehen wir in diesem Vers auf deutliche Art und Weise, dass sie miteinander eng verbunden sind. Die Prophetie besteht darin, das Buch Gottes als Offenbarung zu erhalten und die darin innewohnende Weisheit den Menschen zu verkünden.

Die Verse 3:79–80 sind auch eine eindeutige Ansage, sich die Propheten nicht zu Herren zu nehmen und sich ganz auf Gott und Sein Wort zu konzentrieren – geradeaus direkt mit Gott die Verbindung aufzubauen, ohne Nebenwege einzuschlagen in religiösen Belangen! Sollten andere ins Zentrum gestellt werden, wo Gott doch die Quelle allen Heils ist? Würde Gott uns die Beigesellung und Ableugnung anordnen? Die einzige Autorität ist und bleibt Gott:

 

42:10 Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil (al-ḥukm) darüber steht Gott zu. Dies ist doch Gott, mein Herr. Auf Ihn verlasse ich mich, und Ihm wende ich mich reuig zu.

 

Auch hier sehen wir wie eben dargelegt, dass das Urteil bei Uneinigkeiten in religiösen Dingen Gott allein obliegt, dass sich der Prophet nur auf Gott verlässt und sich Ihm in Reue zuwendet – sich also ganz auf Ihn einstellt. Ist nicht dies der Monotheismus in seiner schönsten Weise, von unseren Propheten vorgelebt? So folgen wir seinem prophetischen Beispiel und verlassen uns allein auf Gott.

 

4:105 Gewiss, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit du zwischen den Menschen richtest (litaḥkuma) auf Grund dessen, was Gott dir gezeigt hat. Sei kein Verfechter für die Verräter!

 

Gott gibt also dem Propheten das Buch, damit er zwischen den Menschen richte. Der Satzteil „was Gott dir gezeigt hat“ bezieht sich auf die in der Lesung vorhandenen moralischen, ethischen wie auch sozialen Prinzipien, die gemäß der Wahrheit offenbart wurden. Dies wird in der Betonung der Wahrheit im Vers sichtbar, die dem Buch innewohnt. Hier wird nochmals die Einheit Gottes ersichtlich, nämlich dass Gott in religiösen Angelegenheiten die einzige Autorität (6:114) und unser einziger Lehrer ist (55:1–2).

Die Lesung liegt uns heute vollständig vor und Gott hat uns dort  alle Urteile, die religiöse Belange betreffen, zu seiner Vollkommenheit mitgeteilt. Gott will im vorangegangenen Vers 4:105 dem Propheten nahelegen, nicht seinen Neigungen gemäß zu handeln. Denn das Buch und ihre Urteile sind eine Sache, die Durchführung und die damit verbundene Konsequenz eine andere. Der Prophet war nämlich nur ein Mensch (18:110) mit allen damit verbundenen Stärken und Schwächen. Denn der Vers 4:105 betont diese Haltung im letzten Satz: „Sei kein Verfechter für die Verräter!“

Und als nächstes muss man sich fragen, wie soll sich eine menschliche Sunna mit den oben behandelten Versen verstehen lassen, die nur der Offenbarung Platz einräumen? Und wieso wird in der Lesung nur Gottes Sunna erwähnt? Darüber hinaus muss die Quelle für die Religion rein und ohne Makel sein und wir finden in der Lesung selbst gleich mehrere Beispiele, die die Sünden des Propheten behandeln (47:19, 48:2). Die Offenbarung selbst wird hingegen als rein bezeichnet:

 

98:2 Ein Gesandter von Gott, der gereinigte Blätter vorliest

 

Wir sehen, eine Offenbarung muss ohne Makel sein und die traditionell gelehrte Sunna ist es nicht. Die traditionelle Sunna ist menschlichen Ursprungs, da bisher niemand behauptet hat, Buchārī oder Konsorten seien ebenso Gesandte Gottes, die in Seinem Namen gehandelt hätten. Allein diese Umstände verunmöglichen es, der traditionellen Sunna irgendeine religiöse Autorität zu verleihen.

Wir fassen das Bisherige zusammen:

  • Gott lehrte den Propheten die Lesung (55:2) und nur die Lesung.
  • Der Prophet wie auch alle Gläubigen dürfen nur dem Herabgesandten, also der Lesung folgen (7:3, 7:203).
  • Der Prophet selbst ist keine weitere Quelle, kein weiterer Herr, wie es 3:80 und 6:19 und auch weitere Verse klar machen.
  • Gott allein steht das Urteil zu (6:114, 5:44 usw.).

Es ist also sehr deutlich, dass der Prophet nur nach dem offenbarten Buch urteilte und keine andere Quelle benutzen durfte und dass nur Gott urteilen darf in religiösen Angelegenheiten. Der Vers 6:114 wird tiefgreifend mit dem Monotheismus verknüpft, denn der Vers sieht nur einen Schiedsrichter vor – Gott allein. Seine Gesetze sind im Buch, die ohne Sekundärquellen auskommen. Die Lesung wurde hier als „ausführlich dargelegt“ beschrieben, somit erübrigt sich die Frage, ob die Lesung Einzelheiten ausgelassen habe, die durch die traditionelle Sunna ergänzt werden müssten. Durch die rhetorische Frage des Verses wird jegliche Quelle außer Gott für überflüssig und auch ungültig erklärt.

 

6:114 Soll ich denn einen anderen Schiedsrichter (ḥakam) als Gott begehren, wo Er es doch ist, der das Buch, ausführlich dargelegt, zu euch herabgesandt hat?

 

Außerdem sagt Gott von der Lesung:

 

11:1 Alif-Lam-Ra. (Dies ist) ein Buch, dessen Zeichen eindeutig festgefügt und hierauf ausführlich dargelegt sind von Seiten eines Weisen und Kundigen.

41:3 Ein Buch, dessen Zeichen ausführlich dargelegt sind, als eine arabische Lesung, für Leute, die Bescheid wissen

 

Es lässt sich aber die Frage stellen, ob Gott denn Seine Befehlsgewalt weiter delegiert und sie in dem Sinne dann indirekt wirken lässt? Gibt es also noch andere Verse, die die Einheit und alleinige Autorität Gottes untermauern und somit die vorige Frage verneinen? Es folgen Verse, die besonders die alleinige Autorität Gottes hervorheben, indem gerade betont wird, dass Er seine Befehlsgewalt nicht aufteilt:

 

18:26 Sag: Gott weiß am besten, wie (lange) sie verweilten. Sein ist das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie vorzüglich ist Er als Allsehender, und wie vorzüglich ist Er als Allhörender! Sie haben außer Ihm keinen Schutzherrn, und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden.120

11:12 Vielleicht möchtest du einen Teil von dem, was dir offenbart wird, verlassen und deine Brust ist dadurch beklommen. Dies, weil sie sagen: „Wäre doch ein Schatz auf ihn herabgesandt worden oder ein Engel mit ihm gekommen!“ Du bist aber nur ein Warner. Und Gott ist Sachwalter über alles.

12:40 Anstelle seiner dient ihr nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet. Dafür ließ Gott keine Ermächtigung herabsenden. Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Er befahl, dass ihr keinem außer ihm dient. Dies ist die wertvolle Lebensordnung, doch die meisten Menschen wissen nicht

6:57 Sag: Ich halte mich an einen klaren Beweis von meinem Herrn, während ihr Ihn der Lüge bezichtigt. Ich verfüge nicht über das, was ihr zu beschleunigen wünscht. Das Urteil gehört allein Gott. Er berichtet die Wahrheit, und Er ist der Beste derer, die entscheiden.121

 

Die vier oben genannten Verse machen mit Aussagen wie „Das Urteil (al-ḥukm) ist allein Gottes“, „Und Er beteiligt an Seinem Urteil (ḥukmihi) niemanden“ oder „Und Gott ist Sachwalter über alles“ klar, dass weitere Quellen neben Gottes Worten keine Autorität haben können. Sie unterstreichen die alleinige Autorität Gottes und zeigen auf, dass es nur die Sunna Gottes gibt. Wenn wir uns die Frage stellen, welche Befugnisse der Gesandte durch Gottes Worte, also durch die Lesung erhält, so finden wir unter anderem folgende Verse dazu:

  • Dem Gesandten obliegt nur die Verkündigung. (5:92, 64:12)
  • Der Gesandte ist nur ein Warner. (88:21, 79:45, 13:7, 11:12)
  • Der Gesandte hat die Botschaft klar zu übermitteln. (16:44)

Es gibt noch viele weitere Verse, die die alleinige Autorität Gottes hervorheben, ich will hier nur mit drei Versen diese Angelegenheit ein letztes Mal verdeutlichen:

 

12:67 … Gewiss, das Richten (al-ḥukm) ist nur Gottes. Auf Ihn vertraue ich und auf Ihn sollen sich die Vertrauensvollen verlassen.

25:2 Er, Dem das Königreich der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind nahm und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hatte und alles erschuf und ihm sein Maß wohlbemessen gegeben hat.

28:70 Und Er ist Gott. Es gibt keine Gottheit außer Ihm. Ihm gehört das Lob im Ersten und im Letzten. Ihm gehört das Urteil, und zu Ihm werdet ihr zurückgebracht.

 

Nach diesen und anderen Versen ist es schwer eine Gewaltenteilung vorzunehmen, dass auf der einen Seite die Lesung stünde und auf der anderen Seite die menschliche Sunna (entgegen der göttlichen Sunna). Gott, „der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat“, und von sich aus sagt, dass das Urteil (ḥukm) allein Seines ist und Ihm das Richten gehört, reicht den Gläubigen aus.

 

12:80 Als sie es bei ihm aufgegeben haben, gingen sie gerettet davon. Der Älteste von ihnen sagte: Wisst ihr nicht, dass euer Vater von euch, auch bevor ihr euch von Josef entledigt habt ein verbindliches Versprechen vor Gott entgegengenommen hat. Ich werde das Land nicht verlassen, bis mein Vater es mir erlaubt oder Gott richtet (yaḥkum Allāh), und er ist der beste der Richtenden (al-ḥākimīn).

95:8 Ist Gott nicht der Weiseste der Richtenden (bi-aḥkami al-ḥākimīn)?

5:50 Erstreben sie etwa das Urteil (al-ḥukm) der Ignoranz? Wer ist ein besserer Richter (ḥukm) als Gott für ein Volk, das überzeugt ist?

 

Wir sehen also überaus deutlich, dass die Weisheit und die daraus abgeleiteten Urteilssprüche Gott allein gehören. Es gibt auch klare Aussagen in der Lesung, dass die Lesung selbst die Weisheit darstellt. Wie etwa in Kapitel 17, in welchem beginnend ab Vers 22 ethische Prinzipien und Gesetze erklärt werden, welche ein Gläubiger umzusetzen hat. Dies geht weiter bis Vers 38 und im darauffolgenden Vers lesen wir:

 

17:39 Diese sind von dem, was dein Herr dir von der Weisheit offenbarte. Und setze zu Gott keine andere Gottheit, sonst wirst du in die Hölle geworfen, verschmäht und verstoßen sein

 

Die vorhergehenden Verse werden also direkt als Teil der Weisheit des Herrn beschrieben. Insofern sehen wir in diesem Beispiel, dass die Verse ein Teil der Weisheit Gottes sind. Im nächsten Schritt werde ich aufzeigen, dass diese laut der Lesung eine Einheit sein müssen. Das Prinzip der Einheit von Buch und Weisheit wird also auch von der anderen Richtung her aufgezeigt.

 

2:231 … So nehmt euch Gottes Zeichen nicht zum Spott und gedenkt Gottes Gunst an euch und dessen, was Er aus der Schrift und der Weisheit (al-ḥikmah) auf euch herabsandte, euch damit zu belehren. Und seid Gottes achtsam und wisst, dass Gott in allen Dingen wissend ist.

 

Auf Arabisch heißt es:

 

ولا تتخذوا ءايت الله هزوا واذكروا نعمت الله عليكم وما أنزل عليكم من الكتب والحكمة يعظكم به واتقوا الله واعلموا أن الله بكل شىء عليم

Transliteration:
wa lā tattachiḏū ʾāyāti-llāhi huzuwān waḏkurū niʿmāta-llāhi ʿalaykum wa mā ʾanzala ʿalaykum min al-kitābi wal-ḥikmati yaʿiẓukum bihi wa-ttaqū-llāha wa ʾaʿlamū ʾanna-llāha bikulli schayʾin ʿalīmun

 

Das große fette Wort im Arabischen wird in der Übersetzung als „damit“ wiedergeben und transliteriert „bihi“ ausgesprochen. Wären nun die Schrift und die Weisheit zwei verschiedene Dinge, müsste für den Bezug auf diese beiden verschiedenen Dinge die Dualform benutzt werden, nämlich bihimā (بهما) oder zumindest der Plural bihim (بهم). Der im Vers verwendete Bezug ist aber singular! Somit sind die Schrift und die Weisheit eine Sache, oder anders gesagt: Die Weisheit wird als der Schrift innewohnend angenommen.

Alles in allem kann bekräftigt werden, dass die traditionelle Aufteilung in Buch als die Lesung und Weisheit als die angebliche prophetische Sunna auf einem missglückten, geradezu peinlichem Fehlverständnis des Begriffs „Weisheit“ und der Wurzel selbst beruht, wobei ich hier etliche Verse zitierte, die Gott allein Autorität zusprechen und die Gott allein als Quelle der Weisheit klarstellen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Erklären, Offenbarung und Gehorsam

Das Verb „erklären“ oder auch „klarmachen“ ist sowohl auf Arabisch als auch auf Deutsch mehrdeutig. So wie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ keine ausführliche, in jeglicher Hinsicht ausformulierte Erklärung meint, sondern eine Erklärung im Sinne einer Verkündigung, verhält es sich ähnlich mit dem Aufruf an den Gesandten, die Lesung zu „erklären“, ihn also nicht zu verbergen. Mit dieser „Erklärung“ wird die Grundidee einer zu vermittelnden Botschaft dargelegt, wie eben im Falle der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die selbst juristisch für jeden Staat neu ausgelegt werden. Ich belege meine Behauptung durch den Wortgebrauch im folgenden Vers:

 

3:187 Und als Gott die Verpflichtung derer entgegen nahm, die die Schrift erhielten: Ihr müsst sie den Leuten klarmachen (latubayyinunnahu) und dürft sie nicht verborgen halten (taktumūnahu)! …

 

Demnach ist es klar, dass dieser Vers zwei gegensätzliche Verben beinhaltet:

  • bayyana: proklamieren, klar/sichtbar machen, zeigen, etc.
  • katama: verbergen, unsichtbar machen, verstecken, etc.

Wenn wir auf Arabisch zum Beispiel „dschāʾanā al-bayān at-tālī“ (جاءنا البيان التالي) sagen, so bedeutet dies sinngemäß „Zu uns kam folgende Verkündung.“ Hier wird al-bayān als Verkündung verstanden. Die Wurzel des Verbes bā-yā-nūn (ب ي ن) kommt in der Lesung 523 Mal vor in dreizehn verschiedenen Wortformen (darunter 266 Mal als das Wort „zwischen“: bayn – بَين). In ihrem Kern sagt diese Wurzel aus, dass etwas „klar“ ist. Deshalb werden Wörter wie „Erklärung“ oder „Klarheit“ mit dieser Wurzel verbunden. Und die Lesung selbst trägt den Beinamen „al-qur’ān al-mubīn“: die klare, offenkundige, nicht verborgene Lesung. Die Wurzel wird auch für die Wiedergabe des Wortes „Beweis“ gebraucht, so z.B. in bayyina (بَيِّنَة). Weil die Angelegenheit so klar ist, wird diese Angelegenheit selbst als Beweis angeführt. Dies alles zusammengefasst erklärt die Grundbedeutung der Wurzel, dass es sich um eine Klarheit handelt und nicht um eine Erläuterung (tafsīr). Dass Gott Sein Buch „klar“ bezeichnet, wird auch insofern deutlich, wenn die Verse 54:17, 54:22, 54:32 und 54:40 berücksichtigt werden, die alle in ihrem Wortlaut dasselbe aussagen: Die Lesung wurde zum Nachdenken einfach gemacht.101

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass die Lesung kein verborgenes, unverständliches, irgendwelche Erklärungen benötigendes Buch ist. Eher im Gegenteil, das Buch Gottes wird als klar oder deutlich (mubīn, 28: 2), ausführlich detailliert (mufaṣṣal, 41:3, 6:114, 7:133), leicht (yasīr, 54:17,22,32,40) zu bedenken und vollständig (mutimm, 6:115) bezeichnet, fernab jeglicher Unvollkommenheit und Unklarheit, die durch den Gesandten weiter erklärt werden müsste!

Es sei nochmals betont, dass die Lesung an unzähligen Stellen klar macht (es also mubīn wird), dass Gott allein die Entscheidung obliegt (5:50, 6:57, 12:40, 12:67, 42:10, 42:21). Ein weiterer missdeuteter Vers ist 75:19, welcher gerne im unmittelbaren Kontext dahingehend interpretiert wird, dass hier nicht die Lesung gemeint sei, sondern das Buch des Menschen, welches er am jüngsten Tag bekommt, in dem alle seine Taten verzeichnet sein werden. Folgender Vers widerlegt diese Ansicht:

 

17:14 Lies dein Buch! Du selbst genügst heute als Abrechner über dich.102

 

Also bedarf es keiner Erklärung, um „das Buch des Menschen“ am jüngsten Tag erklären zu müssen – er selbst genügt seiner selbst. Deshalb muss in 75:19 die Lesung selbst gemeint sein.

 

Die Offenbarung, die keine Offenbarung ist

Es gibt noch einen weiteren Vers, mit welchem die Traditionalisten die Sunna sogar mit der Offenbarung gleichzusetzen versuchen:

 

53:1–3 Und der Stern, wenn er sich neigte. Weder irrte euer Gefährte noch wurde er verführt. Und er äußert sich nicht aus der Neigung.

 

Auf die Wiedergabe dieses Verses und dem soeben erwähnten Argument, die Offenbarung und die Sunna seien auf gleicher Stufe, ist die Antwort einfach zu geben, indem lediglich der nächste Vers gelesen wird:

 

53:4 Es ist nichts als eine offenbarte Offenbarung.

 

Weitere Quellen neben Gottes Wort können nicht als Offenbarung gelten, weil dies mittelbar und unmittelbar durch Gott selbst klargemacht wird. Insofern kann auch die traditionell überlieferte Sitte, die dem Propheten untergejubelt wird, keine Offenbarung sein (45:6, 7:185, 77:50). In diesen Versen kommt im arabischen Original das Wort Ḥadīṯ vor und gibt uns zu verstehen, dass die Lesung selbst der einzige Ḥadīṯ sein soll, dem wir zu folgen haben. In diesen Versen wie auch in anderen (zum Beispiel 12:111) wird verdeutlicht, dass Gottes Ḥadīṯ mit keinem anderen Ausspruch gleichgestellt werden kann, da sie als erfunden (yuftará) beschrieben werden. So sind außerkoranische Aussagen keine Offenbarungen und wie wir bereits an Beispielen gezeigt haben, war der Prophet nicht sündenfrei. Er beging mehrere Fehler. Eine Offenbarung hingegen ist fehlerfrei und makellos:

 

41:41–42 Diejenigen, die nicht an die Ermahnung glauben, wenn sie zu ihnen kommt (sind die Verlierenden). Und fürwahr, es ist ein ehrwürdiges Buch. Falschheit kann nicht daran herankommen, weder von vorn noch von hinten. Es ist eine Offenbarung von einem Allweisen, Preiswürdigen.103

 

Darüber hinaus ist sehr viel Falschheit in die Sammlung der Aussprüche gelangt.

Fest steht: Wir müssen dem Gesandten folgen und ihm gehorchen, damit wir Gott gehorchen können (2:143, 3:20, 3:31, 24:54, 2:129, 3:164, 4:80 und 62:2). Nur wie folgen wir ihm? Das wird in der Lesung geklärt. Der Prophet folgte nämlich nur dem, was ihm offenbart wurde (6:50, 6:106, 7:203, 10:15, 33:2, 46:9). Allgemein wird betont, dass das blinde Nachahmen der Vorväter, wie Buchārī oder Asch-Schāfiʿī, uns eher davon abhalten wird, die Botschaft zu begreifen. Wir werden durch sie davon abgehalten, unsere Seelen durch die Lesung zu reformieren (6:116, 2:170, 31:21, 5:104, 10:78, 6:155, 3:53). Doch der wichtigste Vers in dieser Angelegenheit ist der folgende, der sowohl an unseren Propheten als auch an uns gerichtet ist:

 

7:3 Folgt dem, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt worden ist, und folgt außer Ihm keinen (anderen) Schutzherren! Wie wenig ihr bedenkt!104

 

Anzumerken ist hier noch weiter, dass nicht dem Gesandten die Rechtleitung obliegt, sondern Gott rechtleitet. Also selbst mit dem Wissen, wie sich der Prophet angeblich verhalten haben soll (die Quellen der Aḥādīṯ sind nicht zweifelsfrei), können wir nicht sicher sein, dass wir dadurch die Rechtleitung erhalten (2:272, 28:56). Hieraus wird klar, dass Gott im Gesandten seinen Verkünder in Bezug auf Seine Botschaft sieht und das nur so die eben angeführten und genauso die nachfolgenden Verse einen logischen Sinn ergeben können:

 

9:1 Eine Loslösung seitens Gottes und dessen Gesandten von den Beigesellern, mit denen ihr vereinbartet

9:3 Und eine Bekanntmachung von Gott und seinem Gesandten für die Leute am Tag der großen Debatte, dass Gott sich von den Beigesellern loslöst und auch sein Gesandter. Bereutet ihr, dann ist es gut für euch. Kehrtet ihr euch ab, dann sollt ihr wissen, dass ihr euch Gott nicht entziehen könnt. Und verkünde denjenigen, die ableugneten, eine schmerzhafte Qual.

 

Gott hatte sich selbstverständlich nicht zuerst mit dem Gesandten beraten, wie sie vorgehen sollten, sondern Gott offenbarte durch den Gesandten die Bekanntmachung, an die wir uns alle zu halten haben. Wenn wir also Gott gehorchen wollen, müssen wir der durch den Gesandten überlieferten Botschaft gehorchen, was nichts anderes bedeutet, als Gott zu gehorchen. Im vierten Kapitel der Lesung finden wir zu Beginn zahlreiche Gesetze Gottes, wonach dann folgender Vers erscheint:

 

4:13–14 Dies sind die von Gott gesetzten Schranken. Und jene, die den Befehlen Gottes und des Gesandten folgen, werden in Gärten eingelassen, durch die Bäche fließen, und wo sie für ewig verweilen. Das ist der größte Triumph. Und wer Gott und Seinem Gesandten den Gehorsam versagt und Seine Schranken übertritt, den führt Er ins Feuer, worin er ewig bleibt. Und er soll eine schmerzhafte Strafe haben.

 

In diesen Versen wird erklärt, uns also klar gemacht, dass die Einhaltung der Befehle und Gesetze Gottes dem Gehorsam gegenüber Gott sowie Seinem Gesandten gleichkommt. Da dies die Gesetze Gottes sind, die der Gesandte verkünden musste, agiert er im Namen Gottes und als Gesandten. Der Prophet nahm dadurch unweigerlich den Charakter einer Autorität an, der die Verfügungen Gottes durch göttliche Eingebung übermitteln oder aufheben kann. Dem Gesandten zu gehorchen bedeutet also der Lesung als Ganzes zu folgen.

 

Allen Gesandten ist zu gehorchen, nicht nur einem

Noch eine weitere Anmerkung zur Behauptung, dass der Aufruf, dem Gesandten zu gehorchen, angeblich der dem Propheten zugeschobenen Sunna zu folgen bedeute: Wir haben die gottergebene Pflicht, keinen Unterschied zwischen irgendeinem der Gesandten Gottes anzustellen (2:285). Lesen wir darüber hinaus beispielsweise folgende Verse:

 

26:108,110 (Noah sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:126,131 (Hūd sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:144,150 (Ṣāliḥ sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:163 (Lot sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

26:179 (Schuʿayb sagte:) So fürchtet Gott und gehorcht mir.

 

So lässt sich folgende berechtigte Frage stellen: Wo ist dann die Sunna von Noah, Hūd, Ṣāliḥ, Lot, Schuʿayb und all den anderen Gesandten? Wo ist die Sunna Abrahams, wenn er ebenso als Vorbild für uns gilt (60:4)?

Indem wir nur einer einzigen spezifischen Sunna folgen, begehen wir gleich mindestens in drei Angelegenheiten Fehler:

Erstens gilt das Wort „Sunna“, dessen Wurzel in der Lesung 21 Mal in 15 Stellen vorkommt105, nur für Gott. Es ist also Gott, der eine wie auch immer zu definierende Sunna bestimmt. Es wird darüber hinaus betont, dass die Sunna Gottes nie verändert wurde (17:77, 33:62, 35:43, 48:23). Diese Sunna Gottes galt also für die vorherigen wie auch die nachkommenden Gesandten. Von einer „Sunna Mohammeds“ als religiöser Quelle zu reden kommt deshalb einer Beigesellung des Propheten und seiner Lebensweise neben Gott und seiner Sunna gleich.

Zweitens dürfen wir keinen einzigen Unterschied zwischen den Gesandten aufstellen. Der Wortlaut aus den Versen 2:136, 2:285 und 3:84, nach denen wir unseren Glauben bekräftigen müssen, ist in dieser Hinsicht klar, deutlich und eindeutig:

 

Wir machen keinen Unterschied zwischen irgendeinem von ihnen / von den Gesandten.
Transliteration: lā nufarriqu bayna aḥadin minhum / min rusulihi.

 

Dies ist die Aussage von aufrichtigen, überzeugten Gottergebenen, die Gottes Wort ernst nehmen. Indem ein einziger Gesandter speziell behandelt wird und man der ihm zugeschriebenen Lebensweise folgt, missachten wir in Tat und Wahrheit diesen Vers und handeln gegen Gottes Wort.

Drittens wurden die Lebensweisen der Propheten und Gesandten, Frieden sei auf allen, nicht von ihnen selbst niedergeschrieben, sondern sind der missglückte Versuch ihrer Anhänger die Vermutungen und das Hörensagen über diese Menschen festzuhalten. Sie handelten entgegen der Absichten der Propheten und Gesandten und schufen einen Personenkult um sie herum. Kurz gesagt haben sie die Propheten in ihrer Botschaft nicht verstanden.

Das Prinzip der stillen Post, also die Verzerrung und Verfälschung von Überlieferungen durch die wiederholte mündliche Weitergabe, gilt auch hier. Die Überlieferungen müssen deshalb als verzerrt, verfälscht und unwahr angenommen werden, wie am Beispiel der erfundenen und meist widerlichen Aussprüche, die dem Propheten Mohammed angedichtet wurden, deutlich der Fall ist. Sie sind als Gerüchte, Hörensagen und Missverständnisse zu deuten.

gehorcht dem gesandten

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beispiel 1 – Die Aufgabe der Gesandten und „gehorcht dem Gesandten“

Da wir nun die Werkzeuge und die Fallen des Verstehens kennengelernt haben, möchte ich in diesem Teil des Buches unsere Methodik an einigen Beispielen anwenden und beginne mit einer Kurzanalyse des Aufrufs aus der Lesung: Gehorcht dem Gesandten! Ich werde hierbei nicht an jeder Stelle deutlich erwähnen, welcher Schritt wo angewandt wurde, sondern es geht hierbei mehr darum zu vermitteln, was bei einer solchen Methodik für Ergebnisse zu erwarten sind.

Natürlich sind die Beispiele bei Weitem nicht ausschöpfend analysiert worden, denn das ist nicht das Ziel dieses Buches. Bei vielen Beispielen könnte ich noch weiter in die Tiefe gehen. Jedoch möchte ich sie einfach und relativ kurz halten. Vielmehr geht es bei jedem Beispiel um die Betonung verschiedener Aspekte der vorgeschlagenen Methodik.

Wenn Sie nach den Beispielen in diesem Teil ein Gefühl erhalten haben, wie die Anwendung der vorgeschlagenen Methodik im Wesentlichen funktioniert, so bin ich bereits zufrieden.

Sie und ich begeben uns nun auf eine weitere, gemeinsame Reise durch die Lesung.

 

Beispiel 1 – Die Aufgabe der Gesandten und gehorcht dem Gesandten

Die Lesung beinhaltet zahlreiche Stellen, in denen von den Gläubigen gefordert wird, dass sie gegenüber dem Gesandten gehorsam sein sollen, wenn sie Gott gehorchen wollen (3:31–32, 3:132, 4:80, 5:92, 24:52, 24:56, 64:12, 72:23). Dabei stellt Gott aber auch klar, dass Gehorsam gegenüber dem Gesandten in Zusammenhang mit Gehorsamkeit gegenüber der überlieferten Botschaft und nichts anderem steht. Traditionalisten bringen dann gerade aufgrund dieser Verse Argumente vor wie: „Es wird uns befohlen, den Vorschriften Gottes und des Propheten zu gehorchen, was wir nur durch den Koran und die Sunna bewerkstelligen können“. Dass dies auf einem tiefgreifenden Fehlverständnis und einer falschen theologischen Verortung dieser koranischen Aussage beruht, werde ich gleich zeigen.

Erstens ist zu betonen, dass in den besagten Versen der Prophet nur als Gesandter (rasūl) genannt wird. Zweitens ist anzumerken, dass Mohammed auch namentlich erwähnt wird in der Lesung, nämlich dreimal in Bezug auf seine Gesandtenfunktion (3:144, 33:40, 48:29) und einmal in 47:2, in der er im direkten Bezug zur Herabsendung erwähnt wird. Den Vers 61:6 könnte man unter Umständen ebenso hinzuzählen, obwohl dort nicht der Name des Propheten beschrieben wird, sondern eine Umschreibung als „aḥmad“, aber auch dieser Vers betont die Gesandtenfunktion von Mohammed.

Nirgends stoßen wir auf eine Aussage wie „Gehorcht Gott und Mohammed“. Einzig und allein die Aussage „Gehorcht Gott und Seinem Gesandten“ wird verwendet. Also ergibt sich der Gehorsam gegenüber dem Propheten nur in seiner Funktion als Übermittler der Botschaft. Die Lesung selbst wird in einem anderen Vers als „das Wort eines edlen Gesandten“ (69:40) beschrieben und gleich drei Verse später (69:43) als „eine Herabsendung vom Herrn der Welten“, um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen. „Gehorcht dem Gesandten“ bedeutet deshalb nicht, dass er eine persönliche Vorgehensweise hatte, der man gehorchen soll, als ob sie Gottes Offenbarung sei. Gott befiehlt dem Propheten zu sagen, dass er zwar unfehlbar in der Überlieferung der Botschaft ist, aber Fehler begehen könnte, wenn es um seine eigene Meinung geht:

 

34:50 Sage: „Wenn ich irregehe, gehe ich nur aufgrund mir selbst irre. Wenn ich rechtgeleitet bin, so geschieht das durch das, was mir mein Herr offenbart. Er ist hörend und nahe.“

 

Das, was ihm offenbart wurde, ist natürlich die Lesung selbst, was wir leicht aus einer anderen Stelle der Lesung verstehen können (6:19). Der Gesandte darf hierbei in keiner Sache, sei sie noch so klein und scheinbar unbedeutend, von den Richtlinien Gottes abweichen (10:15–18, 17:73–75, 69:40–47). Als er aus Versehen jedoch einmal abwich, wurde er von Gott getadelt und korrigiert (66:1). Die Lesung ist Gottes Buch und Sein Wort an uns. Dennoch hörten sie die Menschen aus dem Munde Seines Gesandten Mohammed (4:13, 9:1, 9:3, 9:29). Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass der Gesandte selbst keinerlei Autorität über die Verordnungen der Lebensordnung (dīn) besitzen konnte. Die Aufgaben des Gesandten, nur Verkünder und Warner zu sein, bedeuten dasselbe, denn der Prophet sprach Gläubige und Ableugner an. Für Gläubige ist es eine frohe Botschaft, eine Verkündigung, für die Ableugner aber eine Warnung (18:56, 6:70 – der Bezug zur Lesung wird in den Versen 6:54 und 6:55 klar).

 

33:21 Für euch ist ja im Gesandten Gottes ein schönes Vorbild…

 

Es wird gefragt, wie man diesem Beispiel folgen kann, ohne eine Quelle zu haben, in der beschrieben ist, wie sich der Gesandte verhielt. Dieser Frage will ich in diesem Buch nicht nachgehen. Den Interessierten empfehle ich die Lektüre meines Artikels „Koranischer oder sunnitischer Mohammed?“.97

In der Lesung ist in zahlreichen Stellen vom Gesandten die Rede, dessen einzige Pflicht die Verkündigung der Botschaft ist (5:92, 5:99, 16:35, 16:82, 24:54, 29:18, 42:48, 64:12), wovon wir zwei Verse zitieren möchten:

 

29:18 … Und dem Gesandten obliegt nur das deutliche Übermitteln.

16:35 Diejenigen, die beigesellten, sagten: „Hätte Gott gewollt, hätten wir nichts an seiner Stelle gedient, weder wir noch unsere Väter, und wir hätten nichts an seiner Stelle verboten.“ So handelten auch diejenigen vor ihnen. Obliegt denn den Gesandten etwas anderes als das deutliche Übermitteln?

 

Es sei hier betont, dass in Vers 16: 35 der Plural des Wortes „Gesandter“ verwendet wird (الرُسُل – ar-rusul) und demzufolge stets ein Bestandteil der göttlichen Sunna (sunnatullah) war, dass sämtliche Gesandten nur diese eine Aufgabe hatten, was das eigenständige Interpretieren der Lesung im Namen Gottes also ausschließt. Die Gesandten haben also nur die Botschaft zu übermitteln.

Eine der vorbildlichen Eigenschaften des Gesandten war es, dass er nur die Lesung befolgte (7:203). Wenn wir seinem Vorbild folgen möchten, dann gilt für uns auch, dass wir nur die Botschaft der Lesung ins eigene Leben übertragen und ebenso an unsere Mitmenschen übermitteln, ohne dabei Missionierung zu betreiben. Wir müssen, wie bereits erwähnt, uns auch daran erinnern, dass der Prophet nicht uneingeschränkt als positives Vorbild dient (9:43, 66:1).

In der Lesung wird der Charakter des Propheten an vielen Stellen umschrieben. Auch er war dem Glauben verpflichtet und hatte sich nur Gott zu unterwerfen. Der Prophet wird an mehreren Stellen ermahnt nicht seinen Neigungen nach zu handeln (2:120, 2:145, 4:135). Schließlich wäre eine menschliche Sunna nicht vollkommen wie Gottes Worte. Wir dürfen laut Gottes Wort auch keinen einzigen Unterschied unter den Gesandten machen (2:285), also können wir uns nicht auf einen einzigen beschränken und nur diesen als Vorbild nehmen. Wir haben auch an Abraham ein schönes Vorbild (60:4), und offensichtlich wurde uns keine „Sunna Abrahams“ überliefert. Die Lesung beschreibt die vorangegangenen Propheten in ihren Geschichten und genau da sind ihre Beispiele und Vorbildfunktionen zu finden:

 

12:3 Wir erzählen dir die besten Geschichten, indem wir dir diesen Quran offenbaren, da du zuvor von den Achtlosen warst.

12:111 In ihren Geschichten war ja eine Lehre für die Verständigen. Es war keine erdichtete Erzählung (ḥadīṯ), sondern eine Beglaubigung für das, was er zwischen den Händen hielt und eine genaue Darlegung für alles und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Leute, die glauben.

 

Des Weiteren führen traditionell eingestellte Muslime gerne folgenden Vers an:

 

59:7 … Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch. …98

 

Hier soll also die „Sunna“ gemeint sein, die über den Gesandten gesammelt sein soll. Doch wenn man den Kontext des Verses anschaut, wird schnell klar, dass hier etwas völlig anderes gemeint ist:

 

59:7 Was Gott Seinem Gesandten von den Leuten der Dörfer an Gütern zugeteilt hat, das gehört Gott, Seinem Gesandten und den Verwandten, den Waisen, den Armen und dem Obdachlosen. Dies, damit es nicht nur im Kreis der Reichen von euch bleibt. Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt an, und was er euch unterbindet, dessen haltet euch fern. Und seid Gottes achtsam. Gewiss, Gott ist hart in der Bestrafung.

 

Hier geht es also um die Beuteaufteilung, die von Gott dem Gesandten zugeteilt wird. Es wird nicht pauschal mitgeteilt, dass wir das Verhalten des Propheten blindlings annehmen sollen. Das Prinzip der Nachahmung (at-taqlīd) in der traditionellen Betrachtungsweise hat hier keinen Bestand. Vielmehr ist es so, dass der Gesandte Gottes von Gott eben Anordnungen mittels Offenbarungen erhält, die er zu verkünden und zu übermitteln hat. Diesen Anordnungen müssen wir Folge leisten, und genau in dem Sinne ist dann der Ausdruck „Was nun der Gesandte euch gibt, das nehmt; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch.“ zu verstehen. Genau so und nicht anders wird dann auch der Schlusssatz im Vers besonders bedeutsam, indem wieder auf Gott hingewiesen wird, dass wir Gottes achtsam sein sollen.

Einer der weiteren häufig angeführten Verse ist 16:44:

 

16:44 … Und wir haben zu dir die Ermahnung hinab gesandt, damit du den Menschen klar machst, was ihnen herabgesandt wurde, und auf dass sie nachdenken mögen.99

 

Hiermit wird behauptet, dass der Ausdruck „damit du klar machst“ meine, der Gesandte brächte außerkoranische, zusätzliche eigene Erklärungen. Oft wird der Versteil dementsprechend als „damit du den Menschen erklärst“ übersetzt. Der Vers sei ein klarer Beweis dafür, dass wir das Verhalten und die Ansichten des Propheten zu befolgen hätten, um die Lesung vollends zu verstehen. Wenn wir diesen Vers auf diese Weise auslegen, widerspricht dies den zuvor genannten Versen, die Gott die alleinige, absolute Autorität zusprechen. Darüber hinaus lassen die Verse 75:19, 25:33 und 55:2 keinen anderen Schluss zu, als dass in erster Linie Gott die Lesung erklärt. Er hat uns die Lesung vollständig herabgesandt (6:114, 5:3). Sein Buch ist in Wahrheit und Weisheit vollkommen (6:115), und deshalb sollte der Prophet nur nach dem urteilen, was darin steht (5:44, 5:48). Es herrscht auch weitgehend Einigkeit, was diese Frage betrifft.

Schaut man 20 Verse weiter, sehen wir in 16:64 folgendes stehen:

 

16:64 Und Wir haben auf dich das Buch nur hinabgesandt, damit du ihnen das klar machst, worüber sie uneinig gewesen sind, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.100

 

Auch hier wird wie in 16:44 das Wort „litubayyina“ benutzt, muss aber in der Bedeutung von „klar übermitteln“ verstanden werden, denn selbst wenn man mit „erklären“ (im Sinne von ausführlich verständlich machen durch den Propheten) übersetzen will, ist dies nur mit der Lesung selbst zu tun. 16:64 lässt nämlich nur eine Möglichkeit zu: Die einzige Bedingung ist die Erklärung oder die Klarmachung von dem, „worüber sie uneinig gewesen sind.“ Dies aber auch eben nur mit der Lesung, denn nur dazu wird sie hinabgesandt. Würde man in diesem Vers mit „erklären“ im Sinne von „zu verstehen machen“ übersetzen, also dass der Prophet eigenmächtig auslegen muss, damit die Lesung verständlich wird, würde das dem Sinn des Verses widersprechen, nämlich dem einzigen Grund, warum die Lesung hinabgesandt wurde. Folgender Vers unterstreicht diese These:

 

69:44–47 Und wenn er sich gegen uns einige der Aussagen selbst in den Mund gelegt hätte, hätten wir ihn gewiss an der Rechten gefasst. Danach hätten wir ihm sicherlich die Schlagader durchschnitten, und niemand von euch hätte ihn davor bewahren können.

 

Aus der Lesung wird ersichtlich, dass der Gesandte damals eine untergeordnete Rolle zu spielen hatte, sofern es die Auslegung und Interpretation der Schrift betraf. So steht in 10:15, dass er die Lesung nicht aus eigenem Antrieb ändern durfte. Wie oft wird der Prophet angehalten, nicht seinen Neigungen zu folgen und nur der Offenbarung zu folgen (2:120, 2:145, 5:48, 7:3, 10:15, 46:9, usw.)? Des Weiteren wird aus 25:33 nochmals deutlich, dass er eine passive Rolle innehatte, da die besten Erläuterungen (aḥsan tafsīr) ihm als Offenbarungen weitergegeben wurden. Wir können also dem Propheten nacheifern, indem wir unsere religiösen Antworten nur in der Offenbarung suchen.

Weiterlesen: Schlüssel zum Verständnis des Koran: Erklären, Offenbarung und Gehorsam

Siehe auch: Die erfundene Religion und die Koranische Religion – Kapitel 27: Was bedeutet „Gehorcht dem Gesandten“?

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Traditionelle Barrikaden, die es zu überwinden gilt

In diesem Kapitel will ich mich relativ kurz der Tatsache widmen, dass die Tradition noch weitere Barrikaden mit sich bringt, auf die wir Acht geben müssen.

 

Autorität der Gelehrten oder: Der Kaiser ist nackt

In der arabischen Literatur wie auch in der traditionellen Unterrichtsart im Religionsunterricht ist die Idee der Autorität nahezu omnipräsent. Die meisten der Gottergebenen wuchsen als Kinder auf im volkstümlichen Irrglauben, dass nur jemand, der „50 Jahre seines Lebens mit dem Studium des Islām verbracht habe“, autorisiert sei über die Religion Auskunft zu erteilen. Uns wurden hierzu spezielle Begrifflichkeiten beigebracht, die wir in den Moscheen hörten, wie zum Beispiel, dass man nur mit einer Lizenz oder Erlaubnis (idschāzah – إجازة) rechtsgültig über die Religion reden könne. Nur wenn man zu den sogenannten Wissenden (ʿulamāʾ) mit dieser ominösen Lizenz gehörte, konnte man ernst genommen werden. Oft wird dabei der Vergleich mit dem Medizinstudium herangezogen, dass Ärzte ja auch nicht ohne Lizenz arbeiten dürfen. ABER, und das ist ein extrem großes aber, das nicht ins Konzept der Traditionsbewahrung passt: Ärzte sind rechtlich anklagbar, religiöse Muftis jedoch nicht. Sie können leider nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie Unsinn verbreitet haben. Uns wäre bestimmt vieles erspart gewesen, hätte man sie anzeigen können.

Man musste im Endeffekt irgendeiner Autorität folgen und war „frei“ für sich eine der folgenden Rechtsschulen auszuwählen, die man als „Autorität“ akzeptieren sollte, sofern man denn Sunnit ist: die ḥanafītische, mālikītische, ḥanbalītische oder schāfiʿītische Rechtsschule. Diese Rechtsschulen und ihre ausgebildeten Gelehrten waren zu lange Autoritäten über uns, obwohl die Lesung unzählige Male davon spricht, dass es nur eine Autorität geben kann, nämlich den Schöpfer selbst. Dass ich hierbei die sunnitische Art und Weise der Autoritätserrichtung anführe, heißt nicht, dass die schiitische gutzuheißen wäre. Dort gelten dieselben Regeln und in dieser Sache unterscheiden sich die Schiiten und Sunniten nicht.

Zu Beginn war die Absicht natürlich nicht böser Natur, das Ziel war das Verhindern von Rechtsauskünften (fatāwá, plural von fatwá) der ignoranten (dschāhil) Menschen. Mit der Zeit hat es aber das blinde Akzeptieren eines Gelehrten, Scheichs, Mufti (derjenige, der Rechtsauskünfte erteilt)91, „Mawlánā“, Imām oder Hodscha gefördert. Ebenso stieg damit auch der religiöse Analphabetismus, was das grundsätzliche Problem unserer Zeit darstellt, nämlich dass ein Großteil der „Gottergebenen“ nicht zu unterscheiden weiß zwischen dem, was in der Lesung steht und dem, was außerhalb der Lesung ist. Dies begründet auch die oft verdutzte Reaktion vieler Menschen, wenn man ihnen in einer Angelegenheit sagt, dass sie nicht in der Lesung zu finden ist. Hierzu ein Kommentar des pensionierten Arabisten und Orientalisten Wim Raven:

 

Es ist manchmal unerwartet schwierig, muslimischen Studenten den Unterschied beizubringen zwischen dem, was im Koran steht und dem, was Korankommentare dazu sagen. Oft ist es nur ein Kommentar, den sie zu Hause im Schrank haben oder den der Imam zitiert hatte; nicht selten ist es das Werk des dummen Ibn Kathīr (± 1300 – 73) — als hätten vierzehn Jahrhunderte Islam nichts besseres gebracht!

Obwohl es doch so einfach ist und eigentlich gar nichts mit Glauben zu tun hat. Eine Aussage steht entweder in Buch A (das grüne Buch hier rechts, mit „Koran“ auf dem Umschlag), oder zum Beispiel in Buch B (dort links, mehrbändig, mit braunen Umschlägen, auf denen „Kommentar“ oder „Tafsīr“ steht). Die beiden Textsorten sind sogar physisch leicht auseinander zu halten. […]

Wenn der Koran für jemanden ein heiliger Text ist, muss dann der Kommentar eines späteren Muslims, der schon seit mehr als tausend Jahren tot ist, das auch sein? […]

Soll doch jeder glauben was er will; aber es wäre schön, wenn man zumindest die Textgattungen auseinander halten könnte: Koran, Auslegung (tafsīr) und Hadith.92

 

Die Lösung ist natürlich nicht die komplette Aufhebung dieses Gedankens, dass Wissende fachkundig Auskunft erteilen sollen. Jedoch müssen wir uns eingestehen, dass die Autoritäten keine Autoritäten sind. So wie der Kaiser in der berühmten Kindergeschichte „Des Kaisers neue Kleider“ nackt ist, müssen wir uns auch eingestehen, dass wir uns selbst etwas vorgemacht haben, wenn wir irgendeiner Person unseres Vertrauens blind gefolgt sind.

Fragen sind durchaus an „Wissende“ zu stellen, jedoch sollten wir die religiöse Belesenheit fördern mit kritischem Hinterfragen der gegebenen Antworten von Menschen mit Wissen („Gelehrten“). Selbst zu denken ist die unabdingbare Voraussetzung, um ein Gottergebener zu sein, denn wir lesen:

 

17:36 Und geh nicht einer Sache nach, von der du kein Wissen hast! Gehör, Gesicht und Verstand – für all das wird (dereinst) Rechenschaft verlangt.93

 

Und wenn wir nach Antworten suchen, so haben wir die beste Antwort als eine zeitlich eingeschränkte Lösung anzunehmen, denn wir dürfen nie aufhören, nach besseren Antworten zu suchen:

 

39:18 Diejenigen, die auf das Wort hören und dann dem Besten davon folgen, das sind diejenigen, die Gott rechtleitete, und das sind diejenigen, die Verstand besitzen.

 

Aḥādīṯ als Quelle der Irreführung

Es ist leider in vielerlei Fragen zu einer Quelle der Irreführung geworden, wenn wir den traditionell überlieferten Aussprüchen (aḥādīṯ) religiöse Gewichtung schenken. Denn sie wurden in vielen religiösen und politischen Angelegenheiten missbraucht. Natürlich gibt es eine breite Palette an Meinungen hierzu und nicht jeder Sunnit hätte gleich gehandelt wie die Usurpatoren. Dennoch haben wir die Pflicht, es unmissverständlich auszudrücken, dass diese Aussprüche selbst die Quelle dieser Problematik sind und nicht erst ihre Auslegungen.

Es ist nicht wegzureden: Steinigung, Kopftuch, Sklaverei, Köpfe abhacken, sexuelle Versklavung oder Perversion, Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostasie; ḥaddu-r-riddah – حد الردة), Aberglaube, Unterdrückungsgesetze der Frau und vieles mehr sind direkt in diesen dem Propheten angedichteten Aussprüchen zu finden. Wieso wir den Aussprüchen gegenüber, die dem Propheten zugeschoben werden und eigentlich eine Beleidigung des Propheten darstellen, äußerst kritisch zu stehen haben, lässt sich dadurch erklären, dass sie verwendet wurden:

  • um die Lehre einer Abspaltung (Rechtsschule, maḏhab) gegenüber einer anderen in Kleinigkeiten zu verteidigen, die nicht in der Lesung vorkommen, wie etwa, was die Waschung vor dem Gebet (wuḍūʾ) ungültig mache, welche Tierarten aus dem Meer gegessen werden dürfen und was nicht.
  • um die Autorität und Vorgehensweise eines bestimmten Königs oder Herrschers zu rechtfertigen oder ihm zu schmeicheln, indem Geschichten wie etwa über den Mahdī oder Daddschāl verwendet und ausgeschmückt werden, die mit der Lesung rein gar nichts zu tun haben.94
  • um die Interessen eines bestimmten Stammes oder einer Familie zu fördern. Berühmtestes Beispiel ist der Ausspruch (Ḥadīṯ), nach welchem Führungspersonen nur vom Stamme der Quraisch oder der Familie Muhammads (und sämtlichen Nachfolgern, selbst denen der 50. Generation nach ihm!) ausgewählt werden dürfen.
  • um sexuellen Missbrauch und Misogynie zu rechtfertigen, indem ʿAīschas Alter bis auf neun Jahre herabgesetzt wurde. Oder auch um Frauen davon abzuhalten, als Vorbeterin Gebete anführen zu dürfen.
  • um Gewalt, Unterdrückung und Tyrannei durch die Aussprüche zu rechtfertigen, in denen Angehörige der Stämme Uraina und Uqaila gefoltert oder Juden in Medina massakriert wurden und man eine Poetin für ihre kritische Poesie ermorden ließ.
  • um die Gemeinschaft der Gläubigen durch zusätzliche Rituale (wie etwa die sogenannten nawafil Gebete) zu beschäftigen, im Irrglauben, man erlange dadurch mehr Rechtschaffenheit. Hierbei ist Religion das sprichwörtliche Opium der Massen geworden.
  • um Aberglaube zu bestätigen und zu verbreiten wie etwa die Illusion der Wirkung von Magie, die Ritualisierung des Küssens des schwarzen Steines und der Kaʿba selbst. Dies geschieht meistens, um wirtschaftliche Interessen zu befriedigen, wie etwa die Werbung für Datteln aus der Adschwa-Region, die laut einem Ausspruch besonders gegenüber Gift und Magie wirksam und schützend seien.
  • um neue Verbote und Gebote im Namen Gottes einführen zu können wie etwa das Bilderverbot, das Musikverbot oder das Verbot von Schach, Gold und Seide.
  • um die damals verbreitete lokale, jüdische oder christliche Praxis in die Religion Gottes einzugliedern wie die Steinigung, die Beschneidung, das Kopftuch und das Einsiedleroder Mönchstum.
  • um vor-islamische Glaubensinhalte und Praktiken aufrechtzuerhalten. Beispiele: Fürsprache, Sklaverei, Stammestum und Misogynie.
  • um die Massen durch erfundene Geschichten voller irrsinniger Fantasien zufriedenzustellen, die man den Kindern erzählen kann, wie etwa die Himmelfahrts-Geschichte (Mirādsch) des Propheten Mohammed.
  • um Mohammed und seine Gefährten zu idolisieren und zu erhöhen und um den Gesandten Mohammed über andere Gesandten zu erheben, indem Geschichten in den Aussprüchen erfunden wurden, in denen er zahlreiche „Wunder“ vollbracht haben soll (wie etwa die Mondspaltung allein durch seinen Fingerzeig). Auch dass er in der Bezeugung (schahādah) als einziger Gesandte erwähnt wird, gehört in diese Kategorie.

Dies hat wieder einmal nichts mit der Lesung zu tun, ja es widerspricht ihr sogar diametral. Jede einzelne dieser Aussagen können mit den angeblichen Aussprüchen, die dem Propheten untergejubelt wurden, belegt werden und Kenner der Aussprüche wissen das auch. Ich habe die Quellen zu den hier verwendeten Aḥādīṯ bereits anderswo ausführlich analysiert. Deshalb verzichte ich hier auf eine Quellenangabe und fordere die Leserinnen und Leser auf, meine Aussagen als „Behauptungen“ aufzufassen, die sie erst noch überprüfen müssen (17:36).

Dieses Kapitel wird für viele Gottergebene, die sich als Sunnit oder Schiit bekennen, sehr schwierig zu verdauen sein, da ihr Weltbild in ihren Grundmauern angegriffen und kritisiert wird. Wir alle mussten an einem Zeitpunkt in unserem Leben die eine oder andere liebgewonnene Tradition verlassen, weil es nichts mit der Religion und Offenbarung Gottes zu tun hat. Die Wahrheit kann sowieso nicht hinterfragt und widerlegt werden, sofern man denn glaubt, dass es solch eine Wahrheit gibt. In der Wahrheitsfindung müssen wir eben stets bereit sein, unser komplettes Weltbild aufzugeben für die Wahrheit Gottes – in religiöser, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht. Dies ist der Inbegriff der Ergebung in Gott. Es geht nicht um mein Weltbild und mein Empfinden, sondern um die Wahrheit, die Millionen von Gesichtern hat und deshalb nicht immer in gewohnter Form zu erkennen ist.

Es wird so Gott will noch mindestens ein bis zwei Generationen dauern, bis sich die Gemeinschaft der Gottergebenen neuen Ideen und Lösungsvorschlägen gegenüber offen zeigt, obwohl diese offene Grundhaltung von Gott in der Lesung selbst verlangt wird (17:36, 39:18, 10:38–39). Der Mensch ist psychologisch so eingestellt, dass er sein Weltbild, koste was es wolle, verteidigen will.

Gott sei Dank gibt es die ersten Anzeichen dafür, dass dieser Umbruch stattfindet – denn nur so werden wir den Jugendlichen, die sich mit der Religion identifizieren möchten, eine vernünftige, starke und authentische Lebenshaltung anbieten können, die der Lesung in allen Aspekten treu bleibt, sie aber problemlos ihre deutsche, schweizerische oder österreichische Identität nicht nur beibehalten, sondern auch stärken können.

Die ersten Anzeichen dieses Umbruches sind zum Beispiel beim Theologen Mouhanad Khorchide zu sehen, der als bekennender Sunnit am 25.10.2014 zum neuen Hidschra-Jahr 1436 folgendes schrieb:

 

[…] Denn Mohammed kam mit einer Botschaft, die den verbreiteten Mainstream kritisch hinterfragt und die mit der herrschenden Tradition abgebrochen hat. Mohammed war für seine Zeit ein Revolutionär, der seine Mitmenschen zu kritischen Geistern erziehen wollte, die nichts einfach so hinnehmen. […] Es waren hauptsächlich die mündigen kritischen Geister, die ihm gefolgt sind und in seiner Botschaft eine Befreiungsbotschaft gesehen haben. Wer heute wissen will, ob er damals möglicherweise dem Propheten gefolgt wäre, möge sich ehrlich fragen, welche geistige Haltung er/sie innehält. Wie geht er/sie mit alten und mit neuen Ideen und Positionen um? Wie bereit ist er/sie sich mit traditionellen Gedanken/Ideen und Positionen kritisch auseinanderzusetzen und diese ständig auf deren Plausibilität zu überprüfen, und wie bereit ist er/sie, sich mit anderen/neuen Gedanken, Ideen und Positionen sachlich auseinanderzusetzen und diese auf deren Bereicherungspotentiale zu überprüfen, auch wenn sie „anders“ sind? Wie bereit ist er/sie etablierte Traditionen, die unplausibel erscheinen, evtl. zu verwerfen und sich neue Traditionen anzueignen? Ich befürchte, dass gerade vieler derer, die heute meinen, die alten Traditionen behüten zu wollen und diese daher zu unantastbaren Wahrheiten erklären, über die man nicht einmal denken darf, genau diejenigen sind, die am anfälligsten sind, eine sture Haltung einzunehmen und jede neue Idee oder Herangehensweise strikt abzulehnen, ohne sich wirklich die Chance zu geben, sich mit deren Inhalt auseinanderzusetzen […]. Genau Menschen mit dieser Haltung lehnten die Befreiungsbotschaft des Propheten ab und bekämpften diese mit allen Mitteln. […]

Gerade das etablierte Establishment, das vom vorhandenen System am meisten profitiert, wehrt sich gegen Veränderungen: „Jedes Mal, wenn wir einen Gesandten vor dir [Muhammad] zu einer Stadt entsandten, sagten die Wohlhabenden, die verschwenderisch lebten: „Wir fanden unsere Väter auf einem Weg und wir treten in ihre Fußstapfen.“ Der Gesandte sagte daraufhin: „Wenn ich nun aber mit einer Botschaft zu euch gekommen bin, die besser für euch ist, als was ihr als Brauch eurer Väter vorgefunden habt?“ Sie sagten: „Wir nehmen eure Botschaft nicht an.““ (43:23)95

 

Herr Khorchide hat hier im Prinzip nichts anderes zu vermitteln versucht, was er aus der Lesung selbst richtig erkannt hat:

 

2:170 Und wenn ihnen gesagt wird: Folgt dem, was Gott herabsandte. Dann sagen sie: Vielmehr folgen wir dem, was wir bei unseren Vätern vorfanden. Auch dann, wenn ihre Väter weder etwas verstanden noch Rechtleitung fanden?

 

Propheten sind revolutionäre Reformisten, die mit ihren Ideen äußerst erfolgreich waren, weil sie Gottes Unterstützung hatten – gerade weil sie nur die Offenbarung Gottes und nur sie allein aufrecht erhielten und ihre eigenen Ideen zur Seite schoben. Die Ableugner beschuldigen den Propheten des Verrats und der Untreue gegenüber den Ahnentraditionen und weisen jegliche Vernunft und jegliche Logik ab, weil es ihrem Weltbild widerspricht. Die sofortige, geistige, innere Reaktion „Wir haben sowas noch nie von unseren Vorvätern gehört!“ (sinngemäß auch: sowas wurde uns noch nie beigebracht!) ist mitunter einer der Reflexe, auf die wir Acht geben müssen, weil sie in der Lesung an unzähligen Stellen kritisiert wird. Wenn Sie die Lesung aufmerksam studieren, dann werden Sie sehen können, dass jeder Prophet mit derselben Problematik konfrontiert wurde, zum Beispiel die Propheten Hūd, Ṣāliḥ, Schuʿayb, Abraham, Moses und Mohammed: 23:24, 7:70, 11:62, 11:87, 26:74, 28:36, 34:43.

 

31:20–21 … Und doch debattiert manch einer ohne Wissen, Rechtleitung oder klares Buch über Gott. Wenn ihnen gesagt wird: “Folgt dem, was Gott herabgesandt hat!”, sagen sie: “Wir folgen den Wegen, auf denen wir unsere Väter fanden.” Auch dann, wenn der Satan sie zur Qual der Feuerglut einlädt?

 

Es ist nur zu einfach, Ausreden zu erfinden, dass doch die Mehrheit der Gelehrten (unsere Vorväter) dies oder jenes sagen und wir deshalb nicht anders denken dürften. Diese Vorväter wurden in ihrer Gesamtheit zu Autoritäten erhoben, als ob sie eine Ermächtigung hätten, uns und unsere Denkweise im Namen Gottes bestimmen zu dürfen! Die Verwirrung ist besonders dann groß, wenn die Aussagen der Gelehrten den Inhalten der Lesung widersprechen, wie im Falle der Steinigung oder der Todesstrafe für Glaubensabfällige (Apostate) oder noch schlimmer: die Katastrophe der Nāsich-Mansūch-Geschichte (Abrogation), in der ganze Passagen aus der Lesung für null und nichtig erklärt werden, weil sie irgendwelchen Aussprüchen (aḥādīṯ) widersprechen oder weil gar behauptet wird, die Lesung habe in sich selbst Widersprüche! Und dies trotz des Verses 4:82, in dem uns Gott zu verstehen gibt, dass wenn die Lesung Widersprüche hätte, sie auch nicht von Gott sein könne!

Eine der typischen Reaktionen wird auch sein, dass Gott doch niemals zulassen würde, dass so viele Menschen für über 1400 Jahre dem falschen Weg gefolgt sein sollen? Woher will man denn wissen, was Gott wie tut? Wir können doch nicht einfach unser eigenes Empfinden Gott überstülpen, als ob sich Gott uns anzupassen habe! Darüber hinaus ist diese Frage nach den früheren Generationen gleichwertig zur Frage des Pharao, dem Tyrannen und Despoten:

 

20:51 Er (Pharao) sagte: „Was ist denn mit den vorherigen Generationen?“

 

Gott hat sie nicht vergessen (20:52) und so verstehen wir, dass die Frage nach den früheren Generationen hinderlich ist in der Suche nach der Wahrheit und eher einem ignoranten Verhalten wie bei Pharao entspricht.

Natürlich ist Gott der Barmherzige und mag es nicht, wenn Seine Diener ableugnen (39:7), doch Er wird Seine eigene Vorgehensweise (sunna) nicht ändern, weil es einem Menschen nicht passt. Denn Gott sagt uns klar und deutlich:

 

6:116 Wenn du den meisten derer auf Erden gehorchst, werden sie dich abirren lassen von Gottes Weg. Sie gehen gewiss nur Vermutungen nach und raten nur.

12:106 Und die meisten glauben nicht an Gott, ohne Ihm beizugesellen.

 

Es ist leicht einzusehen, dass die gesamte Ḥadīṯ-Wissenschaft auf Vermutungen gegründet ist. So zum Beispiel auf den Vermutungen darüber, dass der Gewährsmann XY historisch gesehen eine gute Persönlichkeit war und die Ḥadīṯ-Experten ihn deshalb als berechtigt ansehen, überhaupt erst Aussprüche im Namen des Propheten zu überliefern. Jedoch werden hierbei die ersten Generationen in der Überliefererkette (isnād) gar nicht überprüft, was auch damals schon nicht mehr möglich war. Deshalb hat man diese ersten Generationen weitgehend pauschal als glaubwürdig betrachtet – ohne sie zu kennen!

Unzählige Definitionsunterschiede der sogenannten Muḥaddiṯūn (Ḥadīṯ-Gelehrte), was beispielsweise Gewährsmänner oder auch „Ṣaḥāba“ (Prophetengefährten) konkret bedeuten, zeigen dies offen und klar, dass die gesamte Ḥadīṯ-Wissenschaft mittels einer komplexen, meist auf die Überliefererkette beschränkten Systematik der Vermutungen und Schätzungen gegründet ist. Und in der Lesung wird diese Haltung klar abgelehnt und kritisiert (6:116,148, 10:36,66, 53:23,28).

Wieso wurde dies alles überhaupt in erster Linie von Gott zugelassen, wo Er doch verspricht, dass Er Sein Wort schützen wird (15:9)? Sein Schutz betrifft die Offenbarung, nicht aber all die Interpretationen, welche die Menschen in ihren Kommentarbüchern (tafāsīr, plural von tafsīr) zur Lesung anführten. Es gibt eine Passage in der Lesung, welche uns über diese Erfindungen über die Religion und den theologischen Gesamtsinn all dessen aufklärt:

 

6:112–113 Und auf diese Weise machten wir für jeden Propheten Feinde: Die Satane der Menschen und der Dschinn. Sie geben einander geschmückte Aussagen ein als Täuschung. Und hätte dein Herr gewollt, hätten sie es nicht getan. So lass sie mit dem, was sie erfinden. Dies, damit die Herzen derer, die nicht an das Letzte glauben, ihm zugeneigt sind, und damit sie daran Gefallen haben und begehen, was sie begehen.

 

Mit all diesen Aussprüchen werden also die Ableugner von der Lesung ferngehalten. Diese Menschen interessieren sich gar nicht aufrichtig für die Lesung und Gottesworte. Sie wollen sich gegenseitig das diesseitige Leben schön machen durch schmückende Aussagen. In Wahrheit täuschen sie nur sich selbst und weisen vom Weg Gottes ab und weisen stattdessen zum Weg der Steinigung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Vernunftlosigkeit.

Es ist eine interessante Tatsache, dass mit dem Wort „eingeben“ aus der Übersetzung wörtlich auch offenbaren gemeint ist und dieselbe Wurzel beinhaltet, die auch für das Wort Offenbarung (waḥy) gebraucht wird und im Zusammenhang mit der Lesung steht (zum Beispiel in 6:19). Es ist also nicht nur einfach so zu verstehen, dass diese Wörter erfunden werden und man sich damit die Zeit vertreibt, sondern vielmehr, dass sie als Offenbarungen gehandelt werden und so den Menschen geistig und intellektuell eingeflößt, also „offenbart“ werden. Dass Asch-Schāfiʿī in seinem Buch Ar-Risālah die außerkoranischen Aussprüche, die dem Propheten angedichtet werden, als „Offenbarung“ bezeichnete, fällt besonders in diese Kategorie von 6:112–113. Der Grund, wieso diese Menschen nicht wirklich ans Jenseits glauben, ist die Tatsache, dass diese Menschen die Lesung nicht wirklich ernst genommen haben, weil gleich im darauffolgenden Vers (6:114) betont wird, dass die Gläubigen außer Gott keinen Richter suchen sollten. Solche also, die diesen geschmückten Reden zugeneigt sind, die als „Aḥādīṯ“ bekannt sind, suchen in Tat und Wahrheit weitere Richter neben Gott, obwohl Er unmissverständlich betont, dass Sein Wort vollkommen ist und ausreicht (6:114–115, 7:3, 11:1, 12:1, 44:58).

Es ist deshalb die Zeit gekommen für uns, dass wir uns lossagen von dieser Autoritätsidee und nur die eine und einzige Autorität anerkennen: Es gibt keine Gottheit außer dem einen und einzigen Gott.

 

39:36 Genügt Gott seinem Diener nicht? Und doch möchten sie dich mit jenen außer Ihm in Furcht versetzen.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Das Gesicht des eigenen „Ich“ von der Lesung trennen

Kultureller Kontext und psychischer Hintergrund des Lesenden

Es ist von äußerster Bedeutsamkeit, die eigene Seele zu kennen, um die Unterscheidung vornehmen zu können, was von mir oder meinen Neigungen kommt und was ich möglichst objektiv erkannt habe.

Es ist leicht einzusehen, dass gewisse Ausdrucksweisen der Lesung einer Zeit entsprechen, die in den Kontext des siebten Jahrhunderts eingebettet sind. Ein Beispiel:

 

6:141 Und Er ist es, der Gärten mit Spalieren und ohne Spaliere entstehen läßt, sowie die Palmen und das Getreide verschiedener Erntesorten, und die Öl- und Granatapfelbäume, die einander ähnlich und unähnlich sind. Eßt von ihren Früchten, wenn sie Früchte tragen, und entrichtet am Tag ihrer Ernte, was als Rechtspflicht darauf steht, aber seid nicht maßlos — Er liebt ja die Maßlosen nicht.85

 

Die Entrichtung dessen, was als „Rechtspflicht“ übersetzt wurde, betrifft die sogenannte „Läuterung“ (zakāh), die wir abgeben müssen. Wieso hier zakāh als Läuterung verstanden wird, soll nicht das Thema sein, nur so viel: Die entsprechende Wurzel hat in seiner Grundbedeutung die Idee einer Reinigung und Läuterung. Das Wort wurde deshalb verwendet, weil die Abgabe von materiellen Gütern wie auch die Beisteuerung zur Verbesserung sozialer Umstände als die Läuterung der eigenen Seele und des eigenen Zustands wie auch den anderer bedeutet. Das Wort bedeutet nicht, wie traditionell übersetzt, einfach „Almosenabgabe“ oder dergleichen, sondern kann am ehesten als die Aufforderung „steuert zur Reinigung/Läuterung/Verbesserung bei“ verstanden werden.86

Wenn wir also 6:141 betrachten, so sehen wir, dass vom „Tag der Ernte“ die Rede ist und heute werden wohl die wenigsten der Gottergebenen Bauern sein. Aus diesem Grund ist der Vers in seinen historisch-zeitlichen Kontext zu setzen, damit wir eine für uns gültige Ableitung gewinnen können: der Tag der Ernte ist heute der Tag, an dem wir unser Einkommen erhalten. Anders also als die traditionellen Gelehrten uns weismachen wollen, ist die Läuterung (zakāh) nicht einmal im Jahr zu zahlen, sondern jeden Monat, wenn man den Lohn erhält!

Dies ist nun ein einfaches Beispiel dessen, wie die Lesung in einen zeitlichen Kontext gesetzt wird. Was aber viel wichtiger ist, aber gleichsam schwerer, dass wir uns selbst in einen historischen Kontext unserer Zeit stellen, damit wir möglichst differenziert den Text in der Lesung betrachten können.

Dabei ist aber nicht nur wichtig, in welchen politischen oder sozialen Umständen man lebt, sondern auch der emotionale Kontext, die eigene Psyche. Denn unweigerlich werden meine Gefühle eine sehr große Rolle spielen in der Art und Weise, wie man die Welt sieht. Dies alles zu erkennen ist unabdingbar, um einzusehen, wieso einer Person gewisse Ideen oder Gedanken missfallen, ohne dass sie ihnen wirklich Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der Satan steckt bekanntlich im Detail, wenn wir diese Details nicht selber bereits bereinigt und ausgefüllt haben. Ich möchte deshalb mich selbst in den zeitlichen Kontext setzen: Mein historisch-zeitlicher Kontext ist der der Schweiz aus der Übergangszeit vom 20. ins 21. Jahrhundert, in der die technologische Entwicklung rasant voranschreitet dank der mathematischen Wissenschaften wie der Physik, der Mathematik oder den Ingenieurswissenschaften. Meine Eltern sind gebildete Menschen, die in der Türkei und in Kanada studiert haben und wegen der Arbeit in die Schweiz gezogen sind. Da mein Vater einen Doktor in Geophysik innehat, wurde ich in eine mathematische Studienrichtung gedrängt, obwohl ich Tontechnik studieren wollte. Mein Vater aber meinte, ich solle „was Rechtes“ studieren.

Rational gesehen liebe ich es, Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen und sie zu verstehen, was natürlich mit dem technologischen Fortschritt unserer Zeit zu tun hat. Auch mein Mathematikstudium hat einen großen Anteil daran, dass ich fast alles im Leben analytisch betrachten will. Auch mein Beruf als Softwareentwickler hat seinen Beitrag.

Zusammen mit der Tatsache, dass ich meine erste Beziehung mit einer Christin hatte, als ich rückblickend gesehen noch ein „Papiermuslim“ und nicht wirklich praktizierend war, und ich so vom Christentum durch sie und ihre Eltern ein positives Bild gewann, und den ganzen politischen Geschehnissen in der Welt, wie etwa der 11. September, Saddam Hussein, Al Qaeda, Kopftuchdiskussionen, der wissenschaftlich miserablen Lage der sich muslimisch nennenden Bevölkerung in Ländern wie Pakistan, Iran, Afghanistan, Syrien und Türkei wurde ich immer mehr und mehr damit konfrontiert, wieso die „Religion“, in welche ich hineingeboren wurde, so rückschrittlich zu sein schien. Dies, obwohl es muslimische Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen aus dem Mittelalter wie Ibn Sina (Avicenna), Al-Dschazari, Maryam Al-Astrolabī (Maryam Al-Idschliyyah) waren, die die Wissenschaften weiter entwickelten und dann nach Europa brachten. So ist beispielsweise Dank der „camera obscura“ von Ibn Al-Haytham (Alhazen) erst die gesamte Filmindustrie und Filmerei möglich geworden! Wieso sind die heutigen Muslime also nicht wie Al-Haytham? Wenn man sich ihre Geschichten durchliest, so findet man heraus, dass diese Wissenschaftler sehr skeptisch waren, was die sogenannten Aḥādīṯ angeht (bestes Beispiel: Ibn Chaldūn).

Mehr und mehr wurde ich auch mit der sich schleichend ausbreitenden Angst vor dem Islām konfrontiert und fühlte mich darüber hinaus weder in der Türkei noch in der Schweiz wirklich zuhause, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mir selbst sagte: ich bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen und ging hier zur Schule, werde so Gott will hier leben und heiraten, also beantrage ich den schweizer Pass! Selbst bei der Einbürgerung wurden mir von zwei Beamten, einer Frau und einem Mann, Fragen gestellt wie, wie ich mit den „unüberbrückbaren Unterschieden zwischen Christentum und Islām denn klarkommen wolle“, worauf ich antwortete, dass diese menschengemacht sind. Diese ständige Konfrontation mit meiner eigenen Religion, der Rückschrittlichkeit der „muslimischen“ Nationen und des immensen Wissensreichtums der Geschichte wiederum derselben Nationen führte dazu, dass ich nach einer emotional gefestigten Identität suchte, die nicht ständig hinterfragt werden musste.

Alles in allem nahm ich mir deswegen vor meinem Mathematik-Studium ein Jahr Zeit, um meine eigene Religion genauer kennenzulernen und las jeden Tag Bücher und übersetzte dann auch zwei Bücher und ein Büchlein aus dem Englischen und Türkischen ins Deutsche.

Emotional gesehen war die Lesung für mich also ein Zufluchtsort, in der meine intellektuellen und persönlichen Fragen zufriedenstellend beantwortet wurden. Ich fühlte mich bei Gott allein aufgehoben und verstanden. Der behauptete Code 19, ein mathematisches Muster in der Lesung, verhalf mir dann zur Motivation, Mathematik zu studieren, um nach genaueren Antworten zu suchen. Ich gehöre also zur zweiten Generation („Secondos“) mit Migrationshintergrund, die ihre Identität in der eigenen Religion gesucht und auch studiert haben.

Obwohl ich dafür hätte prädestiniert sein können, bin ich aus einem einfachen Grund nicht in salafistischen Kreisen gelandet: Mein gesamtes Umfeld war stark intellektuell geprägt und meine Eltern kannten berühmte Persönlichkeiten aus der Türkei wie Yaşar Nuri Öztürk oder Edip Yüksel persönlich, bei welchen wir auch übernachtet hatten, als wir zu Besuch waren. Meine Eltern studierten in der Schweiz im Kanton Aargau mit Gleichgesinnten die Lesung und jeden Freitag versammelten wir uns und beteten das Freitagsgebet. Ich wurde dabei nie gezwungen, sondern verspürte bereits als Kind den Drang, das Beten zu lernen. Natürlich war das stark religiös geprägte, familiäre Umfeld auch ein ausschlaggebender Punkt, mich mit der Lesung und ihren Inhalten näher zu befassen. So nervte ich ständig meine Mutter, bis sie mir das Beten beibrachte. Wenn ich als Kind Fragen zur Religion hatte, wie etwa „Wenn alles einen Anfang hat, hat Gott auch einen Anfang?“ oder „Wie können wir Gott sehen, wenn unsere Blicke ihn laut Koran nicht erreichen?“ wurden sie zuhause oder in diesem Umfeld Gleichgesinnter nicht unterdrückt. Manche Fragen waren zu schwierig für meine Eltern und sie meinten zeitweise, ich solle meine Frage beispielsweise Şerafettin Durmuş stellen, der ebenso bekannt war für seine scharfsinnigen Artikel, aber relativ gesehen nicht so berühmt wie zum Beispiel Edip Yüksel. Ich wuchs also in einem Umfeld auf, in dem Gottergebene begonnen hatten, ihre eigene Tradition und Religion trotz aller sozialen Widerstände tiefgreifend und weitgehend unabhängig von den Traditionen zu hinterfragen.

Ohne es zu merken wurde ich auf diese Weise intellektuell weiter angeregt, weshalb ich von Beginn an eine Haltung entwickeln konnte, welche relativ frei war von der Tradition, die fälschlicherweise mit der Religion verbunden wurde. Ich betrachte Aberglauben wie Exorzismus, Talismane, Magie und dergleichen eher rational, nüchtern und als Scharlatanerie. Ich bin vielmehr angetrieben durch die Diskrepanz zwischen den Inhalten der Lesung und dem, was die „Muslime“ daraus verstehen, und stehe vor der von mir wahrgenommenen emotionalen und intellektuellen Herausforderung der „Rechtfertigung“ meines Glaubens aufgrund der Tatsache, dass viele „westliche“ Länder in gewissen Aspekten die Lesung besser einhalten als die sogenannten „muslimischen“ Länder.

So bin ich bereits emotional aufgrund meiner Erfahrung eher dazu geneigt, Demokratie als etwas Willkommenes zu akzeptieren, auch wenn die gelebte Demokratie in Europa bei Weitem nicht perfekt ist. Der Umstand, dass ich Gottes Worte dahingehend verstehe, dass wir ein föderalistisch-laizistisches Staatskonzept mit den Prinzipien der Beratung (schurá) und einer staatlichen Vereinbarung (ʿahd) zum Beispiel in Form einer Bundesverfassung umsetzen sollen, liegt sicherlich auch in meinem sozio-politischem Umfeld begründet.

Um den Anschluss an die gottergebene Aufklärungszeit aus dem Mittelalter zu finden, sehe ich es deshalb als meine Pflicht, die Tradition von der Lebensordnung Gottes zu trennen, um einerseits eine humanere Lebensweise anzuwerben und um andererseits die geistigen, psychischen, politischen und sozialen Barrikaden zu entfernen, welche im Weg stehen für eine gesunde Seele – rational wie auch emotional.

Die Aufklärung kann nicht stattfinden, wenn wir in der Tradition stecken bleiben und die Lesung nicht ins heutige Zeitalter übersetzen. Wir stehen vor neuen Herausforderungen, welche in der Tradition nicht oder nicht zufriedenstellend beantwortet wurden.

Wenn wir wissenschaftlich, politisch und sozial vorwärts kommen wollen, müssen wir die Essenz der Lesung verstehen und umsetzen und uns befreien von jeglichen falschen Autoritäten wie etwa Buchārī und den angeblichen Gefährten des Propheten.

Es gibt keine Gottheit außer Gott, dem Schöpfer.

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Die Werkzeuge der Vernunft

In diesem Kapitel werden wir uns den uns zur Verfügung gestellten Werkzeugen des Denkens widmen. Dieses Kapitel ist meines Erachtens eines der wichtigeren in diesem Buch, da selbst eine Vielzahl der „muslimischen“ Intellektuellen Aussagen von sich geben, die keiner mit einem gesunden Menschenverstand und einer Mindestportion an Ausbildung auszusprechen wagen würde. Wieso ich in dieser Hinsicht gerade die Logik in den Vordergrund stelle, also eine mathematische Disziplin, hat nicht nur damit zu tun, dass ich selbst Mathematik studiert habe, sondern auch damit, dass viel im Verstehen der Lesung vereinfacht wird, wenn wir zumindest die grundlegenden Prinzipien des Schlussfolgerns beherrschen und die häufigsten Fehler vermeiden.

Oder um es in den Worten Karl Mengers zu sagen:

 

Nicht etwa, daß bei größerer Verbreitung des Einblicks in die Methode der Mathematik notwendigerweise viel mehr Kluges gesagt würde, aber es würde sicher viel weniger Unkluges gesagt.

– Karl Menger

 

Hierbei werde ich keine bestimmte Logik von Grund auf neu aufbauen. Dazu gibt es viele gute Bücher auf dem Fachmarkt. Wichtig ist zu wissen, dass es nicht die, also nur eine Logik gibt, sondern mehrere. Worauf ich mich beziehen will ist die sogenannte klassische Aussagenlogik, also die Art von Logik, welche sich mit den Aussagen und deren Verknüpfungen befasst. Mithilfe dieser Logik werde ich Aussagen aus der Schrift untersuchen oder verknüpfen. Sie müssen keine studierte Mathematikerin oder ein studierter Mathematiker sein, um die wichtigsten Regeln der Aussagenlogik begreifen und anwenden zu können. Wichtig ist einfach, dass Sie Interesse haben, sich selbst nicht in die Irre zu führen durch Wunschdenken, Verleugnung oder Angst. Die Wahrheit wird uns freisetzen und uns alle zu einem friedvolleren Leben führen.

Da ich wie schon erwähnt die Regeln der Aussagenlogik nicht neu erklären will, möchte ich mich doch die wichtigsten kurz erwähnen. Eine Aussage hat entweder den Wahrheitsgehalt wahr oder falsch und es gilt das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (es gibt nichts zwischen wahr und falsch). Dieses Prinzip wird es uns vereinfachen, Aussagen auf ihre Plausibilität zu überprüfen.

Aussagen können verbunden werden durch „und“, „oder“ oder „nicht“. Aus diesen leiten sich dann auch Begrifflichkeiten wie „A genau dann, wenn B“ (Gleichwertigkeit) und „wenn A, dann B“ (Bedingung) ab für Aussagen A und B. Diese Regeln können erweitert oder auch zusammengefasst werden, wie zum Beispiel in den bekannten De Morgan Regeln.

Wichtig hierbei ist, dass Sie beispielsweise verstehen, dass die Aussage „wenn A, dann B“ gleichwertig ist zur Aussage „wenn nicht B, dann nicht A“. Überprüfen Sie diese Behauptung, um ein Gefühl dafür zu erhalten, dass Ihnen die technische Seite der Mathematik, der Formalismus zu weiteren Aspekten verhilft. Sie sehen das Eine, denken aber an das Andere und erhalten das Dritte aus der ganzen Sache!

Wieso kümmern wir uns also um die Logik? Was bringt die Logik mir in meinem Alltag? Bedeutet Logik, dass ich meine Gefühle und Instinkte total abschalte? Nein!

Die Logik ist zuerst einmal eine Worthülse, wenn wir nicht genauer definieren (oder es zumindest versuchen zu definieren), was sie bedeutet. Viele von uns denken bei der Logik an die Alltagslogik, die mit der Disziplin der mathematisch-philosophischen Logik nur am Rande etwas zu tun hat. Dass einem etwas „logisch erscheint“ sagt nur etwas darüber hinaus, dass dieser Gedanke oder diese Idee einem selbst gefällt. So sagt die Alltagslogik mehr über die Person aus als über den Wahrheitsgehalt der Idee selbst.

Durch die Regeln des logischen Schlussfolgerns können Sie Aussagen kombinieren und sie auch hinterfragen. Im besten Falle können Sie herausfinden, ob Ihre Aussage es überhaupt wert ist, diese zu überprüfen und ihr nachzugehen, oder ob sie von vornherein falsch formuliert wurde. Der Nutzen der Logik ist also immens und selbst ihre Gefühle, ihre Intuition können Ihnen dabei helfen, nützliche und wertvolle Aussagen überhaupt erst zu finden. Doch die Überprüfung jeglicher Aussagen ist eine gottergebene Pflicht!

 

Seit man begonnen hat, die einfachsten Behauptungen zu beweisen, erwiesen sich viele von ihnen als falsch.

– Bertrand Russell, britischer Mathematiker

 

Trügerische Logik des Alltags

Viel wichtiger als der Bezug auf die klassische Aussagenlogik ist meines Erachtens die Kenntnis der häufigsten Fehler, die man in der Begründung der eigenen Aussagen begeht, damit man sie vermeiden kann.

Es gibt sehr viele Fallen der Alltagslogik, weshalb ich eine kurze Umschreibung der meines Erachtens häufigsten logischen Fehlern bieten will. Wer sich selbst in den Gebieten der Logik und der Wahrheitsfindung weiter entwickelt, kann das entwickeln, was ich als die rationale Gesundheit der Seele (nafs) bezeichne. Denn für eine ganzheitlich gesunde Seele braucht es nicht nur die spirituelle und emotionale Gesundheit der Seele, welche nicht nur das Herz und die Empfindungen umfasst, sondern ebenso die rationale Gesundheit, wobei der Verstand als ein unzertrennlicher Teil der Seele aufgefasst werden muss.

Insbesondere folgende logische Fehler sind leicht zu vermeiden:

Strohmann-Prinzip:

Ich erfinde eine Aussage, schiebe sie meinem Gegenüber zu und widerlege dann diese Aussage, die ich mir selbst zusammengebastelt habe zu diesem Zweck. Das Prinzip heißt deshalb Strohmann-Prinzip, weil man sich seinen eigenen Strohmann bastelt, den man leicht schlagen kann. Unterstellungen fallen in diese Kategorie, da sie scheinbar unser Gegenüber schwächen. Eine unredliche Art, die der Wahrheitsfindung nur im Weg steht und unnötig Zeit raubt.

 

Annahmen generalisieren:

Da Atome unsichtbar sind, und ich aus Atomen bestehe, bin ich selbst unsichtbar. Da ich aber nicht unsichtbar bin, gibt es keine Atome. Hier wird nicht die Annahme generalisiert, dass Atome unsichtbar sind, sondern die versteckte Annahme dahinter, dass unsere Augen das Maß aller Dinge seien

 

Falsche Kausalität (Korrelation):

Nur weil etwas miteinander korreliert, also miteinander in Bezug steht, heißt das noch lange nicht, dass sie sich gegenseitig verursachten. Nur weil in einer Studie herausgefunden wurde, dass Kaffee mit erhöhtem Krebsrisiko zusammenhängen kann, heißt das noch lange nicht, dass Kaffee die Ursache ist. Vielleicht sind Kaffeetrinker auch öfters Raucher als Nicht-Kaffeetrinker?

 

Zirkelschlussprinzip:

Die Aussage X ist wahr, weil in Y steht, dass X wahr ist. Oder ein anderes Beispiel: Die Offenbarung Gottes muss wahr und geschützt sein, weil es ja in Vers 15:9 steht!

 

Appell an die Emotion:

Etwas ist wahr, weil uns die Geschichte so berührt hat oder die vortragende Person dermaßen rührend war und man es ihr nicht zutrauen kann, dass sie lügt. Andererseits: Insbesondere der direkte Appell an die Emotionen im Sinne von „seid ihr etwa tolerant gegenüber Kinderschändern, dass ihr das Gesetz XY nicht akzeptiert?“ fällt in diese Kategorie.

 

Mehrheitsdenken:

Etwas ist wahr, weil die Mehrheit der Menschen dasselbe sagt. Dies ist leider immer noch einer der häufigeren Fehler, den viele Sunniten begehen, indem sie etwa denken: Wir als Sunniten sind zahlreicher als die Schiiten, hätte Gott dies nicht gewollt, wäre dies nicht passiert, also haben die Sunniten Recht!

 

Autoritätsdenken:

Etwas ist wahr, weil es Prof. Dr. Dr. Dr. Müller sagt oder weil es Scheich Dr. Dr. Ibrahim sagt. Auch wenn es oft stimmt, dass Fachleute auf ihrem Gebiet besser Bescheid wissen als andere, heißt das noch lange nicht, dass sie deshalb immer Recht haben müssen. Der Wahrheitsgehalt misst sich nicht an der Person, sondern an der Aussage (dem Inhalt) selbst.

 

Appell an die Natur:

Weil XY in der Natur vorkommt, ist es „natürlich“. Gemäß dieser Aussage wären also sämtliche Pädophilen und Mörder Menschen, die wir rechtlich nicht mehr belangen dürften. Ein anderes Beispiel wäre: über 1500 Tierarten in der Natur zeigen homosexuelle Züge (und nicht „sind sexuell“!), also ist Homosexualität etwas Natürliches.

 

Schlechte Begründung bedeute Behauptung sei auch falsch:

Dies ist besonders tückisch, da selbst dann, wenn eine Behauptung vom Vortragenden grottenschlecht oder gar falsch begründet wurde, dies noch lange nicht bedeutet, dass die Wahrheit der Behauptung widerlegt sei. Beispiel einer schlechten Begründung einer aber höchstwahrscheinlich wissenschaftlich gesicherten Behauptung: Die globale Erderwärmung ist von den Menschen verursacht, weil meine Tochter Verdauungsprobleme hat.

 

Von A gleich Z ableiten (schlüpfrige Argumente):

Von der Behauptung einer Sache gleich übertriebene Konsequenzen erwarten. Nur weil etwas eintrifft, das mir nicht gefällt, muss ich nicht gleich die Weltkatastrophe erwarten. Wenn etwa die gleichgeschlechtliche Heirat erlaubt werden soll, so heißt das nicht, dass damit Türe und Tore offen sind für die Heirat von Minderjährigen, Tieren oder dergleichen.

 

Ad hominem:

Die Person angreifen statt die Aussage der Person. Beispiel: „Kerem hat mit seiner Aussage XY Unrecht, weil er keine Professur in klassisch-orthodoxer Theologie des Fiqh hat.“ Ich mag zwar keine Professur innehaben, doch vielleicht sage ich etwas, das von Belang ist? Wenn ich die Unwahrheit erzähle, kann man das ignorieren, aber wieso sollte man irgendeine Person ignorieren, die die Wahrheit erzählt, nur weil die Person selbst nicht „beliebt“ ist oder diese Person keinen fachlichen Abschluss hat? Akzeptieren wir die Wahrheit nur dann, wenn sie hinter Abschlüssen und Diplomen auftaucht?!

 

Tu quoque (du auch):

Mir wird vorgeworfen, dass meine Aussage XY falsch war. Meine Reaktion darauf: Ja, Ihre Aussage YZ war auch falsch! Hier versuche ich, meinen Fehler zu vertuschen, indem ich auf den inhaltlichen Fehler des Angreifers aufmerksam machen will. Selbst dann, wenn ich Recht behalten sollte, dass sein Fehler falsch war, so möchte ich doch, wenn mein Fehler auch falsch war, dies der Wahrheit, also Gott zuliebe wissen wieso?

 

Anekdoten-und Erfahrungsbeweise:

Begründungen einer Aussage auf Anekdoten und Erfahrungen können nicht angenommen werden, weil diese nur schwer überprüf- oder wiederholbar sind. Wie kann ich den Traum eines anderen darauf überprüfen, ob der Traum tatsächlich so stattgefunden hat? Die Wahrheit ist die Wahrheit, weil sie nicht von einer Person abhängt. Da Gott die Wahrheit ist, formulieren wir das um: Gott und Sein Wirken sind nicht von einer Person abhängig.

 

„Zu komplex“, unverständlich:

Dieser Fehler ist leider gang und gäbe, insbesondere, wenn es sich um Mathematik handelt. Aussagen wie „Gott will doch von uns nicht, dass wir nach mathematischen Eigenschaften suchen, da nur wenige Menschen überhaupt Mathematik verstehen“ gehören in diese Kategorie. Nur weil man sich selbst und die Mehrheit der Menschen als zu dumm ansieht, heißt das nicht, dass die Wahrheit sich dem angeblichen Dummheitsniveau der Menschen in einem bestimmten Bereich anzupassen hat!

 

Schwarz-Weiss-Vereinfachung:

Entweder ist die Aussage wahr, oder sie ist gänzlich falsch! Dies ist ein logischer Fehler, der schwieriger zu entdecken ist, aber prinzipiell kann man mit Gewissheit sagen, dass nur weil die Gesamtaussage nicht ganz korrekt war, die Aussage nicht vollständig zu verwerfen sei. Es kann durchaus sein, dass die Aussage wahr wird, wenn man sie ein wenig inhaltlich ändert.

 

Postulieren, im Nachhinein rationalisieren oder Unwahres einfach wiederholen:

Im Nachhinein lässt sich vieles erklären und eine Ordnung (er)finden. Dies ist ein besonders hartnäckiger Fehler der Alltagslogik, weil man dazu psychologisch prädestiniert ist, sich selbst und sein eigenes Weltbild zu verteidigen und zu rechtfertigen.

 

Fragen mit unterschwelligen Annahmen:

Dies könnte auch als ad hominem aufgefasst werden. Eine Frage wie „Haben Sie Probleme mit Drogen?“ hat den unterschwelligen Ton einer Unterstellung.

 

Beweislast:

Ich behaupte, dass XY nicht möglich ist, beweise mir das Gegenteil! Hier ist der Fehler, dass der Behauptende eigentlich die Beweislast trägt und nicht der, dem die Behauptung an den Kopf geworfen wird. Dies wird dann besonders tückisch, wenn man über eine Person sagt „du kannst dies oder das nicht“, da sich diese Aussage leicht falsifizieren ließe, indem eben der andere sein Können unter Beweis stellt. Nichtsdestotrotz liegt die Beweislast beim Behauptenden.

 

Selektive Wahrnehmung:

„Jedes Mal, wenn ich an meine beste Freundin denke, ruft sie an!“ Das ist ein typischer Fehler vieler Menschen, weil sie nur das wahrnehmen, was in das entsprechende Konzept passt. Es gibt eigentlich vier Fälle, die man für diese Aussage untersuchen müsste:

  1. Ich denke an eine Person und sie ruft an.
  2. Ich denke an eine Person und sie ruft nicht an.
  3. Ich denke nicht an diese Person und sie ruft an.
  4. Ich denke weder an diese Person noch ruft sie an.

Erst die gesamtheitliche Betrachtung all dieser Fälle wird Aufschluss darüber geben, ob der Anruf wirklich immer dann eintrifft, wenn an diese Person gedacht wird. Nur einzelne Betrachtungsweisen vorzunehmen hinterlässt Lücken in der Analyse, die leicht angegriffen werden können.

 

Mehrdeutigkeit:

Wörter können mehrdeutig sein, insbesondere in Gesprächen. So kann „Dieser Bereich wird zur Verhütung von Straftaten durch die Polizei videoüberwacht.“ mutwillig falsch verstanden werden, dass die Polizei Straftaten begehe. Viel besser wäre es stattdessen nachzuhaken, was genau gemeint wurde.

 

Quellenkritik (kommt von / ist aus X, deshalb ist es wahr/falsch):

Ähnlich wie im Falle von ad hominem wird beispielsweise behauptet, dass eine Aussage XY nicht wahr sein kann, weil sie im Buch von Buchārī auftaucht. Selbst wenn Buchārī ein Mörder und Psychopath gewesen wäre, so müsste man stets seine Aussagen analysieren statt zu sagen: Weil es im Buch von ihm steht, ist es nicht richtig.

 

Der Irrtum des Glückspielers:

Ein weiterer häufiger Fehler ist der Irrtum des Glücksspielers, der aus dem Bereich der Glücksspieltheorie entstammt. Dabei wird die Erwartungshaltung beschrieben, dass man beispielsweise bei einem Münzwurf fälschlicherweise nach zwanzig aufeinanderfolgenden Treffern auf Kopf die Erwartungshaltung hat, dass beim nächsten Wurf bestimmt die Zahl kommen muss. In Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit für Kopf oder Zahl genau gleich hoch wie vorher.

 

Falsche Kompromisse:

Ein Beispiel für einen falschen Kompromiss sei wie folgt gegeben: Ich sehe ein, dass meine eigene Aussage nicht stimmt. Da mir aber die Aussage meines Gegenübers immer noch nicht passt, schlage ich deshalb einfach den Mittelweg ein. Dies ist deshalb falsch, weil die Hälfte von falsch und wahr immer noch falsch ist! Wenn man zum Beispiel damit aufhört zu sagen, dass die traditionellen Ḥadīṯ-Bücher restlos wahr seien, aber stattdessen meint, dass man ohne diese die Religion auch nicht verstehe und deshalb einen Mittelweg einschlagen muss, der begeht genau diesen Fehler des falschen Kompromisses – gleichgültig davon, ob dieser Weg richtig wäre oder nicht, die Begründung war falsch.

Ich bin mir sicher, dass ich in diesem Buch irgendwo einen dieser Fehler auch begangen habe. Besonders die Illusion, dass ich es ja „wissen muss“, weil ich Mathematik und Logik studiert habe, erleichtert es solchen Fehlern, dass sie sich in die eigenen Gedankengänge einschleichen. Auch besonders bei emotionalen Angelegenheiten können apologetische Appelle vorhanden sein. Wir müssen uns deshalb stets von neuem überprüfen, ob wir rational gesund agieren. Die rationale Gesundheit der Seele ist mindestens wie die körperliche Gesundheit zu pflegen, denn sie sind beide Geschenke des Schöpfers.

Nachdem wir nun die Probleme der Alltagslogik oder der Rhetorik kennen gelernt haben, möchten ich kurz diese Prinzipien stichwortartig zusammenfassen:

  • Strohmann-Prinzip
  • Annahmen generalisieren
  • Falsche Kausalität (Korrelation)
  • Zirkelschlussprinzip
  • Appell an die Emotion
  • Mehrheitsdenken
  • Autoritätsdenken
  • Appell an die Natur
  • Schlechte Begründung mache die Behauptung unwahr
  • Von A gleich Z ableiten (schlüpfrige Argumente)
  • Ad hominem
  • Tu quoque (du auch)
  • Anekdoten-und Erfahrungsbeweise
  • „Zu komplex“, unverständlich
  • Schwarz-Weiss-Vereinfachung
  • Postulieren, im Nachhinein rationalisieren oder Unwahres einfach wiederholen
  • Fragen mit unterschwelligen Annahmen
  • Beweislast
  • Selektive Wahrnehmung
  • Mehrdeutigkeit
  • Quellenkritik
  • Der Irrtum des Glückspielers
  • Falsche Kompromisse

 

Analytisches Denken – Kombinieren und Schlussfolgern

Die Wichtigkeit und den Nutzen des kombinierenden Denkens möchte ich an einem konkreten Beispiel aus der Lesung aufzeigen:

In der Lesung finden wir in Kapitel 47 einen Vers, in dem Gott uns versichert, dass uns im Garten Eden im Jenseits ein sogenannter köstlicher Wein zubereitet wird. Dies wirft notgedrungen die Frage auf, wieso in dieser Welt berauschende Psychostimulanzien, also Drogen jeglicher Art von Alkohol bis Cannabis, zu vermeiden sind und als Satans Werk beschrieben werden (5:90, 2:219)? Es entsteht zwar kein logischer Widerspruch zwischen diesen zwei Stellen der Lesung, dennoch erübrigt sich die Frage nicht, wieso Gott uns das eine im Diesseits als „zu vermeiden“ und als „Sünde“ zu verstehen gibt, dasselbe aber im Jenseits erlaubt sei.

Hier kommen das analytische Denken und die Fähigkeit zum Zug, verschiedene Aussagen zu kombinieren und damit Schlussfolgerungen zu erhalten.

Betrachten wir also den 15. Vers aus dem 47. Kapitel und die Verse 76:21 und 52:23, so sehen wir aus 76:21, dass das Trinkbare im Jenseits nicht berauschend, sondern reinigend ist, und nicht mit dem Berauschenden dieser Welt zu vergleichen ist, da es keine Sünde in sich beherbergt.

 

76:21 An ihnen werden Kleider von feiner, grüner Seide sein und Brokat. Und geschmückt wurden sie mit silbernen Spangen und ihr Herr gab ihnen ein reinigendes Getränk zum Trinken.

52:23 Darin reichen sie einander einen Becher, der nicht zu Geschwätz verleitet und in dem nichts Sündhaftes steckt.

 

Vers 76:21 zeigt uns, dass das Trinkbare im Garten Eden reinigende Wirkung haben kann. Dennoch heißt es im Vers, dass da „ein“ Getränk gegeben wird und nicht notwendigerweise das in 47:15 erwähnte Getränk ist. Es könnte also auch ein anderes Getränk gemeint sein. Nichtsdestotrotz wissen wir, dass die Getränke im Jenseits als rein beschrieben werden und keine Kopfschmerzen verursachen und auch nicht berauschend wirken (56:19). Berücksichtigen wir weiter, dass das Berauschende im Diesseits auch als „Sünde“ (2:219) beschrieben wird, welches zwischen den Menschen zu Feindschaft und Hass führt (5:91), so wissen wir aufgrund von 52:23, dass damit nicht dasselbe Getränk gemeint sein kann. Bedenken Sie hierbei für einen kurzen Moment, dass wir nirgends von einer allegorischen Interpretation des Verses 47:15 ausgegangen sind, was natürlich in Anbetracht der Beschreibung des Jenseits sehr plausibel wäre.

Es wäre bestimmt interessant in Erfahrung zu bringen, was dabei herauskommt, wenn man die Lesung nach sämtlichen logischen Aussagen aufteilt und inhaltliche Analysen aufgrund der Logik betreibt. So können Partikel wie „fa“ (so), „aw“ (oder), „wa“ (und), „iḏ / iḏā“ (wenn/als), „law“ (wäre) und dergleichen aus der Lesung in logische Operatoren umgewandelt werden. Ich lade die kundigen Leserinnen und Leser dazu ein, solche Analysen durchzuführen, um zu wissen, wie weit man mit solchen Gedankengängen kommen kann.

 

37:45–47 Dabei wird ihnen ein Becher aus einem Quell herumgereicht, weiß, genussvoll für die, die (daraus) trinken. Darin steckt keine heimtückische Beeinträchtigung, und dadurch werden sie nicht berauscht.84

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Die Bezeugung als Heilmittel

Den aufmerksamen Studenten der Lesung stellt sich die Frage naturgemäß früh, wie man sich aus dem Zustand der Beigesellung befreien kann, wenn die Beigesellung eine unverzeihliche Sünde darstellt (4:48). Welches sind die ersten notwendigen Schritte? Was muss ich beachten, um nicht nach der Befreiung von der Beigesellung wieder erneut in diese Falle der Beigesellung zu tappen?

Es erscheint plausibel, dass wenn die Beigesellung unter anderem solches Übel wie zuvor beschrieben verursachen kann, das Gegenteil der Beigesellung, also die Vereinheitlichung der Autorität und die Akzeptanz der Einheit Gottes in jeglichen Belangen die Heilung mit sich bringen wird. In der Tat ist auch der erste Schritt zum Glauben, sich vollends Gott zu ergeben (aslama). Denn wie uns in den Versen 49:14–15 mitgeteilt wird, kommt vor der inneren Sicherheit, einem überzeugten Glauben (Īmān) die Ergebung, die Gottergebenheit (Islām). Der Glaube ist hierbei die gesicherte Überzeugung der Gegenwart Gottes in uns und um uns herum, also die Sicherheit im Herzen für sich selbst als auch die Sicherheit vor den Einflüssen der Satane. Wieso beschreibe ich den Glauben als gesicherte Überzeugung? Anders als üblicherweise so auf Deutsch wahrgenommen bedeutet Glaube (Īmān) nicht blindes Vertrauen. Vielmehr handelt es sich bei diesem Wort um eine gefestigte, gesicherte Überzeugung sowohl aufgrund persönlicher Erfahrungen (subjektive Beweise) als auch aufgrund langen Studiums und wissenschaftlich gestützter Erkenntnisse (objektive Beweise) in der Wirkung und Wahrhaftigkeit der Worte und Zeichen Gottes in der Lesung wie auch in der Natur. Die Wurzel von ʾĪmān ist alif-mīm-nūn (ا م ن), was stets mit einer Sicherheit in der Grundbedeutung der Wurzel zu tun hat.75 Aus diesem Grund darf „Glaube“ in dem Sinne, wie es in der Lesung verwendet wird, nicht verwechselt werden mit der gemeinhin wahrgenommenen, deutschen Bedeutung von „Glaube“. Der gottergebene (islamische) Glaube ist eine auf Vernunft und Erfahrung aufbauende Sicherheit im Herzen und kein blindes Vertrauen. Diese Überzeugung dringt erst später in die Herzen ein (49:14–15), nämlich erst nach der Ergebung (Islām), also erst nachdem man ein Gottergebener (Muslim) wurde.

Erst muss man sich komplett lossagen von jeglichem Bezug zu dieser Welt und sich allein Gott dem Erlöser ergeben, Ihn allein als Quelle allen Heils akzeptieren. In dieser Ergebung ist die bewusste Bezeugung (schahādah) der Einheit Gottes (tawḥīd) als die zentrale Botschaft in jeglicher Hinsicht des Monotheismus zu verstehen. Man legt sein Seelenheil und sein Herz vollständig und allein in die Hand Gottes.

Die Bezeugung der Ergebung ist der folgende Ausdruck:

Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer dem Gott gibt.

Dies ist die vollständige Bezeugung der Ergebung. Kein weiterer Satz ist laut der Lesung nötig, um sich als Gottergebener (Muslim) zu identifizieren (3:18–19, 6:19). Dieser Satz und seine Bedeutung beherbergen das Heilmittel gegen den Virus der Beigesellung.

Die als erste Säule der Gottergebenheit bekannte Bezeugung (schahādah) dient dazu, sich zum Glauben zu bekennen, dass es keine andere Gottheit außer dem einen Gott gibt. Die arabische Entsprechung der Bezeugung lā ilāha illa-llāh und ihre Variationen davon76 kommen in der Lesung in 35 Versen 36 Mal vor und wird nirgends mit einem anderen Namen zusammen erwähnt bzw. ergänzt. Sich mit dieser Bezeugung nicht zu begnügen, während wir uns zum Glauben des einzigen Gottes bekennen, Gott allein nicht für ausreichend zu empfinden und neben Seinem Namen irgendwelche andere Namen zu erwähnen, stellt eine Form der Beigesellung dar. Als ob dieser Zustand nicht ausreicht, ist derjenige Vers, der die Bezeugung für alle Gottergebenen festlegt, der einzige Vers (3:18), der diese Bezeugung im selben Vers wiederholt, um die klare Botschaft zu vermitteln, dass kein Name irgendeines Gesandten erwähnt werden muss.

 

3:18 Gott bezeugte, dass es keine Gottheit gibt außer ihm, auch die Engel und die im Wissen Herausragenden, stehend für die Gerechtigkeit. Es gibt keine Gottheit außer ihm, dem Ehrenvollen, dem Weisen.

 

Jahre nach dem Ableben des Propheten Mohammed wurde dem gemeinsamen Spruch aller göttlichen Religionen „Es gibt keine Gottheit außer dem Gott“77 der Name Mohammed beigefügt. Mit dieser Handlung haben jene, die seinen Namen hinzugefügt haben, gegen viele Grundsätze der Lesung verstoßen, allen voran aber sich der Beigesellung schuldig gemacht. In gewissen Moscheen wurden neben Gottes Namen (nebst dem Namen Mohammeds) die Namen wie Abu Bakr, ʿUmar, Uṯman, ʿAli, Ḥasan und Ḥussein und andere idolisierte Namen beigesellt. Die Schiiten haben eine andere Form der Götzenkollektion und haben ihre Moscheen mit den entsprechenden Namen ihrer „Lieblinge“ versehen. Es gibt in der gesamten Lesung nur vier Verse, welche Mohammeds Namen beinhalten. Es kann Einwände geben, ob es denn falsch sei, diese Verse an die Wand der Moschee zu hängen. Wie wäre es, wenn man die Verse über die Hölle an die Wand hängt? Was ist mit den Versen über Jesus oder Moses? Was ist mit den Versen über die Heuchler und Lügner? Wenn die Wände der Gebetsstätten mit der ganzen Lesung verziert wären, gäbe es kein Problem. Aber wenn gewisse Verse ausgewählt werden, dann kommt es darauf an, welche Absicht dahintersteckt, um sicher zu sein, dass man nicht beigesellt. Wenn aus der Lesung Verse ausgewählt werden sollen, sollten wir nur die Verse nehmen, die allein über Gott berichten, wie zum Beispiel 39:44–45 oder 39:11–12. Nebenbei: Es gibt keine Pflicht, Verse an die Wand von Moscheen zu hängen!

 

2:285 Der Gesandte glaubt an das, was von seinem Herrn zu ihm herabgesandt worden ist, und (mit ihm) die Gläubigen. Alle glauben an Gott, seine Engel, seine Schriften und seine Gesandten: „Wir machen bei keinem von seinen Gesandten (den anderen gegenüber) einen Unterschied.“ Und sie sagen: „Wir hören und gehorchen, (dies ist) Deine Vergebung, Herr! Bei dir wird es (schließlich alles) enden.“

 

So wie bereits schon einige Christen haben viele sogenannte „Gottergebene“ (Muslime) die Gesandten unterschiedlich bewertet und stellten der Lesung widersprechende Behauptungen auf. Es wurden Hunderte von Aussprüchen (Aḥādīṯ) und Wundergeschichten erfunden, um den Propheten Mohammed über alle anderen Propheten zu erheben. Beispielsweise wurde das Geschwätz des „heiligen Ausspruchs“ (Ḥadīṯ qudsī), welcher besagt, dass das gesamte Universum nur wegen Mohammed erschaffen worden sei, Gott zugeschrieben:

 

law lāka law lāka lamā chalaqtu-l-ʾaflāka

In etwa wörtlich: Wärst du nicht gewesen, wärst du nicht gewesen, hätte ich die Universen nicht erschaffen!

 

Andererseits existieren zahlreiche Aussprüche, die Mohammed als Sex-Psychopathen darstellen. Allen voran ist das Buch von Buchārī voll mit abscheulichen Übertreibungen über das sexuelle Privatleben des Propheten. Diese sind heute dorthin zu verbannen, wo sie hingehören: in die Geschichte. All diese Erfindungen wurden dem Propheten aus unterschiedlichen Gründen angedichtet, etwa um religiöse Macht auszuüben, die eigenen sexuellen Triebe zu rechtfertigen und um die Massen in Schach halten zu können. Die verherrlichten Gelehrten, die ihre eigenen Sexfantasien dem Propheten Mohammed zugeschoben haben, werden ihre Taten zu rechtfertigen haben (6:112).

 

39:45 Wenn Gott ALLEIN genannt wird, schrecken die Herzen derjenigen, die nicht ans Jenseits glauben, zusammen in Abstoßung. Aber werden Idole neben Ihm genannt, beginnen sie sich wieder zu freuen.

 

Die große Mehrheit der „Muslime“ beharrt trotz der in Vers 3:18 mitgeteilten Bezeugung der Gottergebenheit darauf, Mohammeds Namen in der Bezeugung miteinzuschließen. Dieses Kriterium aus 39:45 stellt klar, dass diejenigen, die sich nicht daran erfreuen können, dass Gottes Name allein erwähnt wird, und auf jeden Fall Mohammeds Namen (oder auch irgendeinen anderen Namen) äußern möchten, in Wahrheit nicht ans Jenseits glauben, da sie sich nicht bewusst sind, dass sie gerade in dieser Angelegenheit geprüft und vor Gott gebracht werden. Jene, die nicht wirklich ans Jenseits glauben, sagen aus, dass die Lesung zum Verstehen zu schwer sei, und sie selbst dürfen laut 17:46 die Lesung nicht verstehen.

Einige Leserinnen und Leser fragen sich sicher auch, was es mit dem folgenden Vers auf sich habe, ob er nicht bestätige, dass wir Mohammeds Gesandtschaft zu bezeugen hätten.

 

3:86 Wie soll Gott ein Volk rechtleiten, das ableugnete, nachdem es glaubte und bezeugte, dass der Gesandte rechtmäßig ist, und zu ihnen kamen ja die Klarheiten. Doch Gott leitet das Volk der Ungerechten nicht recht.

 

Es steht in der Tat eine Ableitung der Wurzel sch-h-d (ش ه د) im Vers, die allgemein fürs Bezeugen von etwas steht. Betrachten wir die 160 Stellen in den 123 Versen78, in welchen Ableitungen dieser Wurzel vorkommen, so verstehen wir, dass diese Wurzel in unterschiedlichen Nebenbedeutungen verwendet wird.

„Bezeugen“ bedeutet in der Lesung nebst der offensichtlich wörtlichen Bedeutung auch

  • am Leben zu sein und den Monat Ramadan zu bezeugen (2:185) oder auch am Jüngsten Tag den Tag selbst erst nach dem Tod zu erleben (19:37),
  • eine Sache oder Angelegenheit, die für sich selbst offenbar ist (9:94, 9:105, 13:9),
  • durch Schlussfolgern und Gebrauch des Verstandes eine Angelegenheit im Hier und Jetzt nachzuvollziehen (12:26),
  • die Wahrheit im Hier und Jetzt zu erkennen (5:83, 22:28),
  • dass man nicht Zeuge sein kann, wie und wann Gott etwas offenbarte (6:144), da man dabei nicht anwesend sein kann,
  • die Anwesenheit von Engeln, die uns im Hier und Jetzt wahrnehmen (z.B. 17:78),
  • im Hier und Jetzt sich zu beraten und auszutauschen (27:32).

Insbesondere Verse wie 28:44, 37:150 oder 2:133 legen die Bedeutung dieser Wurzel fest, dass man stets im Hier und Jetzt etwas bezeugen kann. Insofern erhält dieser Vers auch eine besondere Betonung, wenn die Zeugen nach den Propheten noch einmal für sich erwähnt werden.

 

39:69 Die Erde wird im Licht ihres Herrn erstrahlen. Die Schrift (mit allen Angaben über die Taten der Menschen) wird hervorgeholt werden. Die Propheten und die Zeugen werden vorgeladen. Über die Menschen werden die Urteile gefällt, und niemandem soll Unrecht geschehen.79

 

Wir sehen also, dass die Propheten nicht immer Zeugen sein können, sondern höchstens für ihr eigenes Volk. Dadurch ergeben Verse wie 25:30 Sinn, dass der Prophet Mohammed erst am Jüngsten Tag begreifen wird, dass diejenigen, die sich „Gottergebene“ nennen, die Lesung verlassen haben! Erst am Jüngsten Tag bezeugt er dies, weil er erst dann den Umstand wahrnimmt und erkennt.

Die Art von Bezeugung, von der in 3:86 also die Rede ist, bezweckt eine andersartige, nicht wörtlich ausgesprochene Bezeugung. Es geht mehr um eine zeitlich bedingte Überzeugung, nämlich dass man überzeugt ist, dass Mohammed ein Gesandter war aufgrund seiner Botschaft, die er übermittelt hat. Das Volk war zugegen, wir aber nicht. Wir können also keine direkten Zeugen sein. Doch mit „Gesandter“ ist darüber hinaus nicht nur die Person Mohammeds gemeint, sondern auch die Lesung selbst, die ja zu uns durch den Gesandten übermittelt wurde, uns also auch zugesandt wurde. In dem Sinne kann man sagen, dass man zuerst zu bezeugen hat, dass die Lesung wahrhaftig ist, um überhaupt ein Gottergebener sein zu können. Wir können den Gesandten, also die Lesung, im Hier und Jetzt bezeugen. Den verstorbenen Menschen Mohammed, der nur einer unter vielen Gesandten ist, können wir nicht mehr bezeugen. Es geht hierbei um die innere Einstellung der Sache gegenüber, nicht, dass man irgendwelche Sätze in Form von Formeln über die Lippen bringt. Diese Glaubensformel, die Bezeugung der Ergebung, wurde nämlich bereits in 3:18–19 unabänderlich festgelegt.

Ich sage nicht, dass es eine Beigesellung darstellt, den Propheten Gottes als Diener und Gesandter anzusehen (mit dem Herzen zu bezeugen). Vielmehr besteht die Beigesellung darin, ihn oder irgendjemanden in der ausgesprochenen Bezeugung zu erwähnen, die nur Gott alleine gebührt (39:45, 3:18–19). Die Bezeugung, das erste Gebot Gottes, soll der ganzen Welt sagen, dass es nur einen Gott gibt, der immer existierte und für immer bleibt. Gott erwähnte ja den Propheten in der Lesung als Seinen Diener und als Seinen Gesandten. Deshalb glauben wir ohne Zweifel an diese Worte, die von Gott direkt kommen. Doch die Gesandtschaft des Menschen Mohammed bezeugen im Sinne einer aktiven Erfahrung können weder Sie noch ich, denn der einzige Zeuge, der es mit Sicherheit weiß, ist GOTT alleine.

 

2:133 Oder wart ihr Zeugen, als Jakob dem Tod nahe war? Da sagte er zu seinen Kindern: Was dient ihr nach mir. Sie sagten: Wir dienen deinem Gott, dem Gott deiner Väter Abram, Ismael und Isaak, einem einzigen Gott und ihm sind wir ergeben.

 

Hier antworten wir: Nein Gott, wir waren nicht Zeuge, aber wir glauben an sämtliche Deiner Worte, da wir unbedingtes Vertrauen in Dich haben und weil wir uns vollends Dir ergaben. Zwischen der Überzeugung, dass etwas geschehen ist, und dem Bezeugen einer Angelegenheit liegt ein großer Unterschied, der im soeben zitierten Vers angesprochen wird. Das Zeugnis Gottes entnehmen wir aus der Lesung, denn das ist die richtige Lehre ohne Zufügung oder Verminderung. Wer ist dann wahrhaftiger als Gott und Seine Lehren?

 

3:18 Gott bezeugte, dass es keine Gottheit gibt außer ihm, auch die Engel und die im Wissen Herausragenden, stehend für die Gerechtigkeit. Es gibt keine Gottheit außer ihm, dem Ehrenvollen, dem Weisen.

 

So bezeugen es Gott, die Engel und die Wissenden. Doch die, die nicht wissen, fügen Mohammed oder sonst irgendwelche ihrer Vorfahren diesem allerwichtigsten Satz hinzu.

Es ist leider oft so, dass Menschen blind das wiederholen, was sie von ihren Vätern gelernt haben. Das ist aber nicht der Sinn des Lebens. Denn sonst hätten wir genauso gut in irgendeiner anderen Gemeinde aufwachsen können und hätten dieselben Sätze wiederholt, die von dieser Gemeinde vorgegeben werden, ohne dabei nachzudenken, was richtig oder falsch ist. Der Grundsatz der Bezeugung ist hier im Vers deutlich zu sehen:

 

7:172 Und als dein Herr aus den Kindern Adams, aus ihren Rücken, ihre Nachkommenschaft nahm und sie gegen sich selbst zeugen ließ: „Bin Ich nicht euer Herr?“ Sie sagten: „Doch, wir bezeugen (es)!“ (Dies,) damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: „Wir waren dessen unachtsam“80

 

Der Glaube an Mohammed als den letzten Propheten und als ein Gesandter Gottes (33:40) sowie der Glaube an alle Propheten und Gesandten (2:285) ist der Grundsatz unserer Lebensordnung (dīn) und darf nicht fehlen, doch die ausgesprochene Bezeugung gebührt Gott alleine, denn Er hat ja die Welt erschaffen, und weder Mohammed noch irgendein Engel haben etwas mit der Bezeugung zu tun.

Der Irrglaube, man müsse Mohammed in der Bezeugung erwähnen, stammt von den Aussprüchen (Aḥādīṯ) ab. Aussprüche hin oder her. Die Religion ist Gottes und nicht in den Geschichten der Ahnen, die fälschlicherweise dem Propheten angedichtet wurden. Wenn wir etwas über Mohammed oder einen anderen Propheten wissen wollen, dann entnehmen wir das entsprechende Wissen aus einer sicheren Quelle: Die vom Schöpfergott offenbarte Lesung. Vermutungen können die Wahrheit niemals ersetzen.

 

10:36 Und die meisten von ihnen folgen bloß einer Vermutung; doch Vermutung nützt nichts gegenüber der Wahrheit. Siehe, Allah weiß recht wohl, was sie tun.81

 

Solche Vermutungen wie die Überlieferungen, die über einem Jahrhundert nach dem Tode des Propheten entstanden sind, enthalten leider viel Beigesellung (schirk). Ich will auch nicht die Lebensordnung Gottes nach meiner Vorstellung definieren, ich fordere nur dazu auf, Gottes Buch zu öffnen und mit mehr Verstand zu lesen. Denn nur so kann jeder wissen, ob das menschliche Gerede in den Aussprüchen (Aḥādīṯ) und auch sonst wo der Wahrheit entspricht oder nicht. Und nur so erlangt man die Freiheit des Denkens und der Selbstbestimmung. Denn jede Seele ist für sich verantwortlich. Die Gelehrten werden niemanden von der Hölle fernhalten können.

 

53:23 Es sind nichts außer Namen, die ihr und eure Väter benanntet, und für die Gott keine Ermächtigung herabsandte. Denn sie folgen nichts außer der Vermutung und dem, wozu die Seelen neigen, obwohl ihnen von ihrem Herrn die Rechtleitung zukam.

 

Edip Yüksels Kommentar zu diesem Vers:

 

„Die Beigeseller Mekkas besaßen eine abstrakte Auffassung des Polytheismus, der Beigesellung. Zu Zeiten Abrahams, in denen die Anbetung von Statuen weit verbreitet war, wurden die Formen der Beigesellung zwangsweise auf Grund der Bemühungen Abrahams verändert. Die Beigeseller, die glaubten, sie würden dem Weg Abrahams folgen, dachten, dass sie Monotheisten seien (6:23; 16:35), während sie die Namen der verstorbenen „Heiligen“ und der Engel, von denen sie glaubten, dass sie Gott nahe stünden, zwecks Fürsprache gedachten (39:3). Die Beigeseller haben nach Mohammed behauptet, dass die mekkanischen Beigeseller Statuen anbeteten, um die Ähnlichkeit zwischen ihnen und den mekkanischen Beigesellern zu vertuschen. Sie gedenken auf ähnliche Art und Weise der Namen von Mohammed, seinen Gefährten und von „Heiligen“ erneut zwecks Fürsprache. Laut Koran fasteten, pilgerten und beteten die Götzendiener Mekkas (8:35; 9:19,45,54; 2:199).“

 

Etwas Wichtiges möchte ich an dieser Stelle deutlich betonen:

Ein bloßes Aussprechen dieses Satzes der Bezeugung ist keinerlei Garantie für eine sofortige Heilung. Bezeugen mit den Lippen ist einfach und im schlimmsten Fall eine Selbsttäuschung (2:8–9). Erst das Verstehen, Fühlen und Umsetzen, also das Ausleben und das Bezeugen dieses Satzes im Herzen und mit jeder Faser des Körpers führt dazu, dass man sich von der Ignoranz befreit (48:11, 49:3). Erst, wenn wir Gott gegenüber die nötige Ehrfurcht empfinden, wie es Ihm gebührt, werden wir uns und unsere Seelen befreien können (39:67, 36:60, 39:17).

Eine kurze Auflistung der wichtigsten Überzeugungen, welche die Einheit Gottes ausmachen:
Die Weisheit und die Befehlsgewalt sind bei Gott allein. (12:40, 13:41, 4:174–175, 4:65, 33:36, 69:44–46, 6:14, Sura 114, 27:60–64, 21:22) Die Befreiung des eigenen Selbst wie auch von anderen von jeglichen Fesseln ist die ständige Aufgabe des Gottergebenen: Gott ist das einzige Ziel, der Dienst ist in erster Linie nur Ihm gegenüber (1:5, 3:64, 51:56), wobei keine intellektuelle, spirituelle, kulturelle, ökonomische oder sonstige Quelle, in menschlicher oder schriftlicher Form, als nicht hinterfragbar gelten kann. Gott allein ist der Absolute im Zentrum, und Gott allein ist die nicht hinterfragbare Autorität. Dies bedeutet beispielsweise als direkte Konsequenz, dass keine Form von Sklaverei Bestand haben kann, da Sklaverei bedeutet, Menschen als „Herren“ über andere zu erheben. Zur Sklaverei komme ich im zweiten Teil des Buches zurück. Dies bedeutet auch die Herausforderung der herrschenden Klasse, weil keine Regierung unbedingtes Vertrauen genießen kann.82

Der Gottergebene hat fernzubleiben von der Ableugnung Gottes und von der Ablehnung Seiner Zeichen in der Natur, den Himmeln und der Erde und in den Menschen. Dies bedeutet das eigene Bewusstsein dahingehend zu schulen, dass die Psychologie, die Mentalität der Ableugnung (kufr) bereits früh erkannt und abgelehnt wird.83 Auch die Ableugnung wird im zweiten Teil behandelt.

Es gilt das Prinzip: Keine Übertreibung (ghulū – غلو) im eigenen Glauben, indem wir uns ein Beispiel an den Leuten der Schrift nehmen. (4:171, 5:77 – Dies sind sämtliche Verse der Wurzel von ġulū.)

Es gibt laut Gottes Wort nur Gottes Sunna (tawḥīdu sunnatillah): mit „Sunna“ ist hier dasselbe Wort gemeint wie bei der dem Propheten nachträglich zugeschobenen „prophetischen Sunna“ (sunna nabawiyya). Sunna bedeutet hierbei „Weg“ oder „Gesetz“. Die Lesung verwendet dieses Wort nur in Bezug auf Gott und lässt uns unmissverständlich verstehen, dass Gottes Gesetz und Weg allein maßgebend sind und Sein Gesandter nichts Weiteres verkünden durfte. Gottes Weg allein ist die Sunna, das Gesetz. Dies betrifft nicht nur Sein an uns offenbartes Buch, sondern sämtliche Aspekte des Lebens, wie etwa Seine Naturgesetze, Sein Willen, Seine Barmherzigkeit usw. Das heißt, dass wir diesbezüglich keinen Kompromiss eingehen dürfen und zum Beispiel auch die Pflicht haben, eine gesunde, langfristig orientierte Einheit mit der Natur herzustellen. Jeder andere Weg als Gottes Sunna ist zum Scheitern verurteilt. (23:84–85, 19:93, 2:116, 39:67, 4:79, 34:28, 2:85, 2:44, 3:83, 22:18, 34:3, 2:29, 16:10–14, 57:3, 28:88)

Eine weitere Pflicht einer Gottergebenen oder eines Gottergebenen ist das Lesen und Studieren der Zeichen Gottes in der Lesung und in der Natur, um nicht dieselben Fehler unserer Vorfahren zu begehen (55:5, 10:5, 3:137, 6:11, 12:109, 16:36, 27:69, 29:20, 30:9, 42, 35:44, 40:21, 40:82, 47:10, 96:1, 22:46, 55:1 ff.). Sie haben dabei ihren Verstand zu gebrauchen und ihre Sinne optimal einzusetzen (10:100, 8:22, 17:36, 39:18, 10:38 – 39, 74:30, 2:269, 3:7, 13:19, 38:29). Wissenschaftliche Disziplinen wie Mathematik oder Physik, Biologie oder Chemie müssen bis zur Exzellenz vorangetrieben werden, um den Glauben mit tiefer Überzeugung sichern zu können. Siehe hierzu allgemein die 49 Verse und den Kontext dieser Verse, in denen die Wurzel zu „Verstand“ vorkommt: 2:44, 2:73, 2:75, 2:76, 2:164, 2:170, 2:171, 2:242, 3:65, 3:118, 5:58, 5:103, 6:32, 6:151, 7:169, 8:22, 10:16, 10:42, 10:100, 11:51, 12:2, 12:109, 13:4, 16:12, 16:67, 21:10, 21:67, 22:46, 23:80, 24:61, 25:44, 26:28, 28:60, 29:35, 29:43, 29:63, 30:24, 30:28, 36:62, 36:68, 37:138, 39:43, 40:67, 43:3, 45:5, 49:4, 57:17, 59:14, 67:10.

Es darf kein Stammestum, kein Rassismus, keinerlei Bevorzugung aufgrund irgendwelcher Zugehörigkeit oder gewissen Eigenschaften vorherrschen. Wir sind sozusagen als eine große Familie mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Hautfarben anzusehen. (49:13, 21:94, 4:1, 11:61, 16:5–7, 16:9, 16:22, 30:22)

Der Gottergebene hütet sich davor, seine eigenen Wertvorstellungen Gott aufzuerlegen. Beispiel: Er hütet sich vor der Illusion, dass nur weil eine Minderheit einer gewissen Meinung ist, diese Meinung nicht die Wahrheit sein kann, da Gott es angeblich nicht zulassen würde, dass so viele Menschen in die Irre gehen. Hier wird der Fehler gemacht, dass man das eigene Empfinden zu einem universalen, ja Gott angedichtetem Gesetz erklärt. Die Wahrheit braucht nicht die Mehrheit, um die Wahrheit zu sein. Gott ist nicht auf die Mehrheit angewiesen.

Insofern ist es zwar keine Garantie, immerhin aber ein positives Zeichen, dass die wahren Gläubigen in der Minderheit sind. Die Geisteshaltung, sich aufgrund der eigenen Mehrheit zu brüsten, wird von Gott scharf kritisiert (72:24). Der Mehrheit anzugehören ist kein positives Zeichen, wie den Versen der Lesung deutlich zu entnehmen ist:

  • Man geht in die Irre, wenn man der Mehrheit folgt. (6:116)
  • Die Mehrheit weiß nicht, dass Gott Zeichen herabsenden kann. (6:37)
  • Die Mehrheit weiß nicht, dass Gott den Lebensunterhalt beschert und Er der Versorger ist. (34:36)
  • Die meisten der Menschen sind Ableugner oder Beigeseller. (12:103,106; 16:83; 17:89; 30:42)
  • Die Mehrheit besteht aus Frevlern. (5:49,81; 9:8; 57:16,27)
  • Die Mehrheit glaubt nicht und hat keine Sicherheit im Herzen. (2:100, 11:17, 13:1)
  • Die meisten Menschen sind unachtsam und beachtungslos. (10:92)
  • Die meisten Menschen sind nicht dankbar. (2:243, 10:60, 12:38)
  • Die Mehrheit folgt nur der Vermutung. (10:36)
  • Die Mehrheit ist stur in der Ableugnung. (25:50)
  • Die meisten der Menschen sind Lügner. (26:223)
  • Die Mehrheit verabscheut die unangenehmen Wahrheiten. (43:78, 23:66)
  • Die meisten wenden sich von der Lesung ab. (41:4 – Und nicht etwa von der Sunna, den Aussprüchen oder sonstigen Zweitquellen)
  • Die meisten Ableugner verwenden ihre Vernunft nicht, sie setzen ihren Verstand nicht ein. (5:103)
  • Die meisten der Menschen wissen nicht, dass Gott die Toten auferwecken und dass der Tag der Auferstehung kommen wird. (16:38, 23:59, 45:32)
  • Die Mehrheit weiß nicht, dass die aufrechte Lebensordnung die Ergebenheit und der Monotheismus ist. (30:30, 3:19, 12:40)
  • Die meisten Menschen wissen nicht, wann der Tag des Gerichts eintreffen wird. (7:187)

Anders betrachtet sind die wertvollen Angelegenheiten, Menschen und Dinge öfters wenig oder in der Minderheit (ein Beispiel für eine Ausnahme wäre Vers 9:38, wonach das diesseitige Leben wenig ist im Vergleich zum Letzten):

  • Dankbar zu sein für die Gaben ist sehr wertvoll, doch es gibt nur wenige Dankbare. Dankbarkeit ist ein Zeichen der Gottergebenheit. (2:243, 10:60, 12:38, 34:13, 7:10, 40:61, 23:78, 27:73, 32:9, 67:23)
  • Diejenigen, die an Noah glaubten und von Gott errettet wurden, waren nur sehr wenige. (11:40)
  • Die Menschen sind im Verlust bis auf die wenigen, die glauben, Gutes tun und zur Wahrheit und Geduld ermahnen. (Kapitel 103, 38:24)
  • Obwohl das nachfolgende Volk von Moses beteuerte, dass sie selbstverständlich für Gott kämpfen würden, nahmen danach nur sehr wenige am Kampf teil. (2:246, 2:249)

Einfach gesagt:

Die Wahrheit ist, weil sie ist. (10:36, 6:116)

 

21:18 Doch wir schleudern die Wahrheit gegen das Falsche, und da zerschmettert sie es, und sogleich vergeht es. Und wehe euch wegen dessen, was ihr da schildert!

Schlüssel zum Verständnis des Koran: Beigesellung (Schirk): Nicht nur Statuen sind Götzen

Millionen von Gottergebenen (Muslimen) glauben heute eine monotheistische Religion zu leben, die aber eher der Beigesellung des Quraisch-Stammes vor der Prophetie Mohammeds ähnelt. Millionen von Menschen von Ägypten bis nach Iran, von Indien bis in die Türkei und in vielen anderen Ländern beten in den Moscheen eindeutig für Gott. Doch nach ihrem Gebet gehen sie über zu den Grabstätten ihrer „Heiligen“ oder gehen zu ihrem Scheich und bitten diesen um Gesundheit, Wohlstand oder Kinder, oder dass diese für sie bei Gott um diese Dinge bitten mögen. Gleichermaßen gibt es Millionen von „Gottergebenen“, die glauben, der Prophet Mohammed könne sie vor Gottes Urteil schützen. So beten sie in ihrem Gebet in der Rezitation des eröffnenden Kapitels zu Gott und versichern ihm, dass sie nur Ihm dienen und nur Ihn um Hilfe erflehen werden (1:5). Als ob sie dieses täglich mehrfach wiederholte Versprechen nie ausgesprochen hätten, bitten sie am selben Tag Mohammed, dass er für sie Fürbitte bei Gott einlegen möge! Wenn man sie auf diesen Widerspruch hinweist, meinen sie, dass sie Mohammed ja Gott nicht beigesellten, obwohl sie wissen müssten, dass der Prophet Mohammed nicht mal die Menschen retten kann, die er liebte (28:56)! Er konnte lediglich zu seinen Lebzeiten (!) nur diejenigen ermahnen, die bereits an Gott geglaubt und sich Ihm ergeben hatten (30:52–53). Nein im Gegenteil, denken diese Leute etwa, Mohammed könnte sie auch jetzt noch hören oder sehen, wobei uns in der Lesung mitgeteilt wird, wie überrascht er sein wird und sich bei Gott über sein eigenes Volk beklagt, dass diese die Lesung verlassen haben (46:9, 7:188, 25:30)?! Solange man ein Beigeseller (Muschrik) ist, wird man nie und nimmer errettet:

 

9:113 Nicht gebührt es den Propheten und denjenigen, die glaubten, dass sie für die Beigeseller um Vergebung bitten, auch wenn sie Nahverwandte wären, nachdem ihnen klar wurde, dass diese die Angehörigen des Infernos sind

 

Nein, sie wollen es auch dann nicht wahrhaben, dass sie in Tat und Wahrheit Mohammed zu Gott beigesellen und sich somit der Beigesellung schuldig machen, wenn ihnen folgender Vers ans Herz gelegt wird:

 

9:80 Ob du für sie um Verzeihung oder nicht um Verzeihung bittest, oder ob du siebzigmal für sie um Verzeihung bittest, Gott wird ihnen niemals verzeihen. Deshalb, weil sie nicht an Gott und Seinen Gesandten glaubten. Und Gott weist den frevelhaften Leuten nicht den Weg.

 

Sie verstricken sich danach in weitere Widersprüche und es ist klar, dass sie Mohammed zum Götzen, zum Beigesellten erhoben haben, ohne dass sie sich dessen bewusst sind oder bewusst sein wollen (10:18). Sie gehören zu jener Gruppe, die Mohammed am Jüngsten Tag ablehnen wird und seine „Fürsprache“ wird daraus bestehen, sie abzulehnen, weil sie entgegen der von ihm überlieferten Lesung ihn idolisierten, ihn zum Götzen erhoben und sich nicht allein auf Gott verlassen haben. Ähnlich werden viele Christen und Juden am Jüngsten Tag überrascht sein, dass sie von Gott als „Beigeseller“ verurteilt werden. Die sogenannten „Gottergebenen“ (Muslime), die von Mohammed Fürsprache erhoffen, sind was die Geisteshaltung betrifft nicht anders als diejenigen Christen, die ihr „Vater unser“ beten und danach hoffen, dass Jesus sie erlösen möge.74 Diese gesellen also Jesus Gott bei. Oder sie sind sogar noch weiter von der Wahrheit entfernt, wenn sie Jesus als Gott ansehen (5: 72, 22: 8), also zu Gottes Wesen etwas beigesellen, was selbst den evangelischen Lehren widerspricht (Markus 10: 18, Lukas 18: 19). Dabei ist es ganz einfach:

 

65:3 … Wer sich auf Gott verlässt, dem genügt Er. …

39:6 Genügt Gott Seinem Diener etwa nicht? …

 

Diese sogenannten „Gottergebenen“ gehören zu jenen, die die Botschaft der Lesung nicht verstanden haben und auch nicht verstehen werden, solange sie ihren Irrtum nicht als Irrtum akzeptieren – oder anders gesagt nicht bereit sind, ihr komplettes Weltbild, ihre gesamte Identität aufzugeben, was im Endeffekt nichts anderes ist als sich Gott zu ergeben und dem Irrglauben ein Ende zu setzen, man sei bereits rechtgeleitet.

Es ist hierbei wichtig zu verstehen, dass die Beigeseller vom Stamme Quraisch die Gebete genauso verrichteten wie wir heute, doch sie hatten damals ihre Götzen Allat, Al-‘Uzzah, Manat und weitere Beigesellte, um für Gesundheit, Wohlstand, Fürsprache oder Kinder zu bitten. Die Beigesellung ist im Prinzip gleich geblieben, nur die Beigesellten, die Götzen sind verschieden. Anders gesagt sind nur die Namen der Beigesellten neu.

 

12:106 Die meisten unter ihnen, die an Gott glauben, gesellen Ihm (andere) bei.

 

Es ist deshalb von äußerster Bedeutsamkeit, die Wahrheit zu verinnerlichen, dass nicht nur Statuen Götzen sein können, die Gott beigesellt werden, sondern beispielsweise auch:

  • Ihre Kinder (7: 190),
  • Ihre Eltern, Geschwister, Verwandten oder Ihr Ehepartner (9: 24),
  • Ihr Geschäft bzw. Ihre Arbeit (18: 35) und
  • Ihr Ego (25: 43).

Zu glauben, dass Gott der Schöpfer der Himmel und der Erde ist, schützt einen nicht vor der Beigesellung, dem Virus des Denkens, der sich in uns einnistet und unsere Gedanken verdreht (12:106), sodass in Tat und Wahrheit unser „Gott“ das ist, was uns am meisten beschäftigt. Merken Sie sich diesen Satz:

 

Ihr Gott ist wer oder was auch immer Ihre Gedanken die meiste Zeit beschäftigt.

– Rashad Khalifa

 

Gott weist uns in der Lesung selbst an, wie wir uns davor schützen können und ich möchte dies nur kurz anschneiden, da man auch dazu ein eigenes Buch verfassen könnte: Wir müssen Gottes häufig gedenken (33:41–42), wie zum Beispiel vor dem Essen (6:121) oder wenn wir über die Zukunft reden (18:23–24) oder allgemein unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen wollen. Es ist auch nicht von ungefähr, dass wir die Kontaktgebete (ṣalāh) regelmäßig verrichten müssen, da eine ständige, bewusste, richtig aufgebaute und tief empfundene Verbindung mit Gott, also in wirklichem Kontakt zu stehen mit Gott, von den Schändlichkeiten dieser Welt abhalten wird (29:45). Das Kontaktgebet (aṣ-ṣalāh) wird neben anderen zentralen Begriffen wie Läuterung (zakāh), Gerechtigkeit (qisṭ), Debatte (ḥadsch) oder Fasten (ṣawm) mit Gottes Erlaubnis in einem zweiten Buch näher betrachtet.

 

20:14 Wahrlich, Ich bin Gott. Es ist keine Gottheit außer Mir; darum diene Mir und verrichte das Kontaktgebet zu Meinem Gedenken.